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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 10.10.1896
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1896-10-10
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18961010013
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1896101001
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1896101001
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
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- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1896
- Monat1896-10
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Kaltem LO^z, vor den Familiennachrichte, (6 gespalten) 40^. vrößerr Schriften laut unserem PreiS- derzeichniß. Tabellarischer und Ziffernsatz »ach HSHereM Tarif. Extra-veilaffen (gefalzt), «ar mit da Morgen-vu«gabr, ohne Postbeförderuug All.—, mit Postbeförderung 70.—. Ännahmeschluß für Anzeige«: Abend-An-gabr: vormittag« 10 Uhr. Morgen.Ausgabe: Nachmittag« 4 Uhr. Lei den Filialen und Annahmestellen je eia» halbe Stunde früher. Anzeige« sind stet« an di» Erpedttta» zu richten. Druck nnd Betlaq von E. Bolz!n Leivzlg Sv. Jahrgang. Sonnabend den 10. October 1896. 517 Die Zarentage in Paris. VI. v. Paris, 8.Oktober Vorm. Der„Gaulois"unddie „Autorit^" haben keine Ursache, zu triumphiren: Paris ist doch noch nicht reif für die Monarchie. Die Ereignisse deS gestrigen Tages haben eS bewiesen. Als das Zarenpaaar gestern Vormittag mit kleinem Gefolge zur Notre-Dame, zum Pantheon und zu den Invaliden fuhr, machten die Straßen einen fast trübseligen Ein druck. Die Tribünen, die man in verschiedenen Gärten desBoule- vard Montparnasse erbaut hatte, waren beinahe leer, an jedem Fenster standen kaum zwei oder drei Menschen, und die Vermiether von Stühlen und Leitern konnten die Preise noch so sehr herabsetzen, sie fanden keine Abnehmer. Um über einen oder höchstens zwei Vordermänner hinwegzuseben, dazu brauchte man keine Stühle. Der Beherrscher des be freundeten Volkes, der mit glänzendem Gefolge seinen Einzug bielt, wurde begeistert begrüßt, der einfache Gast, der sich Paris ansah, war den Leuten ziemlich gleichgiltig. Die Hoch rufe, die ihm ertönten, klangen kaum lauter als die, die jedem einfachen russischen Officier zngerufen wurden. Zar Nicolaus hat die Franzosen überhaupt ziemlich ent täuscht. Man wußte, daß der bleiche schlanke Mann in nichts an seinen Vater, den nordischen Riesen, erinnert, der im Bewußtsein des französischen Volkes wie eine Art Märchenkaiser fortlebt. Und dennoch hatte man etwas Anderes erwartet. „Der Zar?" so hörte ich gestern einen Mann aus dem Volke sagen, „hm! . . . Aber die Zarin!" Es ist merkwürdig, wie rasch die hohe Frau sich hier alle Herzen erobert hat. DaS Leben auf den Straßen näherte sich gestern früh wieder seinem gewöhnlichen Aussehen. Viele Läden waren wieder geöffnet; die Omnibusse verkehrten sogar ziemlich regelmäßig. Um so empfindlicher machten sich die Ab sperrungsmaßregeln des Nachmittags bemerkbar. Ich habe recht wenig schmcichclhaste Reden über Herrn Lspine, den Polizei- Präfectcn, gehört. MtM'fvKte meinen, »s hätte genügt,'während der Grundsteinlegung den Weg bis zum Institute und dann während der Akademicsitzung den übrigen Tbeil abzusperren. Allein bereits um 3 Ubr war der ganze Weg von der Zn- validenbrücke bis zum Rathhaus von Soldaten besetzt, die Niemanden durchließen, aller Verkehr also auf einige ab gelegene Brücken beschränkt, die sonst fast gar nicht in Be tracht kommen. Einer meiner Freunde hat zu dem zwanzig Minuten langen Wege bis zu seinem Geschäft volle zwei Stunden gebraucht. Allerdings war die Ordnung beispiellos schwer aufrecht zu erhalten, schwerer vielleicht noch, als am Morgen des Ein- zugötageS. Dort batten die Massen ans den EhamPS Elysses und den großen Plätzen genügenden Raum zur Ausdehnung, hier waren sie in wenige Straßen und Straßenzugänge zu sammengepfercht. Aber das Bild dieser Häuser, die nur aus Menschenleibern und Fahnentüchern zusammengesetzt zu sein schienen, war gerade darum ungemem malerisch. Die Dekoration der Rue de Rivoli und deS Hotel de Ville hatte über Nacht überhaupt ein ganz anderes Aussehen gewonnen. UebrigenS wurde die schönste Wirkung doch auch hier erst wieder erreicht, als die Lampions und Glühlampen ange- zündet wurden. ES muß für das Zarcnpaar ein unbeschreib- lick herrlicher Anblick gewesen sein, als sie durch die Ehren pforte des Rathhauses wieder ins Freie traten. Von der Grundsteinlegung babe ich nichts gesehen. Hier hieß es Eine« oder das Ändere. Zu den wenigen Glück lichen, die den riesigen, durch Zäune eingeschlossene» Raum betreten durften, gehörte ich nicht; und von den Brücken und Ufern aus war nicht eben viel zu sehen. Bedauert aber habe ich es lebhaft, daß ich nickt mit dabei sein konnte. Die Idee, das Fest auf beide Seine-Ufer zu verlegen, war an und für sich ungemein reizvoll. Schon am Tage vorher machten sich die ungeheuren, roth ausgeschlagenen Tribünen zwischen den vier riesigen, reich geschmückten Pfeilern famos. Besonders lieblich muß der Anblick gewesen sein,^alS die sechzehn weiß gekleideten Jungfrauen auf leichtem Floß den Strom über schritten, um der Kaiserin die silberne Blumenvase zu über reichen. Der Abend war ven eigentlichen Volksbelustigungen gewidmet. Für die großen Massen bedeutete er wohl den Gipfelpunkt des Festes. Den Abend vorher waren die Meisten durch das lange Warten am Morgen und das Feuerwerk doch zu müde geworden, um noch zu tanzen. Jetzt tobte man sich richtig aus. Es war außerordentlich schwer, sich überall durchzuwinden, aber ich habe doch genug gesehen, um einen Gesammteindruck zu erhalten. Um einen Begriff zu geben, will ich nur sagen, daß ich allein auf dem Börsenplätze ein halbes Dutzend von Musikcorps gezählt habe, um die sich unermüdlich tanzende Paare schwangen. Auf den Boulevards herrschte ein Leben und Treiben, wie ich es nur zu Fastnackt ähnlich beobachtet habe. Für Bänkelsänger, Komiker und „Camelots" war die eigent liche Stunde gekommen. Einen Jungen, der auf der Violine die russische Hymne übrigens recht hübsch geigte, sah ich binnen zehn Minuten über fünf Franken einnebmen. Alle Welt schrieb Postkarten mit Ansichten: „10 Centimes für Frankreich und Ausland", ohne Brief marken natürlich. Von den Festartikeln fand, glaube ich, die Grandduchesfe Olga, jedenfalls das Bild eines ganz be liebigen Babys, den reißendsten Abgang. Aber alle Stunden kommen neue Sachen, die den alten den Rang streitig machen. Den meisten Spaß haben uns Deutschen bis jetzt zwei Pappsiguren gemacht, die, gravitätisch einander gegenüberstehend, sich die Hände zum Bunde reichen; der Zar und Felix Faure natürlich. Zieht man an einem Drahte, so verneigen sie sich so tief, daß sie beinahe mit den Köpfen aueinanderrennen. Wo anders hätte man vielleicht einen solchen Scherz ziemlich schief aufgefaßt, aber die Franzosen amüsiren sich köstlich darüber. Heule sind durchscheinende Musterkarten daS Neueste mit dem gedruckten Namen des Zaren. Hält man sie gegen bas Licht, so erscheint der geschriebene Namenszug; russisch oder französisch, ganz nach Wunsch ... Ich komme soeben von den ChampS ElysßeS; der Zar hat Paris Nachmittags verlassen. Es war vielleicht ein Mißgriff, ihn durch dieselbe Triumphstraße von dannen ziehen zu lassen, durch die er gekommen war. Der Vergleich, der sich Einem unwillkürlich ausdrängt, siel sehr zu Ungunsten des Abschiedes aus. Allerdings glaube ich nicht zu hoch zu greisen, wenn ich die Zahl der versammelten Menschen auf 100—150 000 schätze, aber was will das heißen gegen vor gestern! Gegen die Bäume und Dächer schienen die Gassen jungen eine wahre Abneigung zu besitzen, und auch die Statuen der Städte ließ man ganz verschont. Die bunten Laternen an den Bäumen sahen ziemlich trübselig aus, die Fahnen und Wappen batten auck schon etwas von ibrem ursprüng lichen Glanze eingebüßt. Aber wenn die bohen Gäste darüber hinwegsahen, konnten sie mit dem Abschiedsgruß wobl zufrieden sein. Hunderttausend Getreue in einer Stadt, die ibre tägliche Arbeit bereits wieder ausgenommen hat, das ist nichts Kleines. Und sie waren nur des Zarenpaares wegen gekommen; denn von dem Gepränge des Einzuges war nichts zu sehen. Jedenfalls waren es mehr, als ich nach den gestrigen Eindrücken erwartet hatte. 6 Ubr Abends. Die Stadt beginnt ruhiger zu werden, das Leben kehrt in seine alten Gleise zurück. Aus den Bahnhöfen herrscht dagegen ein riesiges Treiben. Hunderttausende warten auf" die Züge, die sie der Heimath wieder zufübren sollen. Sie haben genug gesehen. Für die, welche mit zur Parade wollen, wird die Anstrengung ungeheuer werden. Die Extrazüge geben näm lich bereits um Mitternacht von hier ab. Viel Leben ist auch noch in der Nähe des Rathhauses; sind doch dessen Innenräume heute den ganzen Tag dem Publicum geöffnet, in demselben Schmuck und derselben Beleuchtung wie gestern beim Empfang des Zaren. Die Ausschmückung ist in ver Thal wundervoll. Nur wer eine besondere Karte hat, wird durch einen Neben eingang hineingelassen. Die klebrigen müssen Queue bilden. Ich schätzte die Zahl der Wartenden auf vier- bis fünftausend. Da etwa aller fünf Minuten ein Trupp von hundert Mann bineingehen darf, kann man sich vorstellen, wie viel Ausdauer die Wartenden besitzen müssen. Die Einzelbilder der Festtage werden sich vielleicht bald verwischen, aber die Erinnerung an das Volksfest wird haften, unauslöschlich basten auch bei uns Deutschen. Denn wieviel Albernheiten und Dummheiten auck>mik untergelaufcn sind, das Volk bat sich weit würdiger benommen, als wir Alle erwartet hatten. Das Zarenpaar in Frankreich. * Paris, 8. October. Der bereit« gemeldete Unfall wurde nicht durch den kaiserlichen Zug selbst, sondern dadurch hervorgerufen, daß bei dessen Einfahrt in den Schloßhof die Pferde der Equipage de« Finanzministers, die im Hose hielt, scheu wurden, in die Menge hinrinstürzten und eine ganze Reihe Zuschauer niedertraten. Es herrschte eine große Panik. Das Zarenpaar befahl, daß ihr Wagen langsamer fahre, und be- trachtete die Unfallstätte mit lebhafter Bewegung. Sieben Personen wurden verwundet, fünf davon schwer. Eine Dame erlitt einen Beinbruch, eine andere Bruch de» Stirnknochens, der Frau eines Capitains wurde ein Auge ausgetreten und zahlreiche Personen erlitten Quetschungen. Die scheuen Pferde wurden durch einen Journalisten gebändigt, der ihnen muthig in die Zügel fiel. Der Kutscher der Equipage des Finanzministers wurde verhaftet, weil der Unfall wahrscheinlich durch seine Fahrlässigkeit verschuldet wurde. Heute Morgen wurden drei Italiener verhaftet, die, wie man beobachtet haben will, verdächtiger Weise dem Wagen des Zaren folgten. — Der Stadtrath von Paris hatte außer den vielen sonstigen Huldigungen, wie die täglich sich wiederholenden Blumenspenden für die Kaiserin — die letzte des Pariser Gemeinde- raths prangte heute auf der Postkalesche nach Versailles —, dem Kaiser eine besondere Freude bereiten wollen, freilich im Geschmack der rothen Herren; die Rue du 4 Septembre, durch die der Kaiser fahren sollte — die er ober nicht berührte —, war mit Bäumen bepflanzt worden, die aus dem„Bogesenloche" herbeigeschafft waren. * Versailles, 8. October. (Ausführlichere Meldung.) Die Bevölkerung befand sich den ganzen Abend in Feststimmung; die Stadt war ungemein belebt. Soldaten durchzogen die Straßen und sangen die russische Hymne. Das dem russischen Kaiserpaar gegebene Concert verlief ausgezeichnet; Sarah Bernhard recitirte ein von Sully-Prudhomme verfaßtes Gedicht; die Damen Telma und Puyere sangen ein Duett aus einer komischen Oper, Coquelin unterhielt die Zuhörer durch seine Vorträge, Telmas trug eine Opern-Arie vor und die besten Sängerinnen der Oper wirkten bei der Aufführung der alten Tänze mit. Beim Ver lassen des Schlosses verabschiedete daS russische Kaiserpaar sich in liebenswürdiger Weise von Madame Faure. Der Kaiser drückte dem Präsidenten Faure in warmen Worten seine Bewunderung auS über die Aufrechterhaltung der Ordnung trotz deS außerordentlichen Menschenzuflusses und über die gute Haltung der Bevölkerung, deren Zurufe ihn tief gerührt hätten; schließlich bat der Kaiser den Präsi denten, dem Polizeipräfecten seine Anerkennung aus zudrücken. Während des Abends ließen der Kaiser und Faure sich wiederholt nach dem Befinden der drei bei dem Unfall während der Anfahrt schwer Verwundeten erkundigen. Aus dem Bahnhofssteig verabschiedete Präsident Faure sich von dem Kaiserpaare. Ter Kaiser drückte Faure herzlich die Hand, Letzterer küßte der Kaiserin die Hand. Das Herrscherpaar bestieg hierauf, von Admiral Gervais ge- folgt, den Zug. Die Musik spielte die beiden Hymnen. Der Kaiser, entblößten Hauptes, und die Kaiserin blieben bis zum letzten Augenblicke an der Thüre des Wagens; als der Zug sich in Bewegung setzte, grüßte das Kaiserpaar den Präsidenten, während zahlreiche Anwesende riefen: „Es lebe Rußland! Es lebe die Kaiserin! Es lebe der Zar!" Die Abfahrt des Kaiserpaares erfolgte 11 Uhr 35 Min. Präsident Faure fuhr mit den Ministern 10 Minuten später ab. Auch ihn, bereitete die Menge Ovationen. * Paris, 9. Lctober. Bei dem Prunkmahle in Versailles reichte der Kaiser der Frau Faure, welche er zu Tische führte, den Arm. Das hatte er bis dahin nie gethan, weil der französische Ceremonienmeister in seiner Weisheit dies für unzulässig erklärt Feuilleton. Michael Munkacsy. Zum 50. Geburtstage des Meisters, 10. October. Von Theodor Lamprecht. Nachdruck verboten. In den achtziger Jahren zog ein Kolossalgemäide durch die Kunststädte Europas. Es stellte „CbristuS vor Pilatus" dar und erregte überall die allgemeinste Aufmerksamkeit. Charakterköpfe und Charaktergestalten zeigten sich auf dieser Darstellung, die nicht leicht zu vergessen waren. Der Land pfleger — ein Typus der reichen römischen Cultur, römisch kalt und juristisch-nüchtern den ganzen Vorgang betrachtend. Der Heiland mit dem bellen Ange und der reinen ruhigen Stirn des seiner bohen Sache Sicheren. Der herrschsüchtige Pharisäer in der Blüthe seiner Ueberhebung, der seelischen Be deutung deS Augenblickes fremd und nur an seinen Vortbeil und seine politische Stellung denkend. Derverblendete gemeine Mann, der „Kreuziget ihn!" mit weit auSgebrciteten Armen verlangt und bald „Barrabam!" rufen wird. Die Mutter endlich nut dem Kinde auf dem Arme, die mit so nachdenklichem Blicke auf den Angeklagten siebt — bald wird sie eine von denen sein, die den Leichnam de« Heilands mit Specereien salben. Alle diese Figuren waren in der Charakteristik so sprechend gelungen, daß man erkannte: der Maler muß ein Mann von seltenem psychologischen Verständnisse sein. Dazu ein Ausbau, der, so reich auch die Details, so groß auch das Formal war, doch die Aufmerksamkeit mit zwingender Gewalt immer wieder auf die Gestalt Christi lenkte, und endlich ein düsterer Ernst der Farbe, der stimmungsvoll zu dem Gegenstände des Bildes paßte. Mit diesem Werke war Michael Munkacsy eine euro päische Berühmtheit geworden. Aber keineswegs war auS dieser eine» Arbeit seine ganze künstlerische Eigenart zu er kennen. Nicht einmal daS konnte man ihr entnehmen, welches Land ibn geboren. Es war in gewisser Weise ein inter nationales Werk, dieser „CbristuS vor PilatuS", und erzählte nicht« von des Malers Heimatb nnd Schicksalen. Und doch waren diese Schicksale sehr erzählenSwerth. Das Dorskind von MunkLcS in Ungarn wußte noch nicht, wa« ihm widerfuhr, als die ungarische Revolution von 1848 ihm die Eltern raubte. Noch sah er, damals erst zwei Jahre alt, mit fröhlichen Kindrraugen in die Welt und wuchs unter der Obhut eine» ObeimS munter heran. Aber bald trat an die Waise der Ernst dc« Lebens, eS galt zeitig arbeiten, etwas lernen, Geld verdienen, und so gab ihn der Oheim bei einem Tischler in die Lehre. Sechs Jahre lang arbeitete er, alle Leiden und Freuden eines engen arbeitS- reichen Daseins durchkostend. In diesen sechs Jahren er kannte der halbwüchsige Jüngling seine Neigung; eS gelang ihm, sich Zeichen-Unterricht zu verschaffen, und fester und I immer fester bildete sick in dem jungen Tischlergesellen der Entschluß, sich der brodlosen Kunst der Malerei zu« widmen. Und eines TageS wagte er es, denn ein muthigeS Herz hatte ihm die gütige Natur mit auf den Weg gegeben, und er ging nach Pest und verdiente sich hier durch PortraitS und durch kleine Genrebilder, die er in seiner dilettantischen Art machte und die Abnehmer fanden, so viel, daß er nach Wien sich begeben konnte, um dort weitere Förderung zu finden. Bittere Ent täuschung: die Wiener Akademie verschloß dem jungen Ungarn seine Pforten. Aber unentmuthigt setzte er seinen «Stab weiter und wanderte an den Isarstrand, wo er endlich an dem wackeren Schlachtenmaler Franz Adam einen wohlwollenden Förderer und ersten guten Lehrer fand. Unter Noth und Entbehrung legte er hier zu seinem Können die erste Grund lage; doch triebS ihn noch weiter, nach Düsseldorf, wo da mals die Genremalerei zu neuer realistischer Blüthe gelangt war und die Namen Knaus und Vautier hell leuchteten. Einige Preise setzten ihn in den Stand, seinen Wunsch zur Ausführung zu bringen, und so faß er bald zu den Füßen der beiden großen Meister der Dorfnovelle und rang darnach, seinen Ideen einen eigenen und prägnanten Ausdruck zu geben. Dieser Bildungsgang ist für seine künstlerische Physiognomie von ausschlaggebender Bedeutung geworden. Munkacsy ward Genremaler, und trotz seiner großen religiösen Bilder ist er im Grunde seines Wesens immer Genremaler geblieben. Ibn zieht die Anekdote an, die interessante Situation, der eigenthümliche Charakter, — kur»: der Mensch; und in seinen Bildern stellt er gern den Höbepunct einer Handlung dar. Wir wissen wobl, daS ist nicht cksrniSre kutzon. Unsere jungen Künstler von heute gehen von der malerischen Erscheinung, von der Farbe aus und vermeiden eS, ihren Bildern einen novellistischen Beigeschmack zu geben. Aber die Richtung, der Munkacsy angehört, stellt auf alle Fälle eine bedeutungsvolle, an schönen Schöpfungen reiche und interessante Phase unserer modernen Kunst dar. Von Ungarn anSgegangen, in Deutschland gebildet, an den Ernst des Lebens gewöhnt und zum scharfen Beobachter geschult: so stellte sich Munkacsy in seinem ersten großen Werke dar: dem „letzten Tage eines zum Tode Verurteilten" (1870). Entsprach die Anordnung, Charakteristik und Farben gebung der Auffassung der Düsseldorfer Genreschule, so zeigte da« Werk doch ein national-ungarisches Gepräge. DaS Costiim war ungarisch, und echt ungarisch war in ihrem verbissenen Fanatismus auch die Figur deS Verurtheilten selbst. Verblüffend wirkte die Sicherheit der Charakteristik, die der 24 jährige entwickelte; e« war unverkennbar: dieser Mann vermochte ohne Rest zu schildern, was ihm vor schwebte; er verstand eS zu interessiren und den großen Febler des Zuviel zu vermeiden, an dem manche Düsseldorfer litten. DaS Bild siel nicht auseinander, eS wirkte einheitlich und nachdrücklich. Der unbekannte Bauernjunge aus Munkäcs war nun mit einem Schlage berühmt, der arme Schlucker, der oft nicht genug Geld gehabt hatte, um sich Farben uno Pinsel zu kaufen, — jcht strömten ihm Geld und Aufträge von allen Seiten zu. Die veränderten Verhältnisse gestatteten ihm schon 1872 die Uebersiedelung nach Paris, wo er seitdem seinen Wohnsitz behalten hat. War diese Uebersiedelung an den Strand der Seine für unseren Künstler ein Glück? Paris ist eine Circe, die den Fremden an sich fesselt und ihm den Trank der Vergessenheit einflößt. Auch Michael Munkacsy gerieth in ihren Bann und mehr, als ihm vielleicht gut war, vergaß er die Berge und Thäler der Heimath. Nachdem er 1875 den „Dorfhelden" gemalt, dessen natürliche Kraft er in einem sehr glücklichen Gegensätze zu einem affectirten Akrobaten gezeigt hatte, wurden die Bilder seltener und seltener, die seine Heimath zum Schau platz batten. DaS schäumende Temperament, die tiefe Leiden- schaftlickkeit Ungarns traten auS seinem Schaffen zurück und etwas Anderes machte sich geltend: Pariser Feinheit und Eleganz, Pariser Grazie und Parfüm. Schon sein „Atelier" (1876) zeigt ibn uns in einem echt Pariser Interieur, um geben von zahlreichen drie-fl-dracs, in einer durch schwere Portiören und Vorhänge gedämpften Licktstimmung. Dann kamen der „Besuch bei der Wöchnerin" und die „Zwei Familien." Sie versehen unS in die reichsten Pariser SalonS, in die monckö; sie zeigen uns die höchste Eleganz und die aristokratischste Lebensweise, und elegant und aristokratisch sind sie selbst. Aber sie ermangeln einer starken persönlichen Note, wir finden weder den Ungarn noch den Düsseldorf- Schüler in ihnen so recht wieder und müssen daran denken, daß Andere gerade solcke Scenen doch vollendeter darzustellen verstehen. Auch als sich Munkacsy dann dem eigentlichen Genre wieder energischer zuwandte, machte sich der Pariser Einfluß nicht immer günstig geltend. „Milton seinen Töchtern daS verlorene Paradies dictirend" wirkte trotz der kräftig geschilderten Hauptfigur glatt und, verglichen mit seinen Frühwerken, matt, und als man erfuhr, daß der Künstler 1886 sein Werk „Mozart'S letzte Augenblicke" in Dämmer beleuchtung und unter den Klängen des Mozart'schen Re- auiemS vorgeführt hatte, da mußte man befürchten, daß die Schlauheit der Pariser Mache den Künstler in ihm ge schädigt hatte. Und doch verdankt er Pari« einen großen Fortschritt. Er batte mit der Darstellung engeren Mensckensckicksal« und immerbin als rin Kleinschilderer begonnen. Die Kunstbaupt- stadt Europa«, in der sich die stärksten Kunst-Interessen und die größten Kunst-Ausgaben zusammenfanden, gab ihm größeren Stil. Er verließ das Interieur, den Salon und daS Atelier, den Kerker und da« Versatzamt und trat hinaus in die weiten Gefilde der Geschichte. Und endlich wagte er sich auch an die hoben Aufgaben der religiösen Malerei und schuf 1882 und 1884 den „CbristuS vor PilatuS" und die „Kreuzigung". Und bei dieser Wandlung des Stil« wurden auch seine Figuren größer, bedeutender, reicher; man darf sagen, daß er ohne diese Entwickelung nie einen europäischen Ruf gewonnen hätte. Will man Munkacsy's Eigenart reckt verstehen, so darf man nur diese beiden Werke mit religiösen Darstellungen anderer Meister vergleichen. Es haben Fran zosen des 19. Jahrhundert« die heiligen Vorgänge rein ethnographisch, als Scenen aus dem Oriente ausgefaßt: Munkacsy charakterisirt wohl die Typen fest und bestimmt, aber Volksleben und orientalische Farbenglut sind es nicht, worauf er fein Augenmerk in erster Linie richtet. Unser Eduard von Gebhardt erzählt die Tbaten und Leiden des Heilands mit einer innigen, naiven Frömmigkeit, die dem Geiste der Reformation entsprungen ist und dahergern auch da« Costüm deS 16. Jahrhunderts wählt: in Munkacsy's Bildern ist nicht eigentlich Andacht und Frömmigkeit der Grundzug. Fritz von Uhde hat einen socialen Beigeschmack, seine Werke predigen, daß Jesu- auch beute, auch unS noch gegenwärtig lebt; der Ungar steht dieser ergreifenden Idee fern. Er blickt auf die heiligen Voraänge ganz als Mensch, er sieht in ihnen ein mächtiges T)rama; wie es seinen Höhepunkt erreicht, welche Rollen die Menschen dabei spielen, welche Charaktere sich darin entwickeln — das fesselt sein Interesse. So zeigt er im „CbristuS vor PilatuS" den Höhepunct des Drama-, die Begegung zweier Welten: Roms und Nazareths; und auch die „Kreuzigung" ist nickt sowohl ein Andachtsbild, als der dramatisch gedachte Schluß einer Tragödie. Fünfundzwanzig Jahre hatte Munkacsy gebraucht, uni sich durch Dürftigkeit und Elend hindurchzuringen; das zweite Bierteljahrbundert seines Leben«, in Reichtkum und Berühmtheit verbracht, wurde ihm zu einer Periode der Prüfung und Klärung. Und diese Klärung konnte ihn, über welche Umwege auch immer, schließlich doch nur zur Heimatb zurückfübren, in der auch für den Künstler allein die starken Wurzeln seiner Kraft liegen In der jüngsten Zeit hat Munkacsy wieder häufiger Bilder au« seinem Vaterlande gemalt: rauchige Esarda'S, darinnen feurige Burschen in weiten Röcken bei Wein und Pfeife zusammensitzen oder sporenklirrend den Csärda« tanzen. Für den Sitzungssaal deS neuen ParlamentSgebäudeS in Pest stellte er m einem Colossal-Gemälde Arpad'S triumphirenden Einzug in Unaar land dar, eine rauschende Hymne magyarischen Stolzes, magyarischer Vaterlandsliebe. So ist e« nur natürlich, daß er jetzt al« Director der nationalen Kunst-Akademie nack Pest übersiedelt. Denn allen welschen Firnisse« nngeachtrt ist er Ungar vom Scheitel bi« zur Sohle; er ist unbestritten der Fürst der ungarischen Kunst der Gegenwart, für uns ihr tvpischer Vertreter, ihr Repräsentant im Reigen der Kunst Völker. Da« ward au« dem Dorfkindt von MunkScs, dem elternlosen Tischlerlehrling im Lause eine« halben Jahr hunderts.
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