Suche löschen...
01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 16.07.1898
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1898-07-16
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18980716012
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1898071601
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1898071601
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1898
- Monat1898-07
- Tag1898-07-16
- Monat1898-07
- Jahr1898
- Links
-
Downloads
- Einzelseite als Bild herunterladen (JPG)
-
Volltext Seite (XML)
Morgen-Ausgabe NipMer TaMM Ne-action und Expedition: Die Morgen-Ausgabe erscheint um '/«? Uhr, dir Abcnd-Au-gabe Wochentags um 5 Uhr. BezugS-Pre^ kn her Hauptexprdition oder den im Stadt« bezirk und den Vororten errichteten Aus gabestellen abgeholt: vierteljährliches 4.50, bei zweimaliger täglicher Zustellung ins Hous 5.50. Durch die Post bezogen für Deutschland und Oesterreich: vierteljährlich 6.—. Directe tägliche Kreuzbandieudnng inS Ausland: monatlich 7.50. IohanueSgasse 8. Die Expedition ist Wochentags ununterbrochen geössnet von früh 8 bis Abends 7 Uhr. —»o»o*— Filialen: Otto Älcmm'S Sortim. (Alfred Hahn), Universitätsstraße 3 (Paulinum), LoniS Lösche, Katharinenstr. 14, Port, und KönIgSplatz 7. Anzeiger. Amtsblatt des Königlichen Land- nnd Amtsgerichtes Leipzig, des Mathes und Molizei-Amtes -er Ltadt Leipzig. 355. Sonnabend dm 16. Juli 1898. AuzeigeruPrei- die 6 gespaltene Petitzeile 20 Pfg. Neclamen unter dem Redactionsslrich (4ge- spalten) 50/^, vor den Familiennachrichtea (6 gespalten) 40^. Größere Schriften laut unserem PreiS- vevichniß. Tabellarischer und Zisfernsatz nach höherem Tarif. Extra-Beilagen (gefalzt), nur mit der Morgen.Ausgabe, ohne Postbesörderung 60—, mit Postbesörderung 70.—. Äunahmeschluß für Anzeigen: Abend-Ausaabe: Vormittags 10 Uhr. Morge n-Ausgabe: Nachmittags 4 Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stunde früher. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richten. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig. S2. Jahrgang. Bestellungen auf MMlllltMllts nimmt entgegen und führt für jede beliebige Zeitdauer aus Die ErpkiniiLU des leipziger Tageblattes, Johannisgasfe 8. Die Grenzen. V. Je weiter die Theilung der Erde fortschreitet, je dichter der Boden bewohnt ist und je weniger Neuland ver fügbar bleibt, eine um so wichtigere Rolle spielt die genaue Begrenzung der einzelnen Staaten. Die Grenze im modernen Sinne ist ein Product relativer Uebervölkerung, wie der Uebergang zur Seßhaftigkeit, ohne den eS keine Grenze geben würde, eine Folge relativer Uebervölkerung ist. Je wichtiger und kostbarer der Boden wird, je fester ein Volk mit seinem Boden verwächst, um so größer wird die wirlh- schaftliche und politische Bedeutung der Grenze. Um die Grenzgebiete tobt der politische Kampf der nach Ausdehnung ihres Bodens trachtenden Staaten, an die Grenzen sind die wirthschaftlichen Maßnahmen zur Förderung der natio nalen Gütererzengung in wesentlichen Theilen gebunden. Wirt schaftskriege nnd Waffenkriegc haben ihren Schauplatz wesentlich an den Grenzen, die darum für das gesammte wirtschaftliche Leben eines CulturvolkeS von größter Wichtigkeit sind. Uncultivirte Stämme in wenig bevölkerten Ländern kennen keine Grenze; auch wenn sie kein Nomadenleben mehr führen, sondern an bestimmten Orten seßhaft geworden sind, dehnt sich ihr Land um den Mittelpunkt ihrer Ansiedelungen nach allen Seiten aus, um sich allmählich ins Ungewisse zu ver lieren, in den Urwald, der nicht eigentlich mehr zu ihrem Gebiete gebürt, aber doch noch ihrer Jagd dient. Wird die Bevölkerung dichter, stoßen die einzelnen Stämme näher zusammen, so bleibt zwischen ihren Macht gebieten immer noch ein breiter Raum, der sich mit zunehmender Bevölkerung mehr und mehr verengt, um schließlich zu einem Grenzsaum zusammenzusckrumpfen, bis endlich die moderne Welt auch nicht mehr den schmälsten Grenzsaum kennt. Das Land ist zu kostbar geworden, jeder Staat hat sich so weit wie irgend möglich ausgedehnt, es blieb kein Raum mehr zwischen zwei Staaten, der keinem von beiden zu eigen war — die Grenze wurde aus einem Landstreisen zu einer Luftlinie, die aufs Genaueste be stimmt ist. Der wesentliche Unterschied zwischen dieser modernen Grenze, die in einer mit absoluter Sicherheit festgelegten Luftlinie besteht, und den beiden Landflächen, die sich zwischen weniger cultivirten Staaten in schwach bevölkerten Ländern erstrecken, hat übrigens viel Unheil, viel Blutvergießen ver ursacht; der colonisirende Europäer vermochte es nicht, sich mit seiner scharfen Grenzauffafsung in die ganz anderen Ver hältnisse hineinzufinden, er verstand es nicht, daß jenen Völkern der Begriff der Grenzlinie völlig unbekannt ist, daß es für sie bisher selbstverständlich war, über ihr eigent liches Gebiet hinaus in das weite Grenzland ihre Jagdzüge zu unternehmen; diese Ausübung alter, durch die unvollkommene Vertheilung des Landes bedingter Gewohnheiten hielt er für böswillige Grenzverletzung und bezichtigte die „Barbaren" der Treulosigkeit und des Ver- ratheS, obgleich sie nur handelten, wie es durch ihre alte Auf fassung von der Grenze als selbstverständlich gegeben war. In dieser Richtung aufklärend gewirkt zu haben, ist ein Verdienst von Ratzel, der auch in seiner vortrefflichen „Politischen Geographie" der Frage der Grenzen eine ein gehende Würdigung geschenkt bat. Noch heute finden wir z. B. zwischen den Südamerikani schen Staaten keine festgelegten Grenzlinien, sondern nur weite Flächen zwischen den Staaten, die zunächst keinem von beiden zugehören. Je kostbarer nun der Boden wird, um so mehr sucht jeder Staat von dem Grenzlande für sich zu gewinnen, um so heftiger werden die Grenzstreitigkeiten, die dort jetzt ununterbrochen toben. Daß auch den europäischen Staaten noch in unserer Zeit manches Menschliche bei der Grenz- regulirung passirt ist, daß auch sie sich nicht immer in die Grenzlinie gefunden und bei ihrer Festlegung manchen Schnitzer gemacht haben, dafür sehen wir den besten Beweis in dem Fürstenthum Liechtenstein; dieses 159 Quadratkilo meter große Ländchen ist seiner Zeit bei der Grenzregulirung einfach übersehen worden, so daß es jetzt als selbstständiger Staat dasteht. Weniger bekannt dürfte eS sein, daß auch zwischen Preußen und Belgien ein in ähnlicher Weise bei der Grenzregulirung vergessener Landstreifen liegt; es ist der Flecken Mores» et bei Aachen, der seiner Zeit übersehen wurde und nun weder zu Preußen, noch zu Belgien gehört, sondern sozusagen in der Luft schwebt. Die beiden Staaten haben sich zu einer gemeinsamen Verwaltung geeinigt, und noch heute besteht dieser Zustand, der übrigens auch innerhalb der verschiedenen deutschen Bundesstaaten vorkommt, ein Beweis, daß man es bei Friedensverträgen und dergl. mit der Grenz regulirung nicht immer ganz genau genommen hat. Jene alten Grenzfehler beschäftigen noch heute die beteiligten Regierungen, in deren Interesse eS natürlich liegt, endgiltiz Ordnung in den seltsam zwischen zwei Staaten schwebenden Gebieten zu schaffen. Die nachträglichen Regulirungen machen jedoch immer besondere Schwierigkeiten, so daß ihre Ausführung Jahrzehnte lang auf sich warten läßt. Zur Frage wegen der Aufteilung deS neutralen Gebietes von MoreSnet zwischen den beiden Mitbesitzern Preußen und Belgien wird von belgischer Seite hervorgehoben, daß, da der Neutralisirung dieses kleinen Landstriches nicht sowohl politische als industrielle Erwägungen zu Grunde gelegen hätten, die jetzt im Wesentlichen hinfällig geworden seien, die endgillige Auseinandersetzung darüber jetzt bessere Aussichten biete, als die seit 1816 schon mehrmals, aber immer erfolg los unternommenen Anläufe. Es wird bestätigt, daß der belgischen Negierung darüber Eröffnungen von der preußischen Regierung gemacht sind. Letztere stützt ihren Wunsch einer endgiltigen Beseitigung des jetzigen Zustandes darauf, daß unter den obwaltenden Verhältnissen der Grenzschmuggel einen Umfang angenommen habe, der nicht länger geduldet werden könne. Dieser nun schon seit mehr als acht Jahrzehnten bestehende Zustand zeigt, wie auch zwischen modernen Culturstaaten die Festigkeit und Genauigkeit der Grenzlinie bisweilen zu wünschen übrig läßt. Im Allgemeinen freilich ist zwischen diesen Staaten die Grenze überall zu einer ganz scharf bestimmten Luftlinie zusammengeschrumpst, auch dort, wo praktisch von beiden Seiten ein schmaler Landstreifen freigehalten wird. Für die politische Lage und Sicherheit eines Staates ist natürlich die Lage, Größe, Form und Art seiner Grenze» von größter Wichtigkeit. Gewöhnlich weicht die Grenzlinie von der kürzesten Linie stark ab, besonders in den alten Eulturländern. Anders in den neunen Staatenbildungen und Colonien; dort verläuft die Grenze bisweilen auf Hunderte von Kilometern in schnurgerader Linie; so die Grenze zwischen den einzelnen australischen Colonien und besonders diejenige zwischen den Bereinigten Staaten und Britisch- Nordamerika. Auch Deutschlands Grenzen gegen Frankreich und gegen Rußland sind verhältnißmäßig schwach ge gliedert, sehr viel stärker die gegen Oesterreich, während z. B. die Landgrenze Italiens eine besonders starke Gliederung aufweist. Je zerrissener die Grenze, je mehr AuS- und Ein sprünge, um so schwächer ist sie natürlich, um so stärkeren künstlichen Schutzes bedarf sie. Am besten läßt sich die relative Länge der Grenze aus drücken, wenn man berechnet, wie viel Quadratkilometer der gesammten Bodenfläche etwa auf einen Kilometer der Grenz länge entfallen; cs zeigt sich dann am deutlichsten, welche Länder eine verhältnißmäßig günstige Grenzlinie haben. So ent ¬ fallen z. B. in Deutschland auf 1 Kilometer Grenze 7l «zkm Bodenfläche, und während Deutschland im Jabre 1871 um 3 Proc. seiner Fläche und um 4 Proc. seiner Volkszahl ver mehrt wurde, verlief die neue Grenze so günstig, daß die Gesammtgrenze des Reiches relativ — im Verhältniß zur Bodenfläche — eine Verminderung erfuhr. Je kleiner ein Staat ist/ um so ungünstiger gestaltet sich seine relative Grenzlänge, die im Uebrigen natürlich davon abhängt, wie weit die Grenzlinie von der geraden Linie abweicht. Welche gewaltigen Unterschiede in der relativen Grcnzlänge eintreten können, dafür mögen folgende Beispiele genügen: Es ent fallen nach Ratzel auf 1 Kilometer Grenze in Deutschland, wie gesagt, 71 Quadratkilometer Bodenfläche, im Canton Basel nur 0,86 gkm, in Baden 9,85, in Sachsen 10,9, in Montenegro 16, in der Schweiz 22, in den Ver einigten Staaten aber 504 gkm! Der enorme Vortheil dieser günstigen Grenzverhältnisse für die Sicherheit deS Landes ist ohne Weiteres klar. Ebenso selbstverständlich ist daS Bestreben der Staaten, ihre zu schützende Grenze gewisser maßen abzukürzen, indem sie mit Nachbarstaaten Bündnisse schließen. Während Deutschland z. B. seine Grenze durch den Dreibund um die österreichische Grenzlinie verkürzt hat, bewirkt das italienische Bündnrß nur eine indirecte Grenz verkürzung insofern, als eS einen Theil der französischen Macht von der deutschen Grenze ab- und nach Italien hinlenkt. Ebenso gestaltet sich die indirecte Grenzverkürzung durch den Zwei bund gegenüber Deutschland. Die günstigste Grenze aber hat das meerumspülte Albion — darum genügt eS sich selbst zur Noth als „Einbund". Je weniger aber die Natur die Grenzen eines Staates durch ihren Schutz begünstigte, um so mehr hat der Staat die unabweisbare Ausgabe, den natür lichen Schutz durch künstlichen Schutz zu Lanke und zu Wasser zu ergänzen. > Deutsches Reich. * Berlin, 15. Juli. Die staatliche Haftung für Ver sehen der Beamten ist eine Frage, welche schon wiederholt als besserer Regelung bedürftig erörtert worden ist. Einen wesentlichen Fortschritt bringt in dieser Richtung das jetzt vorliegende AussührungSgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch in Bayern. Der Artikel über die Haftbarkeit deS Staat» und der Communalverbände lautet: „Für den Schaden, den rin Beamter des «Aaates, einer Gemeinde oder eines Communalverbandes in Ausübung der ihm anvertrauten öffentlichen Gewalt einem Dritten zufügt, haftet der Staat oder der Verband, in dessen Diensten der Beamte steht, in gleicher Weise, wie der Beamte, so weit der Ersatz von diesem nicht zu erlangen ist. Lenilloton. Ein geretteter Oefterreicher von der „Lourgogne". Wien, 13. Juli. Heute Nachmittag erschien, so schreibt die „N. Fr. Pr.", in unserem Nedactions-Bureau ein sonnverbrannter Mann, der Matrosentracht trug und dessen rechter Arm sammt der Hand bandagirt war. Es war einer von der Mannschaft der „Bourgogne", und zwar ein geborener Oesterreicher, der sich aus dem Untergänge deS Schiffes gerettet hatte und uns nun mündliche Mittheilungen über die furchtbare Katastrophe und über seine eigenen Erlebnisse dabei machte. Der An kömmling lrgitimirte sich durch rin Certificat der öster reichisch - ungarischen Botschaft in Berlin als Friedrich Heuschel, auS Lase in Krain gebürtig. Durch das Zeugniß unserer Botschaft war ihm freie Eisenbahn fahrt für die Rückreise in die Heimath und die Unter stützung der Behörden erwirkt worden. Auf Grund seines österreichischen MarineurbucheS ist er in den Besitz eines belgischen MarineurbucheS gelangt. Die Berliner Botschaft bestätigte auf dem auch von der Wiener Polizei-Direction vidirten Dokumente, daß Heuschel als Quartiermeister auf der „Bourgogne" gedient hat und Augenzeuge der Kata strophe bei Sable Island gewesen ist. Er stand in der kritischen Nacht vom 3. auf den 4. diese» Monat« als Ouartiermeister am Steuer der „Bourgogne" und hat die entsetzenSvollen Kampfscenen zwischen der Mannschaft und den Passagieren deS untergehenden Dampfer- mit eigenen Augen angesehen. Er tragt auch die Spuren derselben an seinem Leibe, denn die Wunden am rechten Arme sind die Folgen von Schlägen mit dem Ruder, welche ihm die franzö sischen Matrosen beigebracht haben, als er in eines der Boote zu gelangen suchte. Herr Heuschel, der sich vo» hier nach Laibach begiebt, wo seine Familie lebt, ist nebst der deutschen auch der eng lischen, französischen und italienischen Sprache vollkommen mächtig. Die Kenntniß de- Italienischen hat ihm, wie auS der nachfolgenden Erzählung erhellt, sein Leben gerettet. Er bat früher bei der österreichisch-ungarischen Marine und beim Oesterreichischen Lloyd gedient, stand seit sech« Jahren im Dienste der Compagnie Tran-atlantique, deren Eigenthum die „Bourgogne" war, und hatte schon zweimal auf diesem Schiffe den Ocean durchquert. Seine Darstellung enthält Biele«, wa« bi« jetzt noch nicht bekannt war, und ist darum von Werth, weil durch sie dem neuesten« von Pari« au« ge machten Versuche begegnet werden kann, die roden, unmensch lichen Gewaltthätigkeiten der französischen Matrosen ab zuleugnen. Der Steuermann Heuschel begann sein« Darstellung ungefähr folgendermaßen: Wir batten New Aork am 2. Juli verlassen und waren beiläufig 18 Stunden Unterweg-, al- die Katastrophe südlich von Sable Island sich ereignet«. Ja der kritischen Nacht hatte ich die Wache auf der Steuer bord feite und stand an den Mast gelehnt. Ring« um un herrschte dichter Nebel und tiefe, finstere Nacht. Außer ora alle klink Minuten ertönenden Signalpfiffen de« Nebelhorns, welche daS Seereglement bei Nebel vor schreibt, war kein Laut zu hören. Die Passagiere und die Mannschaft — die Wache ausgenommen — schliefen: Capitain Deloncle kam argen 1 Uhr Nachts aus Deck, um wegen der bei Sable Island gelagerten zahlreichen und gefährlichen Sandbänke den Curs zu wechseln. Wir fuhren in der Richtung Nordost, vollen Wind vor dem Segel, mit einer Geschwindigkeit von 12 Seemeilen in der Stunde. Da, gegen '/,2 Uhr Nachts, rief plötzlich der Ausluger auf Bug: „Segel an Steuerbord!" Capitain Deloncle, welcher dem fremden Schiffe aus weichen und in parallele Richtung mit demselben kommen wollte, befahl sofort: „Hart Backbord!" Doch war eS bereits zu spät. Der Steuermann konnte daS Manöver nicht mehr ausführen. DaS fremde Schiff fuhr direct auf unsere Schiffsmitte los. Ein furchtbarer Stoß, ein dröhnendes Krachen, und das entsetzliche Unglück war geschehen. Es ist schwer, die nun folgenden Scenen zu schildern. Capitain Deloncle wurde vom Schrecken so ersaßt, daß er vergaß, die Schotten zu schließen. Auf der Com- mandobrücke befindet sich nämlich ein elektrischer Taster. Ein Fingerdruck auf diesen Taster hätte genügt, um sämmtliche Schotten — eS sind dies die wasserdichten Wände zwischen den Cabinen — zu schließen. Der Capitain rief nun unab lässig in voller Verzweiflung: „Non ckiou! Lion äisn! laut «8t xeräu!" Er hatte überdies hohe, schwere Juchtenstiefel an, die ihn zu Fall brachten, als er von der Commando- brücke aus auf das Deck springen wollte. Dem Stoße folgte augenblicklich wildes Angstgeschrei, denn durch da« mindestens zehn Quadratmeter weite Leck ergoß sich daS Wasser wie ein brausender Wildbach in da« Innere des Schiffe«. Die „Bourgogne" hatte Korn geladen, da« begierig daS Wasser aufsog und so zu dem rapiden Sinken deS Schiffe« noch beitrug. Nach dem Zusammenstoß batte sich die „Bourgogne" aus die Backbordseite gelegt, so steil, daß die Deckfläche fast vertikal stand und zum Theil unter Wasser gerieth. In Folge dessen rutschten All«, die auf Deck kamen, herab und Viele ertranken so auf dem Schiffe selbst. Dies ge schah namentlich den zahlreichen Kindern italienischer Auswanderer, Vie mit ihren Familien an Bord der „Bourgogne" die Rückreise uach Europa angetreten hatten. Für die Rettungsaktion selbst kamen von den auf dem Schiffe befindlichen neun Rettungsbooten nur Vie vier Boot« auf der Backbordseite in Betracht, da in Folge der starken Neigung de« Schiffes die an der Sleuerbordseite befindlichen Boote über da« Verdeck hineinhingen, so daß sie nicht in da« Wasser gelassen werden konnten. Um Vie Plätze in Viesen vier Booten entspannen sich nun furchtbare Kämpfe, welche ven panischen Schrecken noch vermehrten, von d«m All«« erfaßt schien. Die Matrosen der Steuerbordwache stürzten sich augenblicklich auf die noch in der Luft hängenden Boote. Eine« der Seile, au welchem da- mir zunächst befindliche Boot hing, wurde von Jemandem gekappt. Di« Insassen stürzten au« dein nun senkrecht herabhäogenden Boote iu« Meer. Dann siel da« zweite Tau. Wie rasend stürzten di« Matrosen aus da- Boot zu und hatten im Nu alle Plätze besetzt. All die- ging blitzschnell vor sich. Eine schauerliche Beleuchtung empfingen diese Scenen durch den in der Küche entstandenen Brand. Durch die Heftigkeit des Stoßes war das Feuer auS den Herden, auf denen eben der Kaffee für die neue Wache bereitet wurde, herausgeschleudert worden und theilte sich jäh dem in der Küche zum Trocknen aufgespeichertcn Kleinholz mit. In dem Flammenscheine sah man deutlich die todtbringende Verwirrung. In allen Sprachen hörte man um Hilfe rufen, und in die Schreie der Todesangst klangen die Flüche und das Wuthgeschrei der Passagiere, die durch die Matrosen gehindert wurden, die Rettungsboote zu erreichen. Die Italiener leisteten verzweifelte Gegenwehr und zogen ihre Messer. Die Boote, die für dreißig Personen berechnet waren, trugen 70 und mehr Insassen, die in dem Boote saßen, lagen oder standen, eng aneinander gepreßt, und Jeder bereit, seinen Nachbar über Bord zu stoßen, um sich selbst zu retten. Die Sicherheitsgürtel und die Schwimmhölzer, die vor die Brust gebunden werden, versagten fast vollständig. Die meisten fehlten überhaupt, und der Rest war unbrauch bar. Inmitten dieses CbavS stand eine Gruppe von drei polnischen Juden, ihres Zeichens Kürschner, die Gcbetmäntel über dem Kopf, die in fatalistischer Apathie des Toves harrten. Alle diese Scenen hatten kaum zwei Min Uten gewährt. Das Schiff begann sich auf die andere Seite zu neigen. Ich benutzte diesen Augenblick und sprang über Bord. Ich erfaßte dann den Rand eines der Rettungsboote. Sofort schlugen die französischenMatrosenmitRudern auf meinen Kopf und auf meinen rechten Arm. Ich ließ aber nicht los und ries einem Italiener in seiner Muttersprache zu, mir inS Boot zu Helsen, was dieser auch mit Aufgebot aller Kraft that. Hierbei erhielt ich noch einige Hiebe auf den Nacken und den Rücken. Nun zoa ich ebenfalls mein Messer, um mich zu wehren, und gelangte endlich in daS Boot. Die „Bourgogne" machte noch etliche Wendungen und versank endlich, einen weiten und tiefen Strudel ziehend. Mit ihr ertranken der Capitain, die Osficiere bi- auf deu dritten Maat, der sich retten konnte, der Arzt, die Backbordwache, welche ihre Schlafzeit batte, daher zu jener Zeit unter Deck war, die auf dem sofort gesunkenen Theile LeS Schiffe« schlafenden Cajüten-Pasiagiere und das Ma sch ine »personal. Da letztere dürfte verbrannt sein, da auch auS den Kesseln die heiße Gluth herauSgefallen sein mußte. In unserem Boote begann nun ein neuer Kampf. Die französischen Matrosen hatten sich von dem in dem Boote befindlichen Seevorratbe, welcher au« einem Fäßchen Rum, einem Faß Wasser, Salzfleisch und Zwieback besteht, de« RumeS bemächtigt und begannen zu trinken. Ich besprach mich aber mit den Italienern. Wir überfielen die Franzosen, nahmen ihnen da« Rumfaß ab und warfen e« in da« Meer. Nun mußte an da« Fortkommen gedacht werden. Vom Rudern konnte der Ueberfüllung de« Boote ¬ wegen natürlich keine Rede fein. Die Franzosen weigerten sich, zu steuern, die Italiener verstanden nicht« davon. Mein Arm halte bei dem Kampfe erhebliche Verletzungen davon- getragen, so daß ich allein da- Steuer nicht handhaben konnte. Ich übergab dasselbe einem Italiener, und mit Hilfe meiner Weisungen gelang eS, da« Boot vor dem Wind zu kalten. Von dem fremden Schiffe, mit dem wir zusammengestcßen waren, konnten wir in dem dichten Nebel nicht« bemerken. So trieben wir zwölf Stunden auf hoher See herum. Endlich tauchte die „Cromartyshire" vor unseren Augen auf. Wir befestigten unsere Hemden auf den Rudern und gaben dem Schiffe Signale. Dieselben wurden erwidert. Der Dampfer näherte sich unS. Wir waren gerettet. An Bord der „Cromartyshire" waren bereits zahlreiche andere Schiffbrüchige von der „Bourgogne", die von dem Schiffe aufgrlesen worden waren. Die „Cromartyshire" hatte bei dem Zusammenstöße ebenfalls ein Leck davon getragen und die Mannschaften mußten die ganze Zeit an den Pumpen arbeiten, um daS Wasser zu entfernen. DaS Schiff fuhr nach Halifax. Aus dem Wege dahin wurde ein Theil von unS von dem nach England fahrenden „Egyptian" übernommen. Wir landeten in Kingstown, wo ick bei den englischen Behörden in Anwesenheit des französischen Consuls die hier angeführten Tbatsachen berichtete und beeiden mußte. Ich selbst bin ohne alle Mittel und bin auf die Jnvalidencasse der Compagnie Transatlantique angewiesen. Heuschel behauptet auch, nebst der bereit« in früheren Berichten erwähnten Engländerin sei noch eine Frau, eine deutsche Gouvernante, gerettet worden, und zwar in demselben Boote, in welchem er sich befand. Friedrich Heuschel theilte uns ferner mit, daß die Be mannung der „Bourgogne" meistens aus Cmsen bestand. Die Disciplin auf dem Schiffe sei die denkbar schlechteste gewesen. DaS Schiff war auch mangelhaft auögestattet. Obwohl erst in jüngster Zeit erbaut, hatte die „Bourgogne" nur eine Schraube, während die modernen Dampfer fast alle zwei Schrauben besitzen. Ueber jeder Koje soll ein sogen. „Lebensretter" angebracht sein. Auf der „Bourgogne" haben die meisten „Lebensretter" überlxwpt gefehlt, und nach An gaben Heuschel's soll erst auf je drei oder vier Kojen einer entfallen sein. Der Seevorrath, der nach dem See-Reglement sich auf jedem Rettungsboote befinden muß, bestand au- altem verschimmelten Zwieback, der von den Würmern bereils angefressen war, und au- schlechtem Wasser. Auf den deutschen und auch den meisten anderen Schiffen wird täglich Vormittags da« „Klar an die Rettungsboote" und Nachmittag« werden die „Feurrposten" geübt, damit bei einem Unalückssalle die Mannschaft geistesgegenwärtig nnd geschult ihre Pflicht erfüllen könne. Auf der „Bourgogne" fanden, wir Herr Heuschel erzählt, iLerhaupt keine solchen Hebungen statt, wodurch auch dir DrSciplinlosigkeit rmd die Panik, die auf dem Schiffe herrschte, erklärlich wird. Nach ven Aussagen Heuschel'- so4l der Zusammenstoß nicht, wie immer berichtet wurde, um 5 Uhr früh, sondern schon um halb 2 oder höchstens um 2 Uhr Nacht« bei tiefer Dunkelheit erfolgt sein. Er sucht die« solgendermaffen zu beweisen: Um halb I2UhrNachtS wurde, wie gewöhnlich, die Wache gewechselt und ich kam aus Posten. Eine halbe Stunt« brauchten wir, um Kaffee zu trinken. DaS Wacheablösen dauert ebenfalls eine halbe Stunde, und eS kann höchsten« eine Stunde vergangen gewesen sein, als der Zusammenstoß erfolgte. Ueberdie« lag dichter Nebel über der See, e« herrschte tiefe Dunkelbeit, und auf hoher See beginnt es jetzt bereit« »m 3 Uhr zu tvgen, um welche Zeit sich auch der Nebel bebt. Ich fahre — schloß Heuschel seine Mitthetilungen — heute noch in meine Heimath Zu meiner Frau und Meinen Kindern. WaS ich weiter machen werde, weiß ich noch nicht, jedenfall« trete ich nicht mehr bei einer französischen Gesellschaft eia.
- Aktuelle Seite (TXT)
- METS Datei (XML)
- IIIF Manifest (JSON)
- Doppelseitenansicht
- Vorschaubilder
Erste Seite
10 Seiten zurück
Vorherige Seite