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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 23.04.1897
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1897-04-23
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18970423025
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1897042302
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1897042302
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1897
- Monat1897-04
- Tag1897-04-23
- Monat1897-04
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Größere Schriften laut unserem Preis verzeichnis. Tabellarischer und Ziffernlatz nach höher-m Tarif. Ertra-Beilagen (gesalzt), nur mit der. Morgen-Ausgabe, ohne Poslbesörderon^ X 00.—, mit Postbrförderung 70.—. Annahmeschluß für Anzeigen: Abend »Ausgabe: Vormittags 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittag- 4Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je ein» halbe Stunde früher. Anzeigen find stets an die Expedition zu richten. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig. M. Freitag den 23. April 1897. 91. Jahrgang. Politische Tagesschau. * Leipzig, 23. April. Daß der Reichstag, der am Dienstag wieder Zusammen tritt, sehr fleißig sein und sich jeder überflüssigen Discussion enthalten muß, wenn er auch nur die wichtigsten der ihm bereits vorliegenden Arbeiten bewältigen will, muß Jedem einleuchten, der sich erinnert, daß u. A. noch die Handwerker vorlage, daS Auöwanderungsgesetz, diePostdampfer- Vorlage, die Novellen zu den Unfallversicherungs gesetzen, das Margarinegesetz, die Borlage bez. der Be- soldungsverbesserungen und der Nacktragsetat mit der Novelle zur Relictenversorgung der Erledigung harren. Nun werden aber auch noch neue Vorlagen in Aussicht ge stellt. Ob darunter die längst erwartete Militairstraf- proceßreform sich befinden wird, bleibe dahingestellt Jedenfalls aber wird bei der Fülle unv der Wichtigkeit der Aufgaben und der Kürze der verfügbar bleibenden Zeit unmittelbar nach dem Wiedcrzusammentritt des Hauses die Frage aufgeworfen werden müssen, wie die geschäft lichen Dispositionen am besten zu treffen seien. Dabei erscheint ein Vorschlag, den die „Berl. Pol. Nachr." anscheinend ans Anregung aus Regierungskreisen machen, ernster Er wägung wcrth. „Bei den übrigen und den noch zu er wartenden Vorlagen" — schreiben nämlich die „B. P. N." — „kann man wenigstens mit einiger Sicherheit annehmen, daß sie sich bei gutem Willen noch werden im Frühjahre erledigen lassen. Bei dem Jnvalidenversicherungsgesetzent- wurfe wäre dies natürlich auch keine Unmöglichkeit, nachdem er jedoch vor Ostern nickt einmal zur ersten Lesung gekommen ist, würde seine Verabschiedung nur dann in sichere Aussicht genommen werden können, wenn von vornherein bei den auf die Geschäfttführung keS Reichstages Einfluß übenden Factoren der feste Wille vorhanden wäre, den Entwurf bald durchzuberatben. Daß die Revision deS Jnvaliditäts-und Altersversicherungsgesetzes dringlich ist, braucht nicht wiederholt zu werden. Auf Seiten der Regierung legt man den größten Werth darauf, daß auch dieser Zweig der Arbeiterversicherung, der verhällnißinäßiI die meisten Mißstände aufzuweisen hat, recht bald resormirt wird. Wäre jedoch der feste Wille nicht vorhanden, in einer nicht zu langen Dauer hier zu einer Entscheidung zu kommen, so dürfte eS sich Wohl ini Interesse der gesammten parlamentarischen Arbeit empfehlen, die ganze Aufmerksamkeit auf die übrigen Vorlagen zu concentriren und die Erledigung des Jnvalidenversicherungsgesetzes einer anderen Tagung vorzubehalten. Es wäre dies im hohen Maße mit Rücksicht auf die Interessen, die hier in Frage kommen, bedauerlich, aber eS wäre für die Gesammtheit der parlamentarischen Arbeiten gut, wenn man nach der Beendigung der Osterferien möglichst bald zur Klarheit über die Bewältigung des Arbeits- stoffs gelangte." Es war zu erwarten, daß sich das socialdemokra tische Ccntralorgan des Proccffe» Koschcmann bemächtigen würde, um ihn für seine Zwecke nutzbar zu machen. Das Schlagwort, mit dem dies geschickt, lautet: Kaum in einem anderen Proceß tritt der Cbarakker unserer heutigen Rechts pflege so deutlich in seinen Einzelheiten zu Tage. Dann wird als Ergebnis des Processes hingestellt: „Nicht weil dem Koschemann die Schuld nachgewiesen wurde, sondern weil trotz des mangelnden Beweises eine entfernte Möglichkeit seine Betheiligung an dein Attentat als vorhanden angenommen wurde, ist er wegen „Beihilfe" verurtbeilt worden." Es ent spricht so sehr dem socialdemokratischen System, jede Einrichtung des „Classenstaates", gleichviel wie sie ist, für die Propaganda des Umsturzes dienstbar zu machen, daß man sich nicht darüber ereifern wird, wenn zu diesem Zweck auch diesmal wieder der Wahrheit Gewalt angethan wird. Die Verurtheilung des Koschemann ist erfolgt, weil die Geschworenen aus der Gerichtsverhandlung, den Zeugenaussagen und dem Auftreten des Angeklagten die Ueberzeugung gewannen, daß er an dem Mordversuch unter allen Umständen betheiligt gewesen sein mußte. Nur der „Beihilfe" wurde er schuldig befunden, weil zu der Bejahung der ersten Schuld frage, des Mordversuchs, nicht unmittelbar die Kette der Beweise hierfür geschlossen werden konnte. Nur unmittelbar aus den Eindrücken der Verhandlung konnten und durften die Geschworenen urtheilen und alle nicht socialdemokratischen unparteiischen Zuhörer haben den selben Eindruck gehabt. Die über Gerichtssitzungen ver öffentlichten Berichte können namentlich in schwierigen Fällen noch weit weniger einem sachgemäßen Urtheile über Processe zu Grunde gelegt werden, als ein kurzer Bericht etwa dem Urtheil über eine socialdeniokratische Relchstagsrede. In dem letzten Fall baden socialdemokratische Organe wiederholt Be schwerde darüber geführt, daß man dem Standpunkt ihrer Ver treter nicht gerechtwerde; in dem vorliegenden Falleaber wird'.die Unzulänglichkeit der Berichte frischweg ausgenutzt, um mit einer frivolen Dialektik das Urtheil der Geschworenen nickt als das Product gewissenhaft erwogener Eindrücke und ge gründeter Ueberzeugung, sondern als einen Act der Elassen- justiz zu brandmarken. Um die Schwächen dieser Machen schaften zu verdecken, wird auf einer Bemerkung des SlaatSanwaktS herumgeritten: „Wenn bei Jemandem ein Dietrich gesunden wird, muß er sich gefallen lassen, daß er für einen Dieb gehalten wird, bis er den Nachweis vom Gcgentheil erbringt." So lautete der Satz nach den unverbürgten Berichten. Wir wissen also nicht, ob er wirklich so gefallen ist. Sollte es geschehen sein, so stehen wir nicht an, ihn zu mißbilligen. Denn er ist, so wie er steht, nicht richtig. In dem Zusammenhang aber, aus dem er nicht herausgerissen werden darf, wenn man ehrlich dis- cutiren will, besagt er, daß Jeder, der hinreichend deS Dieb stahls verdächtig sei, zu dem Nachweis vom Gegentheil ver pflichtet sei, wenn überdies bei ihm ein Einbruchswerkzeug gefunden werde. Diesen Zusammenhang aber verschweigt der „Vorwärts"; er verschweigt ferner, daß diese Bemerkung deS StaatSanwakls nicht die Hauptsache betraf und vor Allem nicht — den Spruch der Geschworenen be gründete. Unter den Programmforderungen der Socialvemo- kratie lautet diejenige über die Rechtspflege: „Rechtssprechung durch vom Volke gewählte Richter". Das würden also Laien sein, welche, genau wie die Geschworenen in dem vor stehenden Proceß, auf ihr Gewissen und ihre Ueberzeugung hin zu ihrem Urtheil kommen. Und trotzdem wird in dem vorliegenden Falle daS Urtheil mit den bedenklichsten Mitteln nicht objektiv, sondern nach der subjektiven Seite hin — der Gewissenhaftigkeit und Urtheilsfähigkeit der Ge schworenen — discredittrt, weil es der Socialdemokratie nahestehende Elemente getroffen hat! So ist der Artikel des „Vorwärts" weiter nichts, als eine schwache Andeutung, wie es um die Justiz bestellt sein wird, wenn die Socialbemo- kratie erst ihre „Gesellschaft" eingerichtet bat. Das ruchlose Attentat, welches, wie gemeldet, gegen König Humbert von Italic» gestern verübt worden ist. bat bei der allgemeinen persönlichen Beliebtheit, deren dieser Volkskönig sich bei seinen Unterthanen obne Unterschied der Partei erfreut, allenthalben aufs Höchste überrascht und die Frevelthat drängt daher augenblicklich selbst das Interesse an den entscheidungs vollen Vorgängen im Nordosten der griechischen Halbinsel in den Hintergrund. Wir lassen die uns bis heute Mittag zugegangenen Meldungen folgen: * Rom, 22. April. Als der König Humbert sich heute Nachmittag 2',z Uhr mit seinem ersten Adjutanten General Pouzio- Vaglia zu dem Rennen nach Capannella begab, näherte sich außerhalb des Thores von San Giovanni, etwa 2 Kilometer von der Stadt, ein Mann schnell dem königlichen Wagen und führte einen Dolchstoß gegen den König. Der Stoß ging glücklicherweise fehl, denn der König wich mit bewunderungswürdiger Kaltblütigkeit aus, indem er sich imWagen erhob. Der König setzte sodann die Fahrt nach dem Rennplätze fort. Der Verbrecher warf alsbald nach dem Stoße den Dolch fort und wurde sofort durch zwei Carabinieri und einen Polizei-Jnjpector ver haftet. Der Schuldige heißt Peter Acciarito, ist 24 Jahre alt, aus Artena gebürtig, ist Schmiedearbeiter und seit zwei Tagen ohne Arbeit. Er hat keine feste Wohnung und lebt in Feindschaft mit seinem hier wohnenden Vater. Ter Verbrecher wurde alsbald nach dem Central-Polizeibureau gebracht, woselbst ihn der Quästor sofort einem Verhör unterwarf. Nach den ersten Nachforschungen wäre Acciarito ein überspannter Mensch, der keine Mitschuldigen habe. Der König wurde bei seiner Ankunst auf dem Rennplätze mit stürmischen Kund gebungen begrüßt. Als der König nach einigen Minuten die Tribüne bestiegen und sich die Nachricht von dem Attentat verbreitet, brachte die Menge dem König imposante, lang anhaltende Freudenkund gebungen dar. Die Diplomaten und die aus dem Rennplätze anwesenden hervorragenden Persönlichkeiten begaben sich alsbald auf die königliche Tribüne und beglückwünschten den König, welcher lächelnd sagte, dies sind die kleinen Freuden des Metiers. Der König und die Königin blieben mit dem Herzog und der Herzogin von Aosta bis zum Schlüsse des Drrbyrennens. Um 6'/« Uhr Abends trasen der König und die Königin im Ouirinal wieder ein; zahllose Wagen folgten ihnen vom Rennplätze bis zum Palaste. Aus allen Theilen der Stadt strömte eine ungeheuere Menschenmenge auf der Piazza del Quirinale zusammen, die dem Könige eine stürmische Huldigung bereitete. Auf Ver- langen wurde die Känigshymne von der Schloßgarde mehrere Male inmitten unbeschreiblicher Begeisterung ge spielt. Der König und die Königin erschienen, von der Huldigung der Bevölkerung tief berührt, wiederholt auf dem Balcon und dankten unter fortwährenden allseitigen Hochrufen. Die Botschaften, die öffentlichen und Privatgebäude in der ganzen Hauptstadt sind beflaggt. Außerordentlich zahlreiche Personen schreiben sich in die im Palaste ausgelegten Listen ein. Mauer- anschläge fordern die Bevölkerung ans, um 9 Uhr Abends an einer Kundgebung zur Ehrung des Königs thrilzunehmen. (Ausf. wiederh.) * Rom, 22. April. Die Stadt ist stark belebt. Die Zeitungen werden sehr begehrt. Alle Blätter veröffentlichen Artikel, in denen sie das verabscheuungswürdige Attentat verdammen und die kaltblütige Haltung desKönigs hervorheben. DaS socialistische Blatt „Avanti" sagt, nichts hätte dem Interesse der Monarchie besser dienen können, als dieses Attentat. Im Augenblicke der Festnahme wurde Acciarito von den anwesenden Personen zu Boden geworfen und mit Aaustschlägen behandelt. Nach den Zeitungen erklärte Acciarito, er sei durch Hunger zu dem Verbrechen gedrängt worden. Der Verbrecher geberdete sich aufgeregt, er scheint den Anschlag seit gestern geplant zu haben; er hatte geäußert, er werde heute eine hohe Persönlichkeit tödten. Seit gestern suchte ihn die Polizei, «m ihn zu überwachen. Es scheint, daß Acciarito den Dolch selbst angefertigt hat. Tie Klinge desselben ist zweischneidig und 30 cm lang. Ter Verbrecher hatte bei der Ausführung des Stoße» die Hand mit einem Taschentuche umwickelt. Man bestätigt, daß Acciarito aus eigenem Antriebe und in überspannter Geistesverfassung handelte. Dir Königin traf aus dem Rennplätze kurze Zeit nach dem Könige ein, der sie sofort von dem Vorgänge in Kenntniß setzte. Die Königin war lebhaft bewegt und drückte dem König innig die Hand. * Rani, 22. April. Heute Abend 9 Uhr begann auf dem Colonna-Platze eine große Kundgebung, an deren Spitze die monarchischen Vereinigungen standen, die 12 Fahnen mit sich führten. Die Theilnehmer an dem Huldigungszuge zogen unter fortdauernder Begeisterung nach dem Quirnal, wo sie Hochrufe auf den König ausbrachtrn. Die Majestäten erschienen mit dem Herzoge und der Herzogin von Aosta, sowie der Herzogin von Genua zweimal auf dem Balcon, um für die Huldigungen zu danken. Später empfing der König Abordnungen der Theilnehmer an dem Huldigungszuge und sprach ihnen seinen Dank für die Kundgebung der Bevölkerung ans. — Aus dem Jnlande, wie aus dem Aus lände treffen zahlreiche Glückwunsch-Depeschen an den König ein. Weitere Depeschen aus der Provinz melden, daß überall, namentlich in Len Theatern, Huldigungen für den König statlsanden. Auch in den hiesigen Theatern finden Ergebenheits kundgebungen statt. — Als die Theilnehmer an dem Hutdigungs- zuge aus dem Quirinal zurückkehrten, veranstalteten sie eine Kundgebung gegen di» soeialistische Zeitung „Avanti". Diese VolkSkundgebungen sind angesichts drr n.: Wachsen begriffenen republikanischen und socialistischen Strömung in Italien von nicht zu unterschätzendem Werthe und werden zweifellos zur Eindämmung derselben, sowie zur Er starkung des monarchischen Gefühls und zur Befestigung des Thrones beitragen. König Humbert hat sich stets der größten Loyalität dem Volk und der Verfassung gegenüber be fleißigt, er hat sich, weder in StaatSgeschästen noch persönlich, geflissentlich niemals in den Vordergrund gestellt, um auch den Schein zu vermeiden, als bereue er, daß die Dynastie dem Lande freiheitliche Institutionen, wie kaum eine andere Monarchie gegeben hat. Um so größer muß der Volksunwille nnd die allgemeine Empörung gegen den Mordbuben sein, der den Stahl zückte gegen diesen liberalaesinnten Fürsten, wie gegen jene Parteien, die in der Schürung des Hasses gegen die Monarchie mit anderwärts nicht gekannter Leidenschaftlichkeit schüren und so die Verant wortung für die That Peter Acciarito'S tragen. Mag der Attentäter immerhin ein Mensch von überspannter Geistesverfassung sein — taS sind mehr oder weniger Alle, die zu solchen „weltgeschichtlichen" Thaten den Arm erbeben — die Nachricht, daß der Schmiedegeselle sich durch zweitägige Arbeitslosigkeit und den dadurch verursachten „Hunger" zum Feurlletoii. Sneewittchen. 18s Roman von A. I. Mordtmann. Nachdruck verbot«!?. Was NUN mich angeht, so habe ich über die Schicksale dieses Francois Dessoudre seit seiner Ankunst in Madrid ganz andere Vermuthungen als seine Landsleute, die freilich von jenen Vorgängen, auf die sich meine Anschauung stützt, keine Kenntniß baben. Selbstverständlich äußerte ich darüber nichts. Auch Sie werden meine Ansichten erst würdigen können, wenn Sie gelesen haben, waS ich in dem spanischen Kloster erfahren habe. DaS Kloster Unserer Lieben Frau von Punta Marroqui liegt auf der Landzunge, von der es den Namen trägt, mit einem weiten Ausblick auf die Straße von Gibraltar und die Küste von Marokko gegenüber. Die Lage würde von unvergleichlicher Schönbeit sein, wenn die europäische Küste ein wenig anziehender wäre; sie ist thcils sandig, theilS un fruchtbarer Fels; für ihre tobte Einöde entschädigt freilich der Blick auf daS wunderberrliche Blau des MeereS, da« stets von ein- und aussegelnde» Schiffen belebt ist. Die guten Nonnen haben sich den Fleck Landes, der ihnen gehört, recht wohnlich eingerichtet, und ihr Garten, der reich an Orangenbäumen und immergrünen Sträuckcrn ist, gewäbrt Schutz sowohl gegen die glühenden Sonnenstrahlen wie gegen die rauhen Seewinde. ES war nicht leicht, zur Aebtissin zu gelangen. Anfäng lich wurde mein Gesuch, von der alten Dame empfangen zu werden, rundweg abgeschlagen. Meine doppelte Eigenschaft als Protestant und al« Mann war gleich gefährlich für die Rechtgläubigkeit wie für die Tugend der weiblichen Kloster- insaffen. Es bedurfte großer Geduld, vieler UeberredungS- künste und auch gröberer materieller Mittel, um zum Ziele zu gelangen. Hoffentlich wird meine Liebenswürdigkeit gegen die uralte Pförtnerin und deren erfolgreiche Bestechung mir im himmlischen Schuldbuche nicht allzu hoch angerechnet werden. Endlich wurde ich also doch empfangen, wenn auch mit unnahbarer Kälte. Die Aebtissin forderte mich auf, meine Wünsche möglichst kurz und präcisr zu fassen, und beeilt« mich, ihr Wohl wollen durch Eingehen auf ihren Wunsch zu erwerben. „Ich möchte", sagte ich, „von Ihnen nur erfahren, was Sie über den Verbleib Ihrer Nichte, der Frau Juanita Williams geborenen Azuaga wissen." „Darüber weiß ich nichts", antwortete sie ablehnend und machte Miene, aufzustehen und mich hinaus zu complimentiren. Ich erklärte mich näher: der letzte Verbleib der Frau Juanita sei mir bekannt, es liege mir aber daran, soweit es der Aebtissin möglich sei, von ihr zu erfahren, was der letzten schrecklichen Katastrophe vorangegangen sei. „Schreckliche Katastrophe?" fragte sie, aufmerksam ge worden. „Davon weiß ich ja nichts. Bitte, erzählen Sie mir davon." Nun war an mir die Reihe, den Unnahbaren zu spielen. „DaS ist ein Familiengeheimniß", sagte ich, „das ich nicht ohne Weiteres preisgeben darf." „Ich gehöre zur Familie", antwortete sie. „Gewiß". Ich verbeugte mich. „Ich bin auch gern bereit, Ihnen nntzutheilen, was ich weiß, wenn Sie dagegen dem Zweige der Familie, den ich vertrele, dasjenige nicht vor- enlhalten wollen, WaS Sie wissen." „Darüber werde ich mit mir zu Ratbe geben", ver setzte sie ausweichend. „Ich werde Ihnen Bescheid zu kommen lassen!" „Wie Sie wollen", sagte ich ärgerlich und stand auf, um mich zum Fortgehen zu rüsten. Da siegte aber doch die Neugier. Die Aebtissin rief mich noch einmal zurück. „Bleiben Sie nur, Senhor. ES ist besser, wir er ledigen die Sache gleich heute, damit Sie nicht wieder zu kommen brauchen. ES ist aus vielen Gründen nicht erwünscht, daß in diesem Kloster allzu oft Mäntrerbesuch gesehen werde." Niemand war froher als ich. „WaS also wollen sie wissen?" fragte sie mich, als wir Beide wieder saßen. „Da- ist rasch gesagt", erwiderte ich. „Im Jahre 1839 verließ Herr Williams seine Familie, um auswärts sein Glück zu suchen. Im Jahre 1849 ist die Katastrophe eingetreten, die ich vorhin erwähnte. WaS in der Zwischenzeit aus Juanita Williams geworden ist, weiß Niemand. Nur bei Ihnen läßt sich wenigstens eine oder die andere Einzelheit aus dieser Zeit erfahren. Und daS ist eS, WaS ich von Ihnen wissen möchte." „WaS ist denn aus Williams geworden?" fragte die alte Dame neugierig. „Lebt er noch?" „Er lebt noch." „Desto besser", sagte die Aebtissin, und ihre schwarzen Augen funkelten vor Vergnügen. „Das ist der würdige Aus gang einer Ehe» die den Vater mit dem Sohne und die Frau mit den Ihrigen entzweit hat, weil jede der beiden Parteien an der Religion der andern Anstoß nahm." Ich schwieg und die alte Frau erzählte weiter: „Im Jahre 1839 besuchte uns Juanita und theilte uns mit, sie sollte nach dem Wunsche ihres Mannes zu einem in der deutschen Stadt Hamburg wohnenden Jugendfreunde geben, bis er zurückkehren würde. Sie hatte dazu keine große Lust, und wir Klosterschwestern thaten ein UebrigeS, um ihr den Gedanken auSzureden. Juanita machte einige Jahre später eine Reise nach Madrid mit ihrem Vater und kehrte in unser Kloster nicht wieder zurück." „Wann war daS?" „Das muß 1842 gewesen sein." „DaS könnte stimmen", murmelte ich. „Ja, daS könnte stimmen und daS stimmt", erwiderte die gute Frau. „Im Jahre 1846 erst hörten wir wieder von ihr; sie schickte uns ein kleines dreijährige- Mädchen mit der Bitte, es aufzunehmen; eS sei ihre Tochter, aller dings nickt die Tochter deS Herrn William-; da sie an- nehmen müsse, dieser sei todt, so habe sie sich anderweitig vermählt." Nun wußte ich eigentlich Alles, WaS ich wissen wollte; denn WaS sie mir weiter erzählte, daß daS kleine Mädchen von den Nonnen ausgenommen und allem Anschein nack liebevoll verpflegt worden ist, daß dann drei Jahre später die Mutter das Kind abgeholt hat, um es mit sich auf die Reise zu nehmen — daS war mir ja nicht mehr neu. Nur die eine Einzelheit war mir noch unbekannt, daß sich in Juanita'- Begleitung rin Herr befand, der einen fran zösischen Namen trug. Noch eine Frage batte ich zu thun. „Hieß zener Herr etwa Mitain oder ähnlich? Denn daS Kind giebt seinen Namen MiteKa an", sagte ich. „Wie der Franzose bieß, weiß ich nicht", antwortete die Aebtissin. „Aber Mitekla ist der eigentliche Familienname meiner Nichte, obwohl sich ihr Vater nach einem Gute Azuaga zu nennen pflegte, weil ihn, da« vornehmer klang. DaS ge nügt wohl. Nun wissen Sie Alle-, waS mir selbst bekannt ist — wollen Sie nun auch ihr Versprechen halten?" „Gewiß, ehrwürdig« Schwester. Ihre Nichte Juanita ist bei einem Schiffbruch ertrunken, au- dem merkwürdiger Weise nur zwei Personen gerettet wurden, daS kleine sechs jährige Mädchen und ibr Vater. Beide aber wissen von einander nicht-: der Vater ist irrsinnig, Juanita aber wird in Hamburg von guten Leuten erzogen." Ich stand auf. verbeugte mich höflich und ging. Und nun, verehrter Herr Gerard, erlauben Sie mir Wohl, daß ich Ihnen die Kette der Ereignisse so construire, wie ich sie mir zurecht gelegt habe. Jin Jahre 1842 lernte Dessoudre in Madrid die schöne, leichtsinnige und leidenschaftliche Juanita William« kennen. Die Frau leistete dem gewinnenden Franzosen nicht lange Widerstand — sie glaubte vielleicht auch wirklich, ihr erster Mann sei todt — und verband sich mit ihm. AuS dieser Verbindung stammt unsere Juanita, die ini Alter von drei Jabren den Nonnen auf Punta Marroqui zur Pflege und Erziehung übergeben wird. Drei Jahre später bricht über die Gebrüder Dessoudre die Vermögenskatastropbe herein. Francois, nach Madrid entsendet, trifft dort wieder mit seiner Juanita zusammen und beschließt mit ihr die Flucht nach Amerika, obgleich er selbst verbeirathet und Vater eines Mädchen- ist, der Josepbine, die ich kennen gelernt habe und die unserer Juanita so ähnlich sieht. Die Mittel zu dieser Flucht entstammen der Mission, die Francois, entgegen den Ver- iliutbungen, die man darüber in Toulouse hegt, erfolgreich durchgefübrt hat; vielleicht hat er auch noch andere Gelder der Firma veruntreut und mitgenommen, was dann Alle- bei dem Schiffbruch zu Grunde gegangen ist. Sie werden fragen, welche Gründe ich für diese letzteren Verinuthungen bade. Hier sind sie: auS manchen Aeußerungen JosephinenS schließe ich. daß AnatoleS' Handlungsweise gegen seinen Bruder Francois als besonder- edelmüthig betrachtet wird. DaS hat kaum einen reckten Sinn, wenn man nicht anuimmt, daß FrantzviS ein schweres Unrecht gegen ihn be gangen bat — und al< solche» bietet sich am ungezwungensten meine Erklärung dar. Sie stimmt auch am besten zu der Thatsache, daß Francois' Reise den Zusammenbruch der Firma Gebrüder Dessoudre in so unerwarteter Welse be- schleuniat hat. (Fortsetzung folgt.)
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