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Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 13.11.1898
- Erscheinungsdatum
- 1898-11-13
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-189811136
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-18981113
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-18981113
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1898
- Monat1898-11
- Tag1898-11-13
- Monat1898-11
- Jahr1898
- Titel
- Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 13.11.1898
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Drüßere Schriften laut unserem PreiS- verzeichntb. Tabellarischer und Ziffernsatz nach höherem Tarif. Extra»Beilagen (gefalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbeförderuuß ^l SO.—, mit Postbeförderung 70.—. Annahmeschluß für Anzeigen: Abrnd-Au-gab«: Vormittag» 10 Uhr. Marge »-Ausgabe: Nachmittag» 4 UhL Bet den Filialen und Annahmestelle» je eta« halbe Stunde früher. Anzeigen stad stet» an die Expedition zu richte». Druck und Verlag vo» E. Polz h: Leipzig. 578. Sonntag den 13. November 18S8. SL Jahrgang. Aus der Woche. Die Berliner Regierung sollte sich einmal überlegen, ob eS nicht zweckmäßig wäre, ihr für die Veröffentlichung be stimmtes Thatsachen- und Gesetzgebungsmaterial aus dem Submissionswege an die Reporter zu vergeben. Die bis- herige Form der Verschleißung — um den Preis offenen oder, was schlimmer ist, versteckten, als Parteipolitik sich aeber- denden GouvernementaliSmuS — hat unter anderen Nach theilen auch den, daß die leer ausgegangenen, um hinter der Concurrenz nicht zurückzubleiben, vom Nachrichtenhandel zu der „productiven Tyätizkeit", der Nachrichtenerzeugung, über gehen und dadurch Unheil stiften. Zu der züngsten Zeit haben es diese Geschäftsleute, getrieben wahr scheinlich vom Aerger über die allerdings nicht schone und noch weniger zweckentsprechende löffelweise Ver abreichung deS Inhalt» und der Begründung deS ZnvaliditätS- versicherungSgesetzes an zwei Correspondenzinhaber, besonders arg gemacht. Ihre Nichtsnutzigkeit hat sich diesmal mit Vor liebe auf das Verhältniß der Bundesstaaten zu einander, namentlich auf das zwischen Preußen und Bayern geworfen. Die beabsichtigte Münchener Reise deS Großherzogs von Baven sowie der Besuch deS Reichskanzlers bei diesem Fürsten mußten n. A. auch dazu herhalten, daß man sie auf die Absicht des Großherzogs zurücksührte, vor vem Prinz-Regenten Luitpold der bayerischen Regierung den Kopf zu waschen, „weil sich bei dieser die Neigung vergrößert habe, denAnspruch zu erheben, daß die Führung in Deutschland weniger bei Preußen als bei Bayern zu liegen habe". Also eia umfassender reichspolitischer Eon- slict, der noch dazu nicht erst im Entstehen begriffen ist, denn die bewußte „Neigung" der bayerischen Regierung ist nicht von gestern, sie hat sich nur neuerdrngS ver größert. Zur luftigen Unterlage deS Schwindels wurden Andeutungen über Differenzen wegen der Zollpolitik, des Znvaliditätsgesetzes und schließlich ein übertreibender Hin weis auf die in Sachen der Militair-Strasproceßordnung noch bestehende Meinungsverschiedenheit genommen. Die Bildner dieser Neuigkeiten sitzen in Berlin, erwarten Kost von der dortigen Regierung, sind deshalb preu ßische Patrioten und färben ihre Erzeugnisse demgemäß antibayerisch. Wenn man nicht ohnehin wüßte, daß die Regierung nichts mit ihren Ausstreuungen zu schaffen hat, so könnte man es der ausgesprochenen Drohung entnehmen, daß die Handhabung der Arbeiterversicherungsgesetze in Bayern eine nähere Beleuchtung erfahren werde, falls der süddeutsche Staat die Novelle zum Jnvaliditätsgesetze be kämpfe. So unvorsichtig ist die preußische Regierung nicht, um zu einem solchen Druckmittel zu greifen; denn wenn in Bayern Menschlichkeiten passiren sollten, für die tadellose Handhabung deS Klebegesetzes in den östlichen Provinzen Preußens kann man auch nicht die Hand in» Feuer legen. Unter den Phantasieartikela der verflossenen Woche figurirte auch die Nachricht, in BreSlau habe dre Polizei über alle dort lebenden Oesterreicher slawischer Herkunft die Ausweisung verhängt. Einige Zeitungen begnügten sich, von einer Anzahl von der Maßregel Betroffener zu sprechen, urschriftlich war aber von „allen" die Rede. Selbstverständlich hat diese schöne, aber leider unverübt gebliebene RegierungSschandthat den Berliner freisinnigen Zeitungen den Anlaß gegeben, aber mals gegen di« Ausweisung von Dänen auS Nord- schleSwig herzuziehen. DaS hat nun nichts auf sich. Diese Federn lasten sich von dem Spruche leiten: WaS du nicht willst, daß den russisch-polnischen Hausirern geschieht, daS laste auch Anderen nicht zufügen. Befremdend aber ist eS, daß auch einige nationale Blätter, ohne Aufklärung über die Beweggründe der deutschen Behörde abzuwarteu, die demokratische Phraseologie sich aneignen. So auch eine Zeitung in München, wo man doch vo» Sonderburg und Husum ziemlich entfernt und im Allgemeinen geneigt ist, die Sachkunde und damit die Berechtigung von weiter her kommender Kritik bayerischer Maßregeln anzuzweifeln. ES .empfiehlt sich, ruhig abzuwarten, warum die Regierung so 'vorgeht, wie sie eS thut, und sich bis dahin zu vergegenwärtigen, daß der Oberpräsident von Schleswig-Holstein Herr v. Köller ist, ein Mann, der sich als Polizeipräsident von Frankfurt a. M. und in anderer Stellung selbst von seinen Gegnern das Zeugniß eines nur ungern und vorsichtig zu härteren Maßregeln greifenden Beamten erworben hat. Eine weitere Erfindung der letzten Tage war die Nach richt, die konservative Partei in Preußen werde in der kommenden Landtagssession ein allgemeines Schulgesetz, d. h. ein solche» nach dem Muster deS Zedlitz'schen, von der Regierung zu erzwingen suchen und im Falle des Mißlingens zur Einbringung einer Znitiativvorlage schreiten. Wir haben schon mitgetheilt, daß daS officielle Organ der Eonservativen diese Meldung Lügen straft, obwohl sie auch vhnedie» durch aus unglaubwürdig erschien. Die „Post" spricht zwar nach träglich noch von der „Thatsache",daß der Landtag sich mit einem reactionären Schulgesetz in der nächsten Legislaturperiode zu be schäftigen haben werde, aber ihr ist eS nur darumzuthun, sich an den Nationalliberalen wegen deren gelegentlicher Wahlverbrüderung mit dem Freisinn zu reiben, einer Politik, die auch wir be dauerten, aber wahrlich nicht aus dem Grunde, weil sie einem Blatte wie der „Post" mißfiel. Die preußischen Eonservativen haben andere Sorgen, als die um ein Gesetz, gegen daS sich s. Z. auS den Reihen der protestantischen Orthodoxie heraus die schwersten Bedenken geltend gemacht haben. Sie wissen auch recht wohl, daß ein um Schulsachen willen herbei geführter Bruch mit der liberalen Mittelpartei ihnen noch nicht die Unterstützung deS Centrums in den sie so nah berührenden östlichen WirthschaftSfragen sichert, und allem können sie auf diesem Gebiete parlamentarisch um so weniger etwa- erreichen, als in der freiconservativen Partei daS uichtostelbische Element ziemlich stark vertreten ist. Mit der erfolgreichen Einschüchterung der Regierung durch das Geschrei, wie die Socialvemokraten eS hören lasten, dürfte es vorbei sein und eS hat sich wohl auch die Neigung zum Ge brauche diese- Mittels innerhalb der Partei vermindert; die extrem-agrarische Strömung hat zu viel deS Eonservativen hmweggeschwemmt und die Bemühungen, daS Verlorene von den Hahn und Genossen zurückzugewinnen, werden die Partei zu stark in Anspruch nehmen, als daß man bei ihr Zeit und Lust zu Zedlitz'schen Abenteuern voraussetzen könnte. Die „Köln. Ztg." hat Auftrag erkalten, gegen die „ Co lo nialschwärmer" zu wettern. Man kann zugeben, daß einige Uebertreibung, so daS Verlangen, Deutschland solle sich in den Faschoba-Handel eiomischea, einen äußeren Anlaß zu der Predigt geboten hat. Aber abgesehen davon, daß die „Köln. Ztg." auch schwärmen würde, wenn eS obrigkeitlich er wünscht wäre, hat der ganze Lärm offenbar nur den Zweck, durch Spott und Hohn in Deutschland eine colonialglrich- giltige, um nicht zu sagen colonialfeindliche Stimmung zu erzeugen und damit die Gemüther für eine zornesfreie Hin- nähme des afrikanischen Abkommen- mit England zu präpariren« Deutsches Reich. /S Berlin, 12.November. („Line furchtbare Anklage gegen die heutige Gesellschaftsordnung") Von den 3772 Kindern, die im Jahre 1897/98 in da- Berliner städtische Waisendepot ausgenommen wurden, sind 64 wegen SiechthumS dem Waisenlazareth überwiesen, 10 starben bald r 'ch der Einlieferung, da sie sterbend in-Depot kamen, außerd'm starben 23 im Säugling-alter. „Die größere Morta ität der Säuglinge", sagt der Bericht, „hängt mit der g^,.eigerten Aufnahme von Säuglingen einerseits und mit dem äußerst geschwächten Zustande andererseits zusammen, in welchem die Säuglinge mit wenigen Ausnahmen ter Anstalt zugehen." — „Welch' eine furchtbare Anklage gegen die heutige Gesellschaftsordnung!" fügt der „Vor wärts" dieser Stelle deS Bericht- hinzu. Ob die Eltern der frühzeitig dabingerafften Kinder nickt mehr die Schuld trifft alS die „Gesellschaft", daran denkt der „Vorwärts" nicht. Seine tendenziöse Gedankenlosigkeit ist aber um so tadelnSmertber, als er eben erst, nämlich in der Nummer vom 6. d. M., gezeigt hat, daß er weiß, welchen Schuld» aatheil die Eltern der „Proletarierkinder" an der Sterblichkeit der letzteren im Säugling-alter haben. Zn seinem Bericht über den volkSthümlichen HochschulcurS, den Professor Heubner über da-Thema „Pflege des Säugling»" hält, schreibt nämlich der „Vorwärts" wörtlich Folgende»: „Die mangelhafte Betheiliguag deS Arbeiterstandes an dieser Vorlesung scheint schon deshalb bedauerlich, weil unseres Erachtens die ungünstigen Sterblichkeitsverhältnisse der Proletarierkinder durch eine sachgemäße Belehrung der Eltern über Säuglingspflege doch etwa- gebessert werden können. Die Gesundheit-- und Sterblichkeitsverhältniffe der Kinder au- den wohlhabenden Classen sind nicht bloS deshalb günstigere, weil deren Eltern bessere Milch rc. bezahlen können, sondern auch deshalb, weil hier meist »in« geregelte ärztliche Ueberwackung besteht und daher Mißgriffe bet der Ernährung und Pflege eher vermieden werden. In der Proletariersamilie fehlt e» auch an dieser Ueberwachung und darum stad gerade auf dem Gebiete der Kinderernährung dort auch solche Mißstände zu finden, welche nicht uumittel- bar al-Folge der materiellen Nothlage anzusehen sind." Wer hierauf etwa einwendete, bezüglich der Waisenkinder könne doch den Eltern kein Vorwurf gemacht werden, weil sie durch den Tod verhindert seien, für die Kinder zu sorgen, dem ist Folgendes zu entgegnen: Als Grund der Aufnahme in- Waisendepot wird im BerwaltungSberichte genannt: die Eltern waren todt bei 346, krank bei 571, verhaftet bei 157, außerhalb bei 63, unbekannt abwesend bei 523, die Mutter war in Dienst bei 197, obdachlos waren 84, das Erziehung-recht war den Eltern genommen bei 134, wegen Verwahrlosung wurden ausgenommen 58, Findlinge waren 29, Armuth der Eltern wird nur bei 277 alS Aufnahmegrund genannt. Sind die verhafteten Eltern jener 157 Kinder, sind die „unbekannt abwesenden" Eltern zener 523 Kinder, sind die deS Erziehungsrechtes verlustig gegangenen Eltern jener 134 Kinder, sind die Eltern jener 58 Verwahrlosten an dem Schicksal ihrer Kinder wirklich weniger schuldig als die „Gesellschaft"? Zf Berlin, 12. November. (BundeSrath und Sonntagsruhe.) Die socialdemokratische Presse hat sich anläßlich der jüngst durch den BundeSrath an den Sonntags- ruhebestimmungen für das Kürschnereigewerbe vorgenommenen kleinen Aenderungen gemüßigt gefühlt, über eine Ab b rocke - lung der Sonntagsruhebestimmun gen im Allgemeinen zu klagen und dabei den Glauben zu erwecken, als ob gegen wärtig bezüglich der Sonntagsruhe in den maßgebenden Kreisen grundverschiedene Ansichten von denen im Beginn der neunziger Jahre herrschten. Der socialdemokratischen Presse wird es schwer werden, für diese Behauptung den Beweis zu er- Ferrrlletsii. Eine Heimstätte des Evangeliums im Heiligen Lande. Nachdruck verdaten. Aus Jerusalem meldete der Telegraph unterm 1. Nooemär: „Am Nachmittag wurde das evan gelische Waisenhaus besucht, wo die Majestäten von der Wittwe des Begründers Johann Ludwig Schneller und dessen beiden Söhnen, lden Pastoren Ludwig und Theodor Schneller, empfangen und begrüßt wurden. Die Majestäten besichtigten die Räume der umfangreichen Anstalt und wohnten dem Unterricht in ver schiedenen Zweigen desselben bei. Nach fast zweistündigem Verweilen kehrte das Kaiserpaar zum Zeltlager zurück." Wenn unser deutsches Kaiserpaar bei seinem kurzbemessenen Aufenthalt in der Heiligen Stadt einer einzelnen Anstalt volle zwei Stunden gewidmet und die Familie des Stifters ganz be sonders ausgezeichnet hat — am gleichen Tage war der jetzige Leiter der Anstalt, Theodor Schneller, vom Kaiserpaar zur Tafel geladen und wurde ihm die hohe Ehre zu Theil, demselben auf dem Gang nach dem Oelberg als Führer zu dienen — so muß diesem Institut schon eine hervorragende Bedeutung eigen sein. Und in der That, das vom Vater Schneller, dem Pa triarchen der evangelischen Mission im Heiligen Lande im Jahre 1860 gegründete „Syrische Waisenhaus" ist einer der ersten und stärksten Grundpfeiler, auf welchen die evangelische Gemeinde in Jerusalem und Syrien sich erbaut, auf dem sie sicher für alle Zukunft ruht. Johann Ludwig Schneller's 42jährige Wirksamkeit in der Stadt David'S ist bahnbrechend geworden für die evangelische Mission im Heiligen Lande, und wenn jetzt es dem Kaiser vergönnt war, die neu erbaute evangelische Erlöserkirche, den Mittelpunkt deS deutsch evangelischen Ledens in Jerusalem, zu weihen, so gebührt Schneller der Ruhm, durch seine aufopfernd« große Thätigkcit im Dienste der evangelischen Sache den Grund mit gegraben und die Fundamente mit gelegt zu haben. Johann Ludwig Schneller war ein geborener Württemberger, ein echter Schwabe von der Rauhen Alp, wo «in treue« und festes Geschlecht, einfach, sittenrein, streng gegen sich selbst, gottes fürchtig und königstreu, auf den Bergen wohnt. Er stammte (Anfang 1820 geboren) aus dem weltfernen Dörfchen Erpfingen, wo sein Vater, ein Nachkomme von Salzburger um ihre« Glauben willen vertriebenen Emigranten, ein armer Weber und Bauer war. Der Sohn widmete sich dem Lehrerberuf, verbrachte seine Wanderjahre in verschiedenen schwäbischen Dörfern al« Lehrer der Jugend und Freund der Dauern, denen er zugleich Berather in religiösen und socialen Dingen war, wurde dann zum Haus vater und Seelsorger in der Anstalt für entlassen« männliche Sträflinge in Vaihingen ernannt, wo er fünf Jahre außer ordentlich segensreich wirkte, und erhielt schließlich einen Ruf an die Pilgrrmissionsanstalt Sanct Chrischona bei Basel, wo sein B-ruf war, junge Leute aus dem Handwerkerstände, die den Drang hatten, ihre Kräfte in den Dienst der inneren oder äußeren Mission zu stellen, auSzubilden. Während seiner sieben jährigen Thätigkeit in der Waldeinsamkeit Chrischona» bezog Schneller nicht «inen Pfennig Gehalt, da die Anstalt ganz arm war: gewiß rin Zeugniß seltener Selbstlosigkeit. Kaum hatte der 34jährige junge Mann in Magdalena Böhringer, der Tochter eines geachteten und wohlhabenden Bürgers und Gastwirths in Eschenbach bei Göppingen, die Gattin heim geführt — dieselbe, die als ehrwürdige Matrone jetzt den deutschen Kaiser über die Schwelle des evangrlisch«n Waisen hauses in Jerusalem geleiten durfte —, da führte ihn das Schicksal weit, weit hinweg von der Heimath, nach Palästina, wo er im Auftrage der Chrischonaer Pilgermission die Leitung des „Brüdrrhauses" in Jerusalem übernehmen sollte. Schneller bekam wieder keinen Pfennig Gehalt, nur Nahrung und Kleidung sollte er „nöthigenfalls" erhalten: die Missionare sollten sich als Schlosser, Uhrmacher, Drechsler, Weinküfer rc. das Uebrige selbst verdienen und „dabei dem Lande das Beispiel von arbeit samen, zuverlässigen und gottesfürchtigen Christen geben". Ende November 1854 traf Schneller in Jerusalem ein. Seine Aufgabe war zunächst die weitere Ausbildung der mit genommenen sechs Missionszöglinge, die nach ein bis zwei Jahren als Missionare ausgesandt wurden. Der Nachschub aus der Heimath blieb aus, und so gerieth das Brüderhaus bald in volle Auflösung. Da entschlossen sich Schneller und seine Frau, sich in ihrem Berufe selbstständig zu machen, wobei ihre Absicht in der Hauptsache darauf hinausging, das arme Landvolk von Palästina sittlich und social zu heben. Im October 1855 kauften sie ein Grundstück außerhalb Jerusalems, auf welchem heute das Syrische Waisenhaus steht. Es war dem Oelberg gegenüber eine halbe Stunde nordwestlich von der Stadtmauer gelegen, eine vollendete Wildniß, wo heute die ausgedehnte Vorstadt Jerusalems steht, kein Hau-, kein Baum, kein Strauch, dagegen auf dem Platze selbst Felsen und Steine, wohin man nur blickte. Das von Scheller'S Gatin eingebrachte Vermögen reicht« auS, daS Grundstück und den Hausbau mit 39 000 Francs zu bezahlen. Schlimme Tage brachen jetzt über di« kühnen Pioniere des Evangeliums herein. Außerhalb der Stadtmauern war ihr Besitzthum fortwährend den Angriffen und Räubereien der Landbewohner ausgesetzt und ihr Leben selbst nicht sicher. Einmal wurde Schneller auf dem Rückwege von der Stadt von Räubern überfallen und seine« Gekde« u^> seiner Kleider entledigt. In seiner Beschwerde an da« königlich preußische Consulat sagt er: „Bis auf« Hemd auSgezogen und am ganzen Leibe mißhandelt, ließen mich die Räuber endlich gehen." Kaum ein halbes Jahr darauf wurde da« Haus bei nächtlicher Weile überfallen, di« Thüren wurden mit der Axt aufgebrochen, und diesmal wäre es Schneller und seiner Familie sicher anS Leben gegangen, wenn der beherzte und energisch« Missionar nicht von seiner Schußwaffe Gebrauch gemacht hätte. Die Lage war zu gefährlich, al« daß Schneller ein weitere» Wohnen vor der Stadt hätte wagen können, und so zog er, vorübergehend wenigsten«, nach Jerusalem hinein. Erst al« sich eine Anzahl Missionare zusammengefunden hatten, bezogen Schneller'« ihr alte« Wohnhaus wieder und blieben von da ab, w«il die feigen Räuber die Fäuste so vieler handfester Deutschen fürchteten, verschont. Auch die große und furchtbare Christenverfolgung de« JahreS 1860 ging ohne Schaden für Schneller und die Seinigen glücklich vorüber; ja diese schaudervolle Katastrophe stellte den vierzigjährigen Mann endlich an die Arbeit, die sein eigentliche« Leben-werk werden sollte. Di« Lhristtnverfolgung hafte auf dem Libanon nnd in Damaskus zu grauenvollen Blutbädern geführt. Mehr als 30 000 Christen wurden dort von den Mohamedanern und Drusen hingemetzelt. Zum Dank für die mehrfache wunderbare Errettung vom scheinbar sicheren Tode entschloß sich Schneller, ein Waisenhaus für di« unglücklichen Hinterbliebenen der syrischen Christen zu eröffnen. Das war freilich leichter gesagt als gethan, da das Sammeln d«r Waisenkinder mit großen Schwierigkeiten verbunden war. Die aller Habe entblößten Flüchtlinge wollten zwar alle möglichen Unterstützungen, nament lich Geld, annehmen, aber lieber miteinander sterben, als di« verwaisten Kinder dem Schnellkr'schen Waisenhause überlassen. Dabei wirkte eine geradezu abergläubische Furcht vor den Protestanten mit, dieser ihnen absolut unbekannten Kirche, von der Viele niemals gehört hatten und die sie gar nicht für christlich hielten. Endlich brachte Schneller doch mit vieler Mühe neun Kinder in sein Waisenhaus, dessen Einweihung damit am 11. November 1860 feierlich vollzogen wurde. Innerhalb des ersten Jahres wuchs die Zahl der Waisen auf 41, weshalb Schneller daran denken mußte, das Unternehmen, das bisher von freundlichen Spenden aus der deutschen Heimath, namentlich aus Württemberg, und aus der Schweiz angewiesen war, auf eigene Füße zu stellen, zumal der Gründer der Anstalt bald einsah, daß seine Aufgabe kaum zur Hälft« gelöst sei, wenn die Zöglinge nur durch die Schule unterrichtet und im 14. oder 15. Lebensjahre nach ihrer Konfirmation oder Taufe entlassen würden. Da« Ziel blieb doch immer, die Waisen zu tüchtigen evangelischen Männern heranzubikdrn, damit sie einmal eine gesicherte Grundlage für eine evangelische Gemeinde und evangelische Kirche im heiligen Lande bilden möchten. Dann aber durfte man die ungefestigten, unerfahrenen Knaben nicht ins Leben hinausstoßen, wo sie eine sichere Beute feindlicher Konfessionen geworden wären, sondern sie mußten im Hause einen Lebensberuf lernen, mit dem sie einmal selbstständig im bürgerlichen Leben dastehen konnten. So wurde denn ein« Reih« von Handwerks stätten eingerichtet. Schneiderei, Schusterei, Tischlerei, Schlosserei wurden zuerst eröffnet, im Lauft der Jahre kamen dann Drechslerei, Töpferei, Ziegelei, Buchdruckerri u. A. dazu, so daß immer größeres Leben, immer reichere Mannigfaltigkeit in das Anstaltsleben kam. Auch eine Blindenanstalt mit Blindenschule, eigener Blindendruckerei und großem Blinden- Jndustriesaal wurde eingerichtet. Die Eröffnung eines kleinen Seminars, aus dem anerkannt tüchtig« eingeborene Lehrer und Geistliche Palästinas hervorgegangen sind, bildete den krönenden Abschluß der Schularbeit, welche im Uebrigen von mehreren Lehern in 8 Classen arabisch und deutsch geleistet wurde. Es vergingen nicht diele Jahre, da war das Syrische Waisen hau« mit seinen 180 Schülern weithin, so weit e« nur evangelisch« Christenheit deutscher Zunge giebt, bekannt. ES war gewachsen zur größten evangelischen Missionsanstalt im heiligen Land«, denn was Schneller sich von vornherein vorgenommen hatte: Mission mit gemeinde bildender Tendenz zu treiben, daS nahte immer mehr seiner Er füllung. Knaben aller Nationalitäten au« dem ganzen Lande, schließlich auch Nichtwaisen, wurden aus genommen, um in etwa 10—15jährigem Aufenthalt bi» in» gereifte Jünglingsalter im Hause zu bleiben und dann mit einem selbstständigen LedenSberufe al» erwachsene evangelische Ge- meindeglitder wieder hinauszuzrehen auf ihre heimathlichrn Berge des jüdischen und galiläischen Landes, hinab ans Mittel meer und hinauf nach Syrien. Als am 11. November 1881 die Anstalt ihr 25 jähriges Jubiläum begehen konnte, da läuteten auf ihrem Thurm die drei Glocken, die Kaiser Wilhelm I. 1881 dem Hause geschenkt hatte, als ein Zeichen der Anerkennung der großen Bedeutung Les Schnellcr'schen Lebenswerkes. Aber die Apostel natur Schneller's, der aus schwerer Krankheit verjüngt und eisenfest erstanden war, ruhte nicht. Ihn schmerzte Eines aufs Tiefste: die einzige Kirche in Jerusalem, welcher ein territorialer Zusammenschluß fehlte, war di« protestantische. Das war aber für die Ein geborenen ein solcher Mangel, daß diese Kirche in ihren Augen gar nicht existirte. So wenig der Oriental« an die Größe einer politischen Macht glaubt, wenn nicht ab und zu einige von Stahl panzern und Kanonen starrend« Kriegsschiffe an seinen Küsten vorfahren, so wenig glaubt er an die Wesenhaftigkeit einer Kirche, die er nicht in einem zusammenhängenden Complex von Gebäuden vor Augen sieht. Schneller mußte oft die Rede hören: „Wo die Griechen, Katholiken, Armenier sind, das sehen wir wohl. Aber wo seid Ihr? Von Euch sieht man nichts, Ihr seid keine Kirche." Da faßte Schneller den kühnen Plan, Abhilfe zu schaffen, das Riesenwerk selbst zu unternehmen und einer künftigen arabisch-evangelischen Gemeinde in Jerusalem oorschauend und vorbereitend Raum zu schaffen und frei zu halten. Das Syrische Waisenhaus sollte den Mittelpunct bilden und in seinen Zöglingen auch die Grmeindeglieder liefern. Um dasselbe her sollten die daselbst erzogenen Männer und Familien sich an siedeln. Um dies Ziel zu erreichen, war der Ankauf be deutender Ländereien nöthig, und Schneller über nahm da« gewaltige Unternehmen auf eigene Kosten und ans eigenes Risico, wozu ihm di« Mittel zum Theil aus dem von ihm betriebenen ausgedehnten Weinbau zuflossen. Unter den denkbar größten Schwierigkeiten gelang es Schneller in jahr zehntelanger Arbeit, einen großen zusammenhängenden Complex von Ländereien um di« Anstalt her zu erwerben, beinahe so groß, wie die Altstadt Jerusalem selbst. Gegen Ende der 80er Jahr« stellt« sich die Nothwendigkeit heraus, daß für di« Sicherung der immer mehr wachsenden MisstonSarbeit d«s Syrischen Waisenhause« «in« Missionsgesell schaft in der abendländischen Heimath zusammentrcten müsse, und bald fand sich ein Curatorium, welch«» Hau» und Anwesen für ein geringes Entgelt übernahm. Schneller dürft« es noch erleben, daß Kaiser Wilhelm II. dem Curatorium die Corpo- rationsrechte mit dem Sitz in Köln a. Rh. ertheilte. Da« Kaiser paar hatte der Anstalt schon wiederholt seine besondere Huld bezeugt, und so war e» für dasselbe nicht» eigentlich Neues und Unbekannte», was es dort vor den Thoren Jerusalems vorfand. Einen aber konnte der Kaiser nicht mehr begrüßen, Schneller selbst. Im September 1896 war der ehrwürdige Patriarch heimgegangrn nach einrm Leben voll Lieb« und Arbeit, die Wetterführung de» Werke» seinem Sohne überlassend, der ihm im Geiste de» Vater» treu und klug vorsteht. Für viele Generationen hinaus ist in Jerusalem Raum geschaffen für eine große evangelische Gemeind«. Das ist Schneller's Werk. Möchte die Gemeinde um sein Syrisches Waisenhaus — der Besuch unsere» Kaiserpaare» wird dazu zweifellos Mithilfen — frisch und fröhlich erblühen und gedeihen, dem deutschen Namen und dem Evangelium zur Ehre! 0. 8.
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