01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 08.05.1897
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1897-05-08
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18970508012
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1897050801
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1897050801
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1897
- Monat1897-05
- Tag1897-05-08
- Monat1897-05
- Jahr1897
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Größere Schriften laut unserem Preis« verzeichniß. Tabellarischer und Zisfrrasatz aach höherem Tarij. Extra-Beilagen (gesalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Poslbeförderung -M 60.—, mit Postbefördrrung 70.—. Ännahmeschluß für Anzeigen: Abend-Ausgabe: BormittagS 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittag» 4Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stunde früher. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richten. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig. 232. Sonnabend den 8. Mai 1897. A. Jahrgang. Die Mißerfolge -er Linken. Ls Genau vier Jahre sind verflossen, seit wegen der HeereS- Vorlage der Reichstag aufgelöst wurde. Am selben Tage zerfiel die seit S Jahren bestehende freisinnige Partei in die freisinnige BolkSpartei und die freisinnige Bereinigung. Beide Gruppen lebten damals in dem Wahne, daß sich der Grundsatz: „Getrennt marschiren, vereint schlagen" von ihnen werde durchführen lassen. Die parlamentarische Lehre der letzten Jahre thut zur Genüge dar, daß diese Hoffnung fehlgeschlagen ist. Tie Berbandlungen wegen eines künftigen gemeinsamen BorgehenS bei Wahlen sind gescheitert; in Baden baden sich die demokratische Partei und die freisinnige BolkS partei von einander getrennt. So werden also die Gruppen der bürgerlichen Linken bei den nächsten Wahlen jede für sich vorgehen. Diese Thatsache verdient schon jetzt Beachtung, einmal, weil in der letzten Zeit eine größere Anzahl von Nachwahlen stattgefunden hat und schon in nächster Zeit weitere Nach wahlen stattfinden werden, zweitens aber, weil gerade bei der gegenwärtigen sehr schwierigen inneren Lage die Aus sichten der nächstjährigen Wahlen, die von hoher Bedeutung für die innere Entwickelung sein müssen, lebhaft erörtert werden. Allgemein nimmt man an, daß, wenn die Slimmungs- krisis nicht gründlich beseitigt wirb, die Wahlen oppositionell ausfallen werden, aber wenn ein linksliberales Blatt, wie die „Vossische Zeitung", trotzdem mit Bangen diesen Wahlen entgegensieht, so mag man daraus entnehmen, daß auch auf linksliberaler Seile nicht erwartet wird, der Ausfall der Wahlen werde der bürgerlichen Opposition zu Gute kommen, sondern daß diese vielmehr besorgt, die Socialdemokratie werde den Löwenantheil deS Sieges davontragen. An den geringen Aussichten der Linken ist keineswegs nur der Umstand schuld, daß die von diesen Gruppen vertretenen wirthschaftlichen Anschauungen an Boden verloren baden, sondern auch die parteimäßige Zerfahrenheit dieser Gruppen. Faßt man zunächst die freisinnige Vereinigung ins Auge, so muß man daran denken, daß diese Partei den ebe- maligen Secessionisten entspricht. Im Frühjahre 1881 hatten sich wegen wirthschaftlicher Streitfragen etwa 20 Ab geordnete von der nationalliberalen Partei abgesondert. Schon im Herbst desselben Jahres wuchs bei den Wahlen zum Reichs tage diese kleine Gruppe zu einer stattlichen Partei von 47 Mitgliedern an. Die Partei hatte selbst in Wahlkreisen Erfolge, wo sie ihre Candidatcn nur als Zählcandidaten aufgestellt halte. Alle die Kreise, die damals noch der Bismarck'schen Wirthschastspolitik gezenüberstanden, aber politisch einem gemäßigten Liberalismus huldigten, begrüßten die neuge bildete Partei mit Freuden. Da fand im Frühjahr 1884 die Fusion mit der Fortschrittspartei statt. Die Secessionisten waren ein ungleiches Bündniß eingegangen. Bei ihnen war das größere Maß von Intelligenz und von politischer Ein sicht, bei den neuen Freunden das größere Maß partei- taciischer Geschicklichkeit und Rücksichtslosigkeit. So kam eS, daß die Wablmaschinerie in den einzelnen Wahlkreisen von der linken Seite der neuen Partei bedient wurde, und so kam es, daß, als die ehemaligen Secessionisten sich wieder von den Fortschrittlern trennten, sie in den einzelnen Wahlkreisen ohne Organisation waren. ES kam weiter dazu, baß die gemäßigt liberalen Kreise, die sich ihnen im Jahre 1881 gern angeschlossen hatten, mißgestimmt über die Vereinigung mit der radikalen Linken, sich von ihnen ab wendeten. Es kam schließlich dazu, daß auch die wirth- schaftlichen Anschauungen sich bei einem großen Theile der Wähler mehr und mehr im Sinne der Bismarck'schen Politik gewandelt hatten. Die neugebildete freisinnige Vereinigung ermangelte daher zwar nicht einiger begabter Führer, wohl aber der Organisation und der Wäblermassen. Deshalb konnte sie nur mit Hilfe anderer Parteien selbst die be scheidene Zahl von 13 Abgeordneten erreichen. Für die nächsten Wahlen sind die Aussichten womöglich noch un günstiger. Was die freisinnige Volkspartei anlangt, so krankt sie an dem Mangel an Nachwuchs aus den gebildeten Ständen. Die Zahl der Intelligenzen in der Partei bat ständig ab genommen und mit Ausnahme des Abg. Lenzmann sind die bedeutenderen Kräfte der Partei doch schon in dem ständigen parlamentarischen Kampfe ein wenig mürbe geworden und haben ihre frühere Frische eingebüßt. Dazu kommt, daß aus den früher stets für die Fortschrittspartei lebhaft agilirenden Kreisen der jungen Kaufmannschaft ein nicht unerheblicher Tbeil zu der Socialdemokratie übergezangen ist. Die Partei verfügt heute weder über eine genügende Zahl hervor ragender Männer, um viele Wahlkreise mit angesehenen Candidaten besetzen, noch auch über eine genügende Zahl agitatorischer Kräfte, um in vielen Kreisen gleichzeitig die Arbeit ausnehmen zu können. Nimmt man zu dieser ungünstigen inneren Lage der bürgerlichen Linken nun noch die zwischen ihnen bestehende Feindschaft hinzu, so muß man zu der Ansicht gelangen, daß den Hauptvortheil der gegenwärtigen der Regierung un- sreundlichen Stimmung die Socialdemokratie davonlragen dürfte. Schon die im Juni bevorstehenden Wahlen in Königsberg und Wiesbaden werden voraussichtlich die Rich tigkeit dieser Auffassungen bestätigen. Deutsches Reich. K Berlin, 7. Mai. In einer Versammlung des Bun des der Landwirthe in Visselhövede im Hannöverschen hat bekanntlich der Pastor Visbeck auf den Vorhalt eines Landwirtbs, die beabsichtigte Aufstellung eines eigenen BundeS- candidaten könnte den Wahlkreis der Socialdemokratie zu wenden, den Ausspruch gethan: „Nun, wenn ein Socialdemokrat mehr in den Reichstag kommt, ist denn das so schlimm? Das deutsche Reich geht darum auch noch nicht zu Grundel" Wegen des nationalen und religiösen Jndifferentismus, der in diesen Worten zum Ausdruck kommt, braucht man mit dem Herrn Pastor nicht zu rechten. Aber über den Agrarier Visbeck muß man sich verwundern. So viel wir wissen, sind die Socialdemokraten für den Antrag Kanitz, die Doppelwährung und andere lediglich dem Bunde der Landwirthe eigenlhüm- liche Forderungen auch nicht zu haben. Die National liberalen aber, gegen die sich die — mittlerweile bereits erfolgte — Aufstellung des Candidaten des Herrn Visbeck richtet, haben bei allen den zahlreichen Reformen und Hilfsmaßnahmen für die Landwirlhschast, die neuerdings im Reiche und in den Einzelstaaten durchgefübrt worden sind, eifrig mitgewirkt. Ta dies dem Herrn Pastor nicht unbekannt sein konnte, so müssen wohl andere Momente als das Interesse der Landwirtbschast für seine Stellungnahme HN Gunsten eines Socialdemokraten bestimmend gewesen sein. Er irrt übrigens, wenn er meint, daß durch ein Vorgeben des Bundes der Landwinde gegen die Nationalliberalen in Hannover nur einem Socialdemokraten mehr der Weg in den Reichstag gebahnt werde. x. Berlin, 7. Mai. Das Auswanderungsgesetz hat bei der zweiten Lesung im Reichstage zwischen den Par teien erregtere Debatten hervorgerufen, als man nach dem fachlichen Inhalte der Vorlage und nach ihrer geringen Be deutung hätte annehmen sollen. Denn darin wird man der Auffassung der „Nationalzeilung" zustimmen können, daß es sich weder um ein Polizeigesetz, wie die Einen behaupten, noch um ein großes nationales Werk, wie die Anderen an zunehmen scheinen, bandelt, sondern daß die Wirkungen des Gesetzes voraussichtlich sehr bescheidene sein werden. Etwas Anderes wäre es gewesen, wenn die von dem Abg. Förster beantragten Resolutionen einen Theil des Inhaltes deS Gesetzes ausgemacht hätten, wenn also das Reich Auskunfteien für Diejenigen, die auswandern wollen, eingerichtet hätte und wenn dafür gesorgt worden wäre, daß Diejenigen, die auSgewandert sind, natio nalem deutschen Empfinden erhalten werden. Die Errichtung der Auskunfteien schien eine Zeit lang geplant zu sein, wenigstens sprach im vergangenen Herbste die „Post" in einer Weise davon, als ob eS sich um eine feststehende Thalsache handelte. Allzu schwierig wäre auch diese Einrichtung kaum gewesen, da man mit vorhandenen Einrichtungen, nämlich den Consulaten im Auslande und den LandraihSämtern im Inlaude, hätte arbeiten können. Es würde sich nur ein ge wisser Aufwand an Geldmitteln für die von den Consulaten und den Landratbsämtern zur Bewältigung der Arbeit herbeizuziehcnden Hilfskräfte und für das aus der Be antwortung von Anfragen erwachsende Schreibwerk nölhiz gemacht haben. Diese Kosten dürften aber im Verhältnis zu den Vortheilen, die daraus für die Auswanderer erwachsen würden, nur sebr bescheiden ge wesen sein. Der Vortheil für die Auswanderer besteht gegenüber der von dem RegierungSentwurfe geplanten Ein richtung darin, daß es möglich gewesen wäre, individuell zu verfahren. Man hätte den einzelnen Auswanderern für ihren bestimmten Beruf geeignete Länder empfehlen können; selbst verständlich würde dann auch je nach dem Andrange und je nach den veränderten Verhältnissen in den zu besiedelnden Ländern eine Aenderung in der Empfehlung der Länder für die bestimmten Berufe eintreten müssen. Würde zum Beispiel von den Consulaten berichtet, daß in Argen tinien oder Südbrasilien eine Anzahl deutscher Aerzie ein gutes Auskommen finden könnte, so würde mit der Empfehlung dieser Länder an auswanderungslustige Aerzle natürlich dann aufzuhören sein, wenn von den Consulaten berichtet würde, daß der Bedarf an Aerzten gedeckt wäre. Ebenso würde es sich mit der Empfehlung von Ländern für Industrielle, Techniker, Handwerker, Kaufleute, Bauern oder andere Berufe zu verhalten Haden. Dafür giebt das neue Gesetz nichts, denn es giebt nur ungefähre Anhalts punkte, wohin die Auswanderer am besten nicht zu gehen haben. Die Wirkung deS Gesetzes ist also eine mehr negative. DaS Gesetz schablonisirt und es individualisirt nicht. So ist die Handhabung des Gesetzes zwar bequemer und ein facher, aber ob cs den Auswanderern einen bedeutenden Nutzen bringen wird, ist doch sehr fraglich. Mit dem Umfange des Nutzens für die Auswanderer steht aber natürlich deren Dankbarkeit und Anhänglichkeit an das alte Vaterland in engem Zusammenhänge. Es wäre ein nationales Werk von höchster Bedeutung, von politischer, nationaler, sittlicher und wirthschaftlicher Bedeutung, wenn es gelänge, die Millionen deutscher Auswanderer und deren Nachkommen in festem Zusammenhänge mit dem Vaterlande zu erhallen, aber dieser Effect wird, wie schon erwähnt, nur erreicht, wenn etwas wirklich Bedeutendes zum Vortbcil der Auswanderer ge schieht. Tas wird durch das Gesetz nicht geboten; immerhin ist zuzugeben, daß manche Besserung der jetzt im Ans- wanderungswesen herrschenden Zustände herbeigeführt und tiefergreifenderen Maßnahmen für das Wohl der Aus wanderer nicht der Weg versperrt wird. * Berlin, 7. Mai. Den „Münchner Neuesten Nachr." wird von hier geschrieben: „Ein Erfindungsring streb samer, um jeden Preis zur Geltung zu gelangen suchender Journalisten scheint sich gebildet zu haben, um die Welt mit jeder Art von sensationellen, selbstverständlich falschen poli tischen Nachrichten zu überraschen und in Athem zu hallen. Ihre Specialität besteht in Minislerkrisen und De mi ssionSg esu ch en vom Reichskanzler herab bis zu Unter staatssecretairen und in der Beschwörung des „kommenden Mannes". FürLetzteren batGeneralfeldmarschallv. Walde rsee daS zweifelhafte Vergnügen, Modell stehen zu müssen. Diese Rolle wird ibm einfach aufoclroyirt. Gewöhnlich tritt eine solche sensationelle Meldung als „Duplicität der Erscheinungen" auf, damit die ahnungslose öffentliche Meinung die Uebcr- zeugunz gewinnen soll, daß, da diese oder jene Auf sehen erregende politische Krisennachricht an zwei ganz ver schiedenen Orten und in anscheinend gänzlich von einander unabhängigen Organen austaucht, sie Anspruch auf un bedingte Glaubwürdigkeit haben müsse; denn: „durch zweier Zeugen Mund wird stets die lautere Wahrheit kund". Indeß FeurHstsn. Lettlerkunst rmd Lunstbettler. Von Ernst Weise. Nachdruck »erboten. Robert Burns hat ein Lied vom „lustigen Bettler" ge dichtet, in dem die Bettler ihr Leben preisen und ihre Frei heit als ein glorreiches Fest rühmen. So wunderlich eS klingt, so ist eS doch wahr, daß diese Gedanken mehr als eine dichterische Phantasie sind. Der richtige Bettler, der Bettler von Profession, ist zugleich fast immer Bettler aus Neigung und tauscht seinen „Beruf" gegen keinen andern, der der bürgerlichen Ordnung näher steht, rin. Er will Bettler sein und bleiben. Schon 1555 erzählt ein englischer Arzt, er habe reisenden Bettlern angeboren, sie um Gotteslohn von ihren Gebresten zu heilen, aber sie zogen eS vor, „in Krankheit und Faulheit" zu leben. AehnlicheS ist in unserer Zeit in Bukarest geschehen, wo die Bettler, die man in WohlthatiakeitSanstalten brachte, regelmäßig wieder zu ihrem freieren Gewerbe ent flohen. Wenn man hierzu die Thatsache nimmt, daß viele Personen, die eS keineswegs nöthig hätten, sich auS Neigung der Bettelei ergeben, so muß man zu der Ansicht kommen, daß der Hang zum Betteln tief in der menschlichen Natur liegt. Erbetteln doch seit Jahrhunderten die Mitglieder zahl reicher religiöser Orden ihren Lebensunterhalt! In Rom sollen sich selbst fürstliche Personen in den Sack und die Ca- puze der Saccom hüllen und zum Zwecke der WobltbäNgkeit, der Regel entsprechend, stumm und barfuß den Bettel auS- üben. Und im Anfänge deS Jahrhundert» lebte in Berlin ein gewisser Dandon, der TagS über al» Sprachlehrer thätig war, in der Nacht aber seiner Neigung zur Bettelei nackging. Doch das sind mehr oder weniger Dilettanten, auf die ter wahre Bettler mit Verachtung berabblickt. Er betreibt sein Gewerbe als eine Kunst, die eine ausgebildete Technik besitzt und vielerlei erfordert. Vor Allem gehört eine große Kenntniß der Personen und ein gewisser psychologischer Scharf blick dazu. Der Bettler tritt im Minenbezirke als ein ver unglückter Bergmann auf, bei dem juogen Wittwer klopft er al» ein Unglücklicher an, der seine Frau verloren hat und die Kinder nicht ernähren kann; den berühmten Dichter brandschatzt er als ein brodloser „College". Man hat bei städtischen Bettlern ganze Listen gefunden, auf denen nicht nur die genauen Adressen der anzubettelndrn Personen, sondern auch die Beträge verzeichnet waren, die sie zu spenden als verpflichtet galten. Doch daS sind nur grobe Handgriffe; die Bettlerkunst kennt viel feinere Arbeit. Auf einer Londoner Straße sah man einmal ein bitterlich weinendes Kind, da» zwei fast leere Töpfe in der Hand hielt, in denen sich geringfügige Reste von Tbee und Zucker be fanden. Menschen sammelten sich um di« Kleine; mau erfuhr, daß fi« von der Mutter zum Einkauf« «»»geschickt sei und «in Gassenjunge ihr Thee und Zucker aus der Hand geschlagen habe. Allgemeines Mitleid; eine Frau aus der Corona fragt sichtlich bewegt: „Und das war am Ende Deiner Mutter letzter Shilling, und nun darfst Du nicht nach Hause?" Die Bejahung dieser Frage macht die Herzen vollends schmelzen, die fremde Frau veranstaltet für die Kleine schnell «ine Sammlung und bändigt ihr die Summe ein .... Es war ihre Mutter, eine Kunstbettlerin, die das Kind täglich mit den Halbleeren Töpfen auf die Straße schickte und durch diesen Tric zuweilen 16 Shilling an einem Morgen „wachte". Kinder sind dem Bettler überhaupt ein sehr werthvolles Hilfs mittel, sie werden daber gern gemietbet und je nach ihrer Schönheit oder Verkrüppelung mit 50 Pfennigen bis 1 Mark per Tag bezahlt. In England wurde 1877 eine geschäftlich hoch auSgebildete Organisation dieses Industriezweiges ent deckt. Sogenannte Pavroni reisten alljährlich nach Italien und mietheten armen Neapolitanern ihre Kinder auf mehrere Jahre ab. Sie wurden nach England tranSportirt und hier von den Pad' vni im Kunstbettel unterrichtet, dessen gesammten Ertrag sie an ihre Herren abzuliefern hatten. Ihr Zustand war imzAU- gemeinen der einer grauenvollen Sclaverei und sie wurden oft von dem Padroni auf das Schlimmste mißhandelt, obwohl sie bedeutende Werthobjecte bildeten. Denn daß italienische Kinder eine große natürliche Anlage zu jämmerlicher Ver stellung baden, kann Jeder auf den Straßen Roms beobachten, wo die jugendlichen künstlichen Epileptiker und künstlichen Lahmen eine ständige Staffage bilden. Krankheit und Verkrüppelung sind natürlich daS beste Hilfsmittel für den Kunstbettler, sie sind gewissermaßen sein Vermögen. In Italien, wo das Wort „menckieLrs e molto piil kaeile äi Invornre" eine vom Volke hoch verehrte Wahr heit bildet, gilt eine natürliche „hübsche Verstümmelung" als eine Art Capital, die dem glücklich-unglücklichen Besitzer sein Leben als Bettler sichert. Der patriarchalische Papst Gregor XVI., der Vorgänger Pio Nono'S, erlaubte dem „König der römischen Bettler", Beppo, dessen Beine vertrocknet waren und der auf der spanischen Treppe seinen ständigen Platz hatte, auf diese Situation hin die Heirath, zu der er ihm selbst einen Esel schenkte, auf dem er sich von und nach seinem Standpunkte tranSportiren ließ. In der Ovur äes miraeles, dem berühmten Bettlerquartier in Paris — so genannt, weil viele verunstaltete Personen, wenn sie diese ihre Herberge betraten, wie durch ein Wunder gerade und wohlgestaltet zu werden pflegten —, war im 17. Jahr hundert König der Bettler Rolin-Trapu, dem die Beine völlig kreuzweise übereinander gewachsen waren, und Königin Catin Bon-Bec, deren Körper nur bis zum Unterschenkel reichte; beide waren überdies vollkommen bewegungsunfähig. Ihr berühmter College Janin Cul-dc-BoiS besaß zwar ge sunde Arme, doch waren ihm di« unteren Extremitäten amputirt, so daß seine Hüften in eioer runden Holzschliffe! ruhten. Die Oour äes miracles fand unter Ludwig XVl. ihr Ende; aber noch beute schätzen die Pariser Bettler sich gegen seitig nach dem geschäftlichen Werthe ihrer Verstümmelungen ein. Wo nun natürliche Gebresten nicht da sind, mutz die Kunst nachhrlf«n. E» gi«bt Bettler, di« rpil«ptisch« Krämpfe mit solcher Gewandtheit darstellen, daß selbst der erfahrenste Arzt sie nicht mit Sicherheit bezeichnen kann. Pflaster und Bemalung helfen zu Geschwüren, die daS Mitleid wachrufen; daS kunstreich „componirle" Costüm, das sorgfältig einstudirte Elend des Gesichtes und Betragens lbun das Uebrige. Blind heit und Taubstummheit waren früher bessere TricS als heutzutage, wo man gegen diese Künste doch schon mißtrauisch geworden ist. Dagegen ist noch heute, besonders auf Fremde, die Kunst, mit der sich römische Bettler geschickt überfahren lassen, von großer Wirkung. Es begreift sich, daß eine so raffinirte Technik nur daS Ergebniß einer langen Tradition und vor Allem einer sebr umfassenden Organisation sein kann. In der That muß man sich die Bettelei vollständig organisirt denken, sowohl die nationale, als auch jene internationale Armee, die Europa unaufhörlich von Italien bis uach Norwegen durchwandert. Schon die mittelalterlichen Verbrecherbücher unterrichten uns über eine durchgehende Bettlerorganisation, und Luther empfahl deswegen auch die Kenntniß des berühmten Inder vngatorum, weil man aus ihm das Spitzbubenwesen gründlich kennen lerne. An der erwähnten Oonr äcs miracles zu Paris bestand eine richtige Bettler-Hierarchie. Es gab mannigfache Grabe, etwa in der Art, wie sie der Mohr dem FieSco schildert: zu unterst standen die orxksllus, kleine Jungen, die zu Dreien und Vieren halbnackt in den Straßen bettelten, dann kamen die rillauckSs, die sich durch falsche Zeugnisse als Opfer von Feuersbrünsten ausgaben, die malingroux oder Scheininvaliden u. s. w. An der Spitze der zeitweilig 40 000 Menschen umfassenden Zunft stand der König, der sich auch wobl roi cke Ikone (Tunis) nannte, meist aber wegen der Wünsche des Herrn Scharfrichters nur eine kurze RegierungSzeit hatte. In Rußland, wo die Bettelei durch die religiösen Anschauungen und die großen Wallfabrtszüge sebr begünstigt wird, hat man erst jüngst ein richtiges Bettler- Artel (Gilde) mit einem Starosta an der Spitze entdeckt. In Peking wählen sich die Bettler einen „König", der dcr Regierung für etwaige Uebergriffe seiner Untergebenen ver antwortlich ist. Er führt sein Heer der Reibe nach in die Bezirke der Umgegend und nötbigt sie, sich von der durch die entsetzliche Bande drohenden Gefahr durch eine feste Summe loszukanfen. In Rom darf eS kein Bettler wagen, den festen Standort eines College« einzunebmen; er würde von der Zunft gelyncht werden. In Deutschland beruht die Organisation der Bettler in erster Linie auf den Bettlerherbergen, den Pennen in Stabt und Land, über die u. A. Klaußmann wertbvolle Mittbeilungen gemacht hatte. In der Penne erhält der Bettler die für ihn nötbigen Adressen, die er dort käuflich haben kann, er kann sich hier die für ibn so werthvollen Legitimationspapiere ver schaffen, er verkauft bier die Nahrungsmittel und Effecten, die er Tags über erbettelt hat. Besonders auf dem Lande werden die Pennwirthe, die die ihnen angebotenen Gegen stände zu Spottpreisen kaufen, in unglaublich kurzer Zeit wohlhabend, ja reich. In der Penne aber vertrinkt der Bettler auch den Erlös deS TageS, und man kann an solcher Stätte, wenn Abend» und Nacht» hier die Gicht brüchigen, Lahmen, Blinden und Stummen singen, musiciren, tanzen und — sich prügeln, wahrhaft Brouwer'sche Scenen beobachten. Der oben genannte römische Bettlerkönig Beppo wurde einmal bei einem solchen Gelage gesehen, dessen Spender er war. Der Krüppel saß mit glühendem Gesichte mitten auf dem Tische, bewirtbete, jubilirte und sang und nahm die Huldigungen seiner Gäste entgegen. Genußsucht gehört selbstverständlich zu den stehenden Cbarakterzügen des Bettlers. Ein Betteljunge, der 1886 vor den Schranken eines englischen Gerichts stand, sagte aus, daß er täglich nickt weniger als etwa 4 für Nahrungsmittel, Getränke, Näschereien und Tabak auSgebe. Wenn man von einer Kunst sagen muß, daß sie nach Brod gehe, so ist es die Bettelkunst. Aber sie ernährt ihren Mann, und zwar reichlich. Bettler von geringem Ein kommen sammeln doch täglich kaum weniger als 2 in der Stadt steigert sich aber dieser „Verdienst" gewöhnlich sehr bedeutend. 1815 erbettelte sich ein Londoner Bettler 30 täglich; der Durchschnittserwerb betrug damals 3 — 6 Unser Freund Beppo war in den 50er Jahren im Stande, eine seiner Töchter mit einer sehr anständigen Ausstattung an einen Kaufmann in guter Situation zu verbeirarhen. I i Paris finden die Bettler-Bälle und -Hochzeiten oft unter großem Luxus statt, und kein Uneingeweihter, der dem Feste beiwohnte, könnte abnen, daß er sich in der Gesellschaft dcr College» der Bettlerin von Pont des ArtS befindet. D e Gerüchte von den großen Vermögen, die Bettler zusammen gebracht haben sollen, entbehren keineswegs der Begründung Wir alle haben ja noch Ladewig in der Erinnerung, dem das Volkslied „das größte Portemonnaie" zusckreibt. Ter Berliner Nachtbettler Dandon, den wir bereils nannten, hinterließ ein Vermögen von 20 000 Tbalern. In England war vor etwa einem Jahrhundert „koor llos all nlons'' eine populäre Figur; er trug einen langen Bart und hatte seil 50 Jahren nicht in einem Bette gelegen. Als er gestorben war, fand man bei ihm ein Vermögen von nicht weniger als 60 000 .«e und ein Testament, worin er dies Geld gewissen Waisen und Wittwen vermachte. Ein sehr interessanter Fall ist ter jenes Bettlers, dem ein Kaufmann aus seinem Wege zur Börse täglich einen Penny zu geben pflegte. Plötzlich blieb die gewohnte Gabe auS. Der Bettler erkundigte sich und erfuhr, daß der Kaufmann in Vermögensverfall geratben sei. Darauf begab er sich zu seinem Wohlthäter und bot ihm em Darlehen von 10 000 -L an, das er nöthigenfallS auch verdoppeln könne. Diese Summe setzte den Mann in den Stand, seine Angelegenheiten wieder in Ordnung zu bringen. Die Geschichte ist gut beglaubigt. Aber eine solche Dankbarkeit ist als eine große Seltenheit zu bezeichnen. Vielleicht war sie in jenen Zeiten häufiger, als daS Bettlerthum noch viel vom frischen, fröhlichen Vaga- bundenthum an sich hatte, als eS zahlreichen zu Unrecht geächteten Elementen eine Zuflucht bot uud der Gruß „Vivcnt les gueux!" ein Kennwort der Freiheit war. Seit dem hat die Bettlerzunft ihre Technik sebr entwickelt, aber gerade ihr Raffinement erinnert an den nahen Zusammrn- hang, in drm sie zum B«rbr«ch,r»hum st«hh
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