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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 01.10.1896
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1896-10-01
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18961001028
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1896100102
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1896100102
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
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- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1896
- Monat1896-10
- Tag1896-10-01
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Je mehr in Deutschland nicht nur, sondern überall, wo er Fuß gefaßt und die Herrschaft über die katholischen Gewissen gewonnen hat, der UltramontanismuS die ihm durch die Umsturzbewegung gebotene Gelegenheit benutzt, um sich bei den Lenkern der Staaten als feste Stütze von Thron und Altar einzuschmeicheln, und je willigere« Gehör er leider bei vielen Staatsmänner» findet, um so dankenSwerther ist es, daß die in Darmstadt tagende neunte General versammlung deS Evangelischen Bunde« zur Wah rung der deutsch-protestantischen Interessen auch den „UltramontaniSmus in Deutschland" beleuchtet und scharf die Gefahren gekennzeichnet hat, die von dem Orden der „frommen" Väter Jesu nicht nur dem deutschen Protestantismus, sondern auch dem ganzen deutschen Reiche droht. Auch daß gerade der frühere Jesuitenpater Graf P. v. Hoensbroech auSersehen war, diese Gefahren zu beleuchten, ist zu begrüßen. Aber in seinem Vortrage, von dem wir an anderer Stelle einen ausführlichen Auszug bringen, kommt eine Stelle vor, die nicht unwidersprochen bleiben darf, weil sie nur zu sehr geeignet ist, Verwirrung unter den Gegnern des UltramontanismuS hervorzurufen und über die wirksamsten Mittel zu seiner Bekämpfung eine falsche Auf- fassnng zu verbreiten. Graf Hoensbroech sagte nämlich: „Der Culturkampf war einer der größten Fehler, die im Laufe der Zeit gegen den UltramontaniSmus begangen wurden, und jene Männer, die ihn begannen und dann in jo erbärmlicher Weife beendigten, haben eine schwere Schuld aus ihre Gewissen geladen ... Man hat in dem Culturkampfe das religiöse Element getrosten, und das mußte dazu sichren, daß die Erregung, die sich des katho lischen Volkes bemächtigte, sich krystallisirte in einer politischen Partei." Der Redner scheint hiernach nicht zu wissen, daß das Centrum sich bildete, bevor noch von einem Culturkampfe die Rede sein konnte, daß es mit einer hochpolitischen Forderung — Eintreten des jungen Reiches für die welt liche Herrschaft des Papstes — in Wirksamkeit trat und hierdurch, wie durch seine ganze Haltung, o«m preußi schen Staate und dem Reiche den Culturkampf auf zwang. Hätte der Redner von Fehlern gesprochen, die im Culturkampf auch auf staatlicher Seite gemacht worden wären, so würde er auf Widerspruch nicht stoßen. Er setzt sich aber, in dem er den ganzen Culturkampf als einen der schwersten Fehler der Gegner des UltramontanismuS bezeichnet, nicht nur in Gegensatz zur Geschichte und zu dem großen StaalSinanne, den er sonst doch so hoch verehrt, sondern auch gegen sich selbst, da er die Aufrechterhaltung desselbeu Jesuitengesetzes fordert, das eines der wesent lichsten staatlichen Abwehrmittel im Cultur kampf bildet. Wie will er diese Forderung begründen, wenn er den ganzen Culturkampf, wie er von staatlicher Seile geführt wurde, verwirft? Wird nicht von den Gegnern desselben wie von allen sog. Maigesetzen behauptet, daß es das religiöse Element treffe? Sammelt nicht das Centrum seine abbröckelnden Elemente mit Hilfe der angeblich durch das Jesuilengesetz gekränkten katholischen Gefühle aufs Neue unter seiner Fahne? Werben nicht alle Forderungen, die das Centrum auf „Parität", Herrschaft über die Schule u. s. w. erhebt, molivirt mit dem religiösen Gefühle, daS durch Nichtgewäbrung dieser Forderungen gekränkt werde? Der Staat müßte aufhören, sich selbst, den Pro testantismus und den rein religiösen KatholicismuS gegen den Ansturm des UltramontanismuS zu schützen, wenn er schonen wollte, wa« dieser UltramontanismuS in das „religiöse Gefühl" zu schieben klug und jesuitisch genug ist. Ja Herr Graf von Hoensbroech und der ganze Evangelische Bund müßten d,e Waffen strecken, wenn die des Culturkampfes da« Gezentheil ihres Zwecke« hervor bringen müßten. Er nenne uns dir „geistige Waffe", di« sich im Kampfe gegen den UltramontanismuS schwingen läßt, ohne von den schlauen Gegnern zu Waffen gegen die „katho lische Religion" ungestempelt zu werden! Mit solchen Vor würfen gegen das Culturkampfgesetz kann daher nichts Auderes als Verwirrung angerichtet werden, und wir bedauern lebhaft, daß in Darmstadt kein Redner sich gefunden hat, der dem Grafen v. Hoensbroech entgegentrat. Zu den „freundlichen" Rathgeberu, die den morgen in Berlin zusammentreffenden nattonalliberalcn Lclcgtrten weise Ermahnungen geben, wie sie sich verhalten sollen, gesellen sich nach dem Vorgänge des Herrn vr. Bam berger auch andere Stimmen auS der kleinen Gruppe der Secessionisten. Wie man es von dieser Seile gewöhnt ist, kleiden sich die Ratbschläge in das Gewand des Borwurfs, und al« schwerster Fehler wirb den National liberalen angerechnet, daß sieFreihe it in wirthschaftlichen Fragen proclamiren. Merkwürdig! Als die Secessionisten noch nationalliberal waren, proclamirten sie diese Freiheit ebenfalls. In der wichtigsten wirthschaftlichen Frage der letzten 20 Jahre, der Verstaatlich»» aber preußischen Eisenbahnen, war es die Gruppe um Rickert, welche gegen die Verstaatlichung und damit gegen das GroS der Fraktion stimmte; aber daraus hat sie keine Trennung hergeleitet, sie blieb ruhig in der Fraction. Auch als die Secessionisten eine eigene Fraction gebildet hatten und sich auf dem Höhepunct ihrer Entwickelung befanden, proclamirten sie immer dieselbe Freiheit. Um nur ein Beispiel anzuführen. Al« die Negierung im August 1883 Indemnität für vorläufige Einführung der Bestimmungen des Handelsvertrages mit Spanien vom Reichstag verlangte, fand sich die Fraction in keiner Weise in ihren Grundsätzen beschwert, als vier ihrer hervor ragendsten Mitglieder (Baumbach-Meiningen, Lipke, Or. Dohrn und vr Knapp) allno gegen diese Indemnität stimmten^ Hat die Fraction seitdem solche Freiheitsäußerungen beschnitten, so liegt vielleicht darin daS Geheimniß ihres „Erfolges". Die Beschneidung war vielleicht auch eine leickte. Wenige Personen können sich nicht leicht in mehrere Interessen gruppen spalten und somit bleibt die Gefahr eines AuS- einanberfallenS dieser Fraction dem Reiche erspart. Den Nationalliberalen würde eine solche Gefahr droben, freilich zu Gunsten der Secession, deren in die Form eines Vorwurfs gekleideter „freundlicher" Rath also eia lediglich egoistischer ist. Und dazu kommen die nationalliberalen Deleginen doch nicht zusammen, um die Geschäfte der Secessionisten zu besorgen. Bryaa, der Caavidat der Silberdemokraten in deu Vereiaigten Staaten von Nordamerika, sucht das Schreiben des Fürsten Bismarck an den Gouverneur von Texa« marktschreierisch und unter Verdrehung de« Inhalts desselben für sich namentlich bei den Deutsch- Amerikanern zu verwerthen. In seinem Briefe an den deutsch-amerikanischen Club in Chicago schreibt er: „Mein Vertrauen zu der Urthellskraft der Deutsch-Amerikaner führt mich zu der Ueberzeugung, daß sie die festesten Pfeiler des Bimetallismus sein werden. Mein Vertrauen zu ihrer Vaterlands liebe verleiht mir die Gewißheit, daß sie für eine unabhängige Finanzpolitik der Bereinigten Staaten sein werden. Die hohe Stellung de- Fürsten Bismarck im deutschen Volke und die Achtung, welche seinen Ansichten auf der ganzen Welt gezollt wird, verleihen seinen Worten großes Gewicht. Wenn die Gold- Währung für Deutschland rin Segen gewesen wäre, würde er ncker- lich nicht wünschen, daß sein Vaterland sie oufgäbe und den Bime- tallismus acceptire. Der Gedanke ist beschämend, daß amerikanische Bürger daran zweifeln, daß die Bereinigten Staaten selbstständig gesetzgeberisch vorgehen können, wenn Staatsmänner, wie Fürst Bis marck, unserem Lande die Macht zuschreiben, die Führerrollr bei der Wiederherstellung des Bimetallismus zu übernehmen. Diese« Zeugniß des Fürsten Bismarck, daß die Goldwährung Deutschland nicht gut getban hat, gilt gleicherweise von jedem anderen Lande, welches die Goldwährung versucht hat." Bekanntlich bat Fürst ÄiSmarck in seinem Schreiben den Vereinigten Staaten keineswegs Vie Macht zugeschriebe», die Führerrolle bei der Wiederherstellung des Bimetallismus zu übernehmen, sondern er hat den dortigen Silberfreunden an- beimgestellt, sich darüber klar zu machen, ob sie ihrem Vater lande diese Macht zutrauen. In dem Bismarck'schen Schreiben steht auch nicht zu lesen, daß die Goldwährung Deutschland nicht gutgethan, sondern daß er seine eigene Neigung der Meinung der Sachverständigen untergeordnet habe. Von dem Fanatismus der Silberleute des Westens zeigt die Thatsache, daß sie in Brinton in Mickigan die amerikanische Flagge im Koth herumschleifte» und sie dann in Stücke zerrissen. Wenn der Lage in Konstantinopel auch noch keineswegs zu trauen ist, so sieht man oieselbe, für den Augenblick wenigstens, etwas beruhigter au, wie aus den folgenden Meldungen hervorgebt: * Wie», 30. September. Der „Politischen Correspoudenz" wird aus Rom gemeldet, verläßliche, dort aus Konstantinopel ein getroffene Berichte stellten eine Besserung der politischen Lage in der Türkei fest; die leitenden türkischen Kreise schienen entschlossen, das Mögliche zur Berubigung der aufgeregten Gemüther beizutragen. Die unter dem Vorsitze Schakir Paschas tagende Commission habe, türkischer Quelle zufolge, bisher 580 Armenier aus der Haft entlassen. * Berlin» 30. September. Der Konstantinopeler Korre spondent des „B. L-A." hatte in Therapia eine längere Unter redung mit dem deutschen Botschafter. Freiherr v. Saurma- Jelisch erklärte, keinerlei Besorgnisse für die nächste Zu- kunft zu haben. Er halte eine Wiederholung der Excesse von Leiter der Türken für ausgeschlossen. (?) Fermer theilte er mit, der Sultan habe auf des Botschafters entschiedenes Verlangen sein kaiierliches Wort gegeben, bei etwaigen künftigen Unruhen nur Polizei und regulaires Milttair eiuschreiteu zu lassen, jede Verwendung bewaffneter Volksmassen oder soge nannter Knüttelmänner aber auszuschlicßen und streng zu verbieten. Damit sei eine genügende Garantie geschaffen. — An das Eintreffen einer für den 30. September angekündigten neuen armenischen Meuterei glaubt der Botschafter nicht. Die Einigkeit der Bolichaster — führte der Freiherr weiter auS — sei vollkommen, aber sie hingen selbst von ihren Eabineten ab. Die Einführung der beschlossenen Reformen geschähe gewiß, aber nur langsam, da eS an geschulten Beamten mangelt. Irgend welche Gefahren für die hiesigen Europäer, besonder» für deutsche, existiren nicht. In Klein asien ist es völlig ruhig. ES wäre mit Freuden zu begrüßen, wenn diese Auffassung sich bestätigte. Ist eS wahr, daß die verhafteten Gemüther zum großen Tbeil in Freiheit gesetzt sind, so wird dieser Act der Gerechtigkeit gewiß beruhigend auf die erregten Armenier wirken. Von nicht minderem Belang ist die folgende Nachricht: * Der „Frankfurter Zeitung" wird au» Konstantinopel, 30. September, gemeldet, der Sultan habe gestern eine sogenannte internationale Commission ernannt, welcher 2 Franzosen, 2 Engländer, 1 Ungar und der Deutsche Kamphoevner Pascha an gehören. Die Commission solle die Ursache der letzten Massacres untersuchen und einen Bericht darüber unterbreiten. Die Einsetzung eines internationalen Gerichtshofes ist bekanntlich zuerst von den „Hamb. Nachr." angeregt worden und es steht zu hoffen, daß eine unparteiische Untersuchung einige, wenn auch nickt volle, Klarheit über die Schuld an den letzten blutigen Vorgängen in Konstantinopel bringen und so deui jetzt noch sehr getbeilten Unheil der öffentlichen Meinung in Europa Halbwegs sichere Direktiven geben wird. Anscheinend ist der Entschluß des Sultans, wenigstens etwas zur allgemeinen Berubigung und zur Besserung der Lage zu tbun, in erster Linie darauf zurückzuführen, daß die deutsche Regierung, welche am Goldnen Horn mit Recht als un voreingenommen und völlig objectiv in ihrem Unheil gilt, sich den ernsten Vorstellungen der übrigen, durchweg in bobem Grade interessirten Mächte mit allem Nachdruck angescklosscn )at. Wie großen Respect der Sultan der Leitung unserer auswärtigen Politik und dem Träger der deutschen Kaiser krone zollt, zeigt die folgende, schon in einem Theil unseres heutigen Morgenblattes enthaltene Meldung: 8. L Berlin, 30. September. Der „Frankfurter Zeitung" wird aus Konstantinopel berichtet: General Grumbkow Pascha hatte mit dem Sultan eine längere Unterredung, in welcher der letztere wiederholt seine Anerkennung über die Haltung der deut schen Regierung gegenüber den Vorfällen in der Türkei aus drückte. Von hoher Seite wird versichert, ein Handschreiben des Sultans, welches Grumbkow dem Kaiser Wilhelm über bringt, betone besonders, daß die unglückseligen Ereignisse keineswegs derAusbruch von religiösem Fanatismus (?) gewesen ieien. DerSultan habe dem Kaiser sein Wort verpfändet, daß das Leben keines Christen gefährdet sei. Der Sultan werde allen Christen, soweit sie nicht anarchistische Thaten vollbringen, seinen kaiserlichen Schutz gewähren. Auf der türkische» Botschaft in Berlin war zwar bis vor Kurzem noch nicht« davon bekannt, daß Grumbkow Pascha mit einem Schreiben des Sultans an den Kaiser nach Berlin gereist sei, das schließt aber keineswegs auS, daß daS Schreiben thatsächlich existirt und Grumbkow mit der Ueber- reichung betraut ist. Liegt es doch nach der Uebersendung de« kaiserlichen Geschenkes an den Großherrn und der Versicherung Kaiser Wilhelm's, daß die drei Mächte Deutsch land, Oesterreich und Rußland keinerlei persönliche Animosität gegen denselben hegten, ohnehin sehr nabe, daß ein Dank schreiben von Konstantinopel nack Berlin abgegangen oder im Begriffe ist, abzugebrn. Von Bedeutung ist eS, : s Sultan entschlossen scheint, nicht mehr die Meute des fanati- sirten türkischen Pöbels auf die Aufständischen loszulassen, denn nur durch das blinde Wütben jener „Knüttelmanner" konnte eS geschehen, daß die Bestrafung der schuldigen Armenier in eiu neues, daS Entsetzen Europas erregendes Blutbad auSartete, nur dieser Lynchjustiz in des Wortes furcht barster Bedeutung ist die Besorgniß zuzuschreiben, daß daS Leben der Europäer in der Türkei ebenso unsicher sei wie das der aufständischen Christen und daß ein Massacre unter diesen zur Intervention eine der Groß mächte mit möglicherweise unberechenbaren Folgen führen könne. Auf einem andern Blatt freilich steht die Frage, ob der Sultan auch noch die Macht besitzt, seinen Befehlen Achtung zu verschaffen, ob er wirklich sein Wort, tein Christ solle gefährdet sein, wird einlösen können. Dies wird vielfach bezweifelt, und in Briefen vom Bosporus wird der Ueberzeugung glaubhafter Ausdruck gegeben, daß man augenblicklich weniger Gewalttbaten auf Seiten der Revolution»!« als der Mohamedaner befürchte, und diese Befürchtung wird damit begründet, daß seit zwei Jahren, seit die verschiedenen Truppenaufgebote gegen die Aufständischen in Anatolien, Makedonien, Syrien und Kreta mindestens 800 000 türkische Frauen und Kinder des Ernährers beraubt haben, dem Unglück und dem Hunger preisgegeben und die Truppen Fatirllatoir. Die Schuld -es Fürsten Romanskoi. 3s Roman von Conr. Fischer-Sallstein. Nachdruck verbot«». Draußen an der Thür tastete irgend eine unbeholfene Hand an der Klinke herum. JaSmorin wurde aufmerksam, trat auf die Thür zu, öffnete selbst und stand nun einem herrschaftlichen Diener gegenüber. Der Mann trug einen langen schwarzen Bart, Helle Livrse mit blitzenden gelben Knöpfen, und unter den buschigen Augenbrauen blinzelten ein paar kleine schlaue Augen hervor. Die fünf Treppen schienen dem Manne sehr zugesetzt zu haben, denn er war athemloS. „Der Teufel", sagte sich Michael Jasmorin und öffnete die Thür so weit als dies nur immer möglich war, „die Offerte!" „Wohnt hier der Student Michael Jasmorin?" „Der bin ich selber. WaS bringen Sie, Alterchen?" „Du bist es also selber", versetzte dieser und warf einen scheuen Blick rückwärts inS Treppenhaus, wie kann man so hoch wohnen! Im Sommer bringt Dich die Hitze und im Winter die Kälte um. Sollte e» aber einmal im Hause brennen, dann bist Du eine verbrannte Seele, so wahr ich Krischa Fibinitineffkoff bin." „Du siehst, Väterchen, ich lebe noch und gedenke eS auch noch so eine gehörige Wciie fortzutreiben. Loch tretet ein, fall« Ihr wirklich den Studenten JaSmoria sucht und Ihr Euch nicht in der Adresse geirrt habt." „Der Hausmann muß e« doch wissen, und Du sagst e« selber, wie kann ich mich da irren?" Er trat hier mit seinen mächtigen Stiefeln auS Juchten leder, die einen strengen Geruch verbreitete», in die Stube hinein. Er fand dort einen Stuhl und setzte sich sofort darauf nieder. „Ich komme von der Frau Gräfin Stroganowna, Darja Alexandrowa«." Er murmelte die Worte so undeutlich in den Bart, daß JaSmorin ibn ckaum verstehen konnte. Wer ist dem, da«?" Der Alte »lickte den jungen Mann mit einem durch bohrenden Blick an, nahm dann die Mütze vom Kopf und wischte sich die dicken Schweißtropfen von der Stirn. „Ein Glück, daß daS Darja Alexandrowna nicht gebärt hat, sie würde Dich tausend Werst weit verbannen! Wer das ist? Giebt eS denn wirklich einen einzigen Menschen im ganzen Reich deS Zaren, der nicht wüßte, wer Darja Alexandrowna Stroganowna ist? Und Du willst ein Student sein? Möchte nur wissen, WaS Du gelernt hast!" „Höre mal, Krischa Fibinitineffkoff, Du bist grob!" „Nein, Du bist grob! Erstens wohnst Du fünf Treppen hock, soll daS höflich sein? Und dann fragst Du — wer ist denn da«? Hast Du nicht so gefragt? Ich habe das deutlich gehört, mir streitest Du daS nicht ab!" „Da- fällt mir ja auch gar nicht eia! Wollen Sie nun zur Sache kommen?" „Zu waS für einer Sache", fuhr der Alte hitzig auf. „was thue ich bei Deinen Sachen? Mit mir sollst Du kommen, Michael JaSmorin! Der Wagen steht vor der Thür. Die Herrin wartet, wir haben keine Zeit. Bei der heiligen Mutter von Kasan, ich wollte, ich wäre erst die vielen Treppen schon hinunter geklettert!" „Ick komme mit", entschied sich Michael JaSmorin, „eS handelt sich um daS Inserat, da« ist keine Frage!" In der fröhlichsten Stimmung von der Welt, überzeugt, daß dieser seltsame raubprlrige Alte ihm schließlich dock eine gute Nachricht inS Hau« gebracht, griff er nach Stock und Hut und stand nun bereit, sich von Krischa zu der ehrbaren Darja Alexandrowna Stroganowna eScortiren zu lassen. Di« Thatsache, daß die Dam« ihm einen Wagen schickte, machte auf ihn einen recht guten Eindruck und schon begann er darüber nachzudenken, wer ihn etwa bei seiner Bewerbung um die Stelle al« Vorleser protegirt heben könnte? Der Diener hatte sich ebenfalls erhoben und stolperte nun mit der Unbeholfenheit eines Bären au« der bescheidenen Stube hinaus. Er war auf einmal sehr wortkarg geworden und benahm sich wie ein Mensch seine« Schlages, der soeben beleidigt worden ist. JaSmorin hatte keine Lust, eine weitere Frage an den seltsamen Heiligen zu stellen, sondern eilte leichtfüßig ihm voran, die Treppen hinab. Al- er auf die Straße kam, sah er rin herrschaftliche- Dreigespann stehen, da« der HauSmann unter seine Hüterschaft genommen hatte. „Nun, Michael Ja-morin", rief dieser dem Studenten zu, „hat sich da« nicht großartig gemacht? Mit dem Wagen werden Sie abgeholt! DaS hab« ich schon vor zwei Tagen gewußt. Sie erhalten monatlich sechzig Rubel, daS ist ein Wort." „Wie meinen Sie das, mein bester Samoschin?" DaS kugelrunde, gutmüthige Gesicht des HauSmanneS begann nun zu glänzen, wie mit Oel lackirt. „Es wurde bei uns über den Studenten Michael Jas morin nachgefragt. Verstehen Sie, zuerst bei mir, dann bei dem Herrn StaatSratb und es ging ein Schreiben ab, hinaus nach der Villa der Frau Gräfin Stroganowna auf Kre stowsky. Wenn dieser Brief nicht abgegangen wäre, dann stände jetzt diese Kutsche nicht ha, das sage ich Ihnen! Aber daS schadet nichts, junge Leute müssen Glück haben." „Ich bin froh, daß offenbar nichts Schlechtes über mich zu berichten war", versetzte JaSmorin und drückte dem Haus mann ein paar Kopeken in die Hand, „ich war indessen noch niemals auf der Insel Krestowsky, ist eS weit?" „Wenn der Kutscher länger fährt als eine halbe Stunde, dann verdient er die Knute! Sie kreuzen die Gorosckowaja- straße, dann eine Strecke den Wosnessenskij hinab —" „ES ist yut, mein Lieber", unterbrach ihn JaSmorin und wandte sich an den ärgerlichen Krischa, der nun endlich ebenfalls die fünf Treppen überwunden und auf da« Trot toir herauStrat. Da Michael Jasmorin nun Bescheid wußte, so stieg er kurzer Hand, ohne sich weiter um den Alten zu bekümmern, in den Wagen und machte eS sich dort bequem. Er nahm sich zugleich vor, bei der ersten Gelegenheit dem Herrn Staats rath Orkieneff seinen Dank zu sagen. Der Kutscher stieg nun auf den Bock, man hörte noch daS vergnügte Lachen deS HauSmannS und dann raste da« Drei gespann davon. Nach einer halbstündigen Fahrt, während welcher da« Dreigespann sich glatt wie ein Aal durch eine wahre Unmasse von Fuhrwerken aller Art hindurchwand, durch Bogengänge jagte, über Brücken donnerte, langte da« Gefährt an der be kannten Villa der Gräfin Stroganowna an. Erst in dem Augenblick, al- der Wagen hielt, beschlich ein gewisse- Be- sangensein den Studenten, gegen da« er sich aber sofort aus- raffte und rasch au« dem Wagen sprang. Ei» scharfer Wind pfiff vom Meer herüber, der den jungen Linden, mit denen die Billenstraße geziert war, die letzten Blätter raubte. Es war bereit« recht kühl hier auf der Insel Krestowsky, etwa» vom kommenden Winter lag schon in der Luft. Mit der Peitsche deutete Krischa, das Original eines russischen herrschaftlichen Kutscher«, nach dem offenstehrndrn Gittertbor, vor dem Michael Jasmorin stand und durch das er offenbar da« Dreigespann zu lenken hatte. „Dort hinein, hast Du mich verstanden?" rief Krischa Fibinitineffkoff vom Kutscherbock herunter, auf dem er wie ein Klumpen Fleisch saß, dem zögernden jungen Mann zu, „melde Dich bei Natascha Mekelaj. Gehe mir aber nickt über die Freitreppe, sondern hinten herum. Auf der Frei treppe hat kein Mensch etwas zu suchen!" Die brutale Grobheit des Kerls da auf dem Bock reizte nun doch den Unmuth Jasmorin'«, und schon wandelte ibn die Lust an, den Grobian gehörig zurechtzuweisen. Aber mit einem Streit mochte er nicht in das Sommerhaus der Gräfin seinen Einzug halten, und so verbiß er seinen Aerger und ging auf dem mit welken Blättern bestreuten Weg an dem herbstlich gestimmten Vorgarten vorüber, bewunderte das fürstliche Villengebäude und kam alsbald in einen Hof raum, der mit Stallungen und Wirtschaftsgebäuden um schlossen war. Viel dienende Leute hantirten hier auf dem Hofe, aber Niemand kümmerte sich um ibn. JaSmorin sah alsbald ein, daß er sich den Weg zur Natascha Mekelaj allein jucken müsse und so schritt er ohne Zögern auf den breiten Ein gang zu, der von hier in die Villa führte. Im Flur begegnete ihm rin Diner in Livrse, dem er seine Karte auSbändigte. Dieser führte ihn sofort in ein angenehm durchwärmtes, mit vielen blühenden Topfblumen geschmücktes Gemach. „Setzen Sie sich mein Herr, Natascha Mekelaj bat mir schon gesagt, daß eiu Student kommen würde, ich werde so fort die Wirtbschafterin rufen." Aba, sagte sich Michael Jasmorin und setzte sich auf einen Rohrsessel, der von einer riesigen Fächerpalme beschattet wurde, diese Dame ist jedenfalls der vielvcrmözende Geist des HauseS, von der eS abhängen wird, ob ich da- Angesicht der Gräfin sehen werde oder nicht. Die Gräfin stellte sich dabei der phantasiebegabte junge Mann al« eine in einen kostbaren Pelz von unschätzbarem Werth gehüllte hinreißende Schönheit dar. Sein Blut gerietb in Wallung, er wurde unruhig und be fangen bei dem Gedanken, Stunden hindurch in ihrer Nähe sitzen zu müssen, um Liebesromane vorznlesen. Er versank so tief in diese Betrachtungen, daß er r« gar nicht bemerkte, daß eine sehr dicke Dame hinter den Topf gewächsen am unteren Ente bervorkam und ibn mit großem Interesse fixirte.
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