Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 15.11.1896
- Erscheinungsdatum
- 1896-11-15
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-189611158
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-18961115
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-18961115
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1896
- Monat1896-11
- Tag1896-11-15
- Monat1896-11
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- Titel
- Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 15.11.1896
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Die Morgen-Ausgabe erscheint um '/,? Uhr. dt« Abend-AuSgabe Wochentag« um 5 Uhr. Nedaction und Expedition. J-hanneSgaffe 8. Die Expedition ist Wochentag« ununterbrochen geöffnet von früh 8 bi« Abend» 7 Uhr. Filialen: Ltt» Klemm'« Lortim. (Alfred Hahn), UniversitLtsstraße 3 (Paulinum), E . Lavi» Lösche, Satharinenstr. I«, pari, und König-Platz 7. Bezugs'Preis tu Her Hauptexpedition oder den im Stadt« bewirk und den Vororten errichteten Aus- aabrstrllen ab geholt: vierteljährlich ^l4.öO, bei zweimalioer täglicher Zustellung ins Han« 5.Ü0. Durch die Post bezogen für Deutschland und Oesterreich: vierteljährlich . Directe tägliche Kreuzbandsendung ins Ausland: monatlich 7.S0. UciWM. Tagel'^lt Anzeiger. Amtsblatt des Königlichen Land- und Amtsgerichtes Leipzig, des Rathes und Nolizei-Ämtes der Ltadt Leipzig. 582. Sonntag den 15. November 1896. Anzeigen-Prei- die 6 gespaltene Petitzeile 20 Pfq. Reklamen unter demRedactivnSslrich (4ge- spalten» ö0^, vor den Familiennachrichten (6gespalten) 40-H. Größere Schriften laut unserem Preis- verzetchniß. Tabellarischer und Zifferniatz nach höherem Taris. Extra-Beilagen (gefalzt), nur mit der Morgen - Ausgabe, ohne Poslbesörderung .4i 60-, mit Postbeförderung .st 70.—. Anuahmelchluß fir Anzeigen: Abend-Ausgabe: Bormittags 10 Uhr. Marge n« Ausgabe: Nachmittags 4 Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stunde früher. Anzeigen sind stet- an die Expedition zu richten. Truck und Verlag von E. Polz in Leipzig- W. Jahrgang. Aus -er Woche. Der Reichstag verbessert die Regierungsvorlage über die Abänderung der Iustizgesetze und auch die Be schlüsse seiner Commission. Da« ist sehr schon, aber wir stehen der zweiten Lesung gegenüber. In der entscheidenden dritten, wo das Häuflein der jetzt „tagenden" Juristen und „Amateurs" in eine zur Gesetzgebung befähigte Per sammlung sich verwandeln wird, werden die von den Herren Munckel und Rcmbold erwirkten schönen Beschlüsse nur noch erloschenes Brillantfeuerwerk sein. Wahrscheinlich beabsich tigen die Freisinnigen, nach der sicheren endgiltigen Ver werfung wenigstens eine- TheilS der von der Regierung be kämpften Aenberungen gegen das ganze Gesetz zu stimmen, um erzählen zu können, sie bätten sich beharrlich der „Preisgabe wichtiger Volksrechte" widersetzt. Man braucht nämlich die Freisinnigen und Demokraten nicht zu dem Zustandebringen des Gesetzes. ES fragt sich aber doch, ob man Herrn Richter verstatten soll, das alte unsittliche Manöver zu wiederholen, daS darin besteht, daß die Demokratie ein von ihr gebilligtes Gesetz von Anderen annehmen läßt, selbst aber es verwirft, um mit den unerfüllt gebliebenen Wünschen politische Geschäfte zu macken. Es giebt ein Mittel, die Herren zu dem Muth ihrer Meinung zu zwingen. Ausschlaggebende Parteien brauchen nur zu erklären, wenn die „Votksparlei" mit der Einführung der Berufung in Strafsachen und der Entschädigung unschuldig Verurtheilter warten könne, so könnten sie es auch. Herr Richter wird das Odium der wirksamen Negation um so weniger auf sich zu nehmen wagen, als Mitglieder seiner Fraction e« ehrlich mit der Iustizreform meinen. Wie lange die zweite Berathung der Justiznovelle dauern wird, ist nicht zu berechnen. Am Montag und vielleicht Dienstag wird sie bekanntlich durch drei Interpellationen unterbrochen, deren erste mit der abgebrochenen Spitze gegen den Fürsten Bismarck erschienen ist. Die „Köln. Volks zeitung" bestätigt heute vollkommen, was wir über den Ver lauf vorausgesazt haben. Das Centrum wird den Fürsten nicht in den Vordergrund schieben, aber die Anderen werben das besorgen. Daffelbe Blatt meint, die National liberalen in Leipzig und anderen Orten, die dem Fürsten Bismarck aus Anlaß der wider ibn geschleuderten Beschimpf ungen ihre Verehrung bezeigt, hätten dem Altreichskanzler damit einen „schleckten Dienst" erwiesen. Also nicht nur Besorzniß um den Kaiser, auch klerikale Betrübniß wegen des Schadens, den man Bismarck zufügt — das ist zu viel, das beschämt uns, das können wir wirklich nicht annehmen. Die „Köln. Volksztg." muß mit ihrem Patriotismus und ihrer Anständigkeit ökonomischer umgehen, sonst giebt sie sich aus. Der llltramcntanismus bat von diesen Artikeln zu wenig vorräthig. Die „Germania" steht sogar ganz ausgezogen. Die Central leitung der natonalliberalen Partei hat bekanntlich gemeinsam mit der Reichstagsfraction den Gesinnungsgenossen in Mainz den dringenden Wunsch ausgedrückt, sie möchten bei der Stichwahl durch Stimmenabgabe für den klerikalen Can- didaten einen Sieg der Socialdemokratie verhindern. Was sagt nun die „Germania"'? „Glücklicherweise liegen eie Verhältnisse in Mainz-Oppenheim derart, daß daS Centrum dort auch siegen können (!) wird, ohne daß ihm die National liberalen auch nur eine einzige Stimme zur Verfügung stellen." Der Zweck dieser Schamlosigkeit ist klar. Man will trotz Berliner Centralvorstand, Reichstagsfraction und Mainzer Erläuterung der dortigen Beschlüsse sich in den Stand setzen, das Verhalten der hessischen Nationalliberalen als dasselbe erscheinen zu lasten, welches daS Centrum in Dortmund beobachtet bat. Man wußte aber auch — die Ziffern der Hauptwabl schließen jeden Zweifel aus —, daß der ultramontane Candidat ohne alle Unterstützung unrettbar durchfallen würde. Deshalb wurde gewartet, bis national liberale Hilfe angeboten war, und dann den Helfern erklärt: „Wir brauchen Euch gar nicht". Dieses Verfahren der ultramontanen Politiker verräth uns jene niedrige Gesinnung, die es den Mainzer Nationalliberalen so schwer macht, für einen Genoffen dieser Nichtgentlemen einzutretcn. Es bekundet aber zugleich ein festes Vertrauen auf die Sachlichkeit und den Patriotismus der nationalliberalen Partei. Ohne dieses Ver trauen hätte die CenlrumSleilung befürchten müssen, es würde als Antwort auf ihre verächtliche Erklärung in dem Parteiorgan die Aufforderung an die nationallrberalen Wähler ergehen, den Candidaten Schmitt die Probe auf das Exempel der „Germania" macken zu lasten. Unsere hohe Meinung von der Christlichkeit deS Ultramontanismus wurde übrigens auch durch dieses sein neuestes Stückchen nickt abgeschwächt. tLhristlichkeit ist das Hauptmerkmal auch deS Charakters des Herrn Adolf Stöcker. Er hat sich am 10. d. M. auf dem christlich-socialen Vertraucnsmännertag wieder einmal mit Luther verglichen und seine (Slöcker's, nickt Lulher'S) Verdienste um die Wiederverbreitung des Gotlesglaubcns gerühmt, am 12. ist er in Berlin wegen verleumderischer Beleidigung zu 600 Geldstrafe verurtheilt worben. Das Schl'mmste, was der Glaubcnsstreiter seinem Amts bruder Witte angethan, ist nicht Gegenstand der Gerichts verhandlung gewesen, gerichtet ist Stöcker freilich auch für jene Verfolgung durch die Thatiache, daß orthodoxe Christen eine Sammlung veranstaltet haben, um da« von ihm zerstörte Leben eines ehrenhaften Geistlichen einigermaßen erträglich zu gestalten. DaS Berliner Gedicht bat dem Verfasser des Scheiterhaufenbriefes „nur" bezeugt, daß er unter Ableugnung eines von ihm geschriebenen Briefes wider besseres Wissen den Pfarrer Witte, um denselben verächtlich zu machen, einer Fälschung beschuldigt habe, und zwar — ein Zeichen der christlichen Versöhnlichkeit deS Hofpredigers — neun Jahre nach dem Zeitpunkte, wo der Brief vor die Oeffentlichkeit gekommen war. Stöcker hat allerdings nickt so lange gewartet, um die Rache kalt zu genießen, sondern weil er auf die erinnerungschwächende Macht der Zeit specu- lirte. Witte sollte gänzlich zu Grunde gerichtet werden — ein Stein auf dem durch Lügen über Leichen führenden Wege des „GottesmanneS". Diesmal ist er gestrauchelt, aber die eiserne Stirne wird sich sogleich wieder zeigen, was wir im wir im Hinblick aus die reaktionäre Bewegung, deren ceele Stöcker ist, mit Freuden begrüßen werden. Herr Professor Hans Delbrück ist ein kunstreicher Con- strucleur. Er hat sich einen Standpunkt zurechtgezimmerl, von dem aus er die Clastenverbetzung gulheißen kann, ohne sich an ihr betheiligen zu müssen. Er schreibt an Pfarrer Naumann: „Wir können und wüsten dringend wünschen, daß derEm- seitiakeit der kapitalistischen Clastenvertretung die andere Ein seitigkeit der Ardeilerinteressen entgegengesetzt werde, aber wir tonnen uns selbst an dieser Einseitigkeit nicht betbeiligen." Und vorher: , .... „Heute würde die neue (die national-sociale) Partei völlig aussichtslos sein, wenn sie in der praktischen Vertretung des Arbeiter-Classen-Intercsses der Socialdemokratie den Vorrang ließe. Diese Energie würde von Anfang gelähmt sein, wenn Mitglieder der höheren Stände, etwa von meiner politischen Richtung, in größerer Zahl in die neue Partei einträlen." Man sieht, Herr Delbrück unterschätzt sich nicht. Er be fürchtet, durch seine Person ras Proletarische an der neuen Partei zu verdunkeln, stellt sich also über die in der gleichen socialen Lage befindlichen socialdemokratischen Führer wie Liebknecht, von Vollmar u. A. Gut! Aber er hat nicht nur einen ZweckmäßigkeilSgrund für sein Fernbleiben, sondern auch einen principiellen. Logischerweise sollte der letztere den ersteren überflüssig machen, aber selbst Herr Delbrück scheint es für eine schwache Politik zu halten, wenn man sagt: waS die national-sociale Partei thut, habe ich für noth- wendig erkannt, ich aber kann nicht mittkun. Warum nicht? Was kann, was darf einen Mann bindern, für seine Lehre einzutreten? Oder: wie ist das Gewissen beschaffen, welches gestattet, eine Lehre zu predigen, für die der Prediger „nicht zu haben" ist? Indessen, Herr Delbrück bat dieser Tage auch gelehrt, man könne die Polen zu treuen Unterthanen machen, indem man in Posen und Westpreußen erklärte Nationalpolen zu Landrälheu mache. Einem Politiker mit solchen Einfällen soll man überhaupt keine Fragen stellen, wenn man selbst weiterhin ernsthaft genommen zu werden wünscht. Im Landtagswahlkreise HerSfeld-Rotbenburg bat die konservative Partei das Mandat nur mit einer Mehrheit von 105 gegen 100 Stimmen, Vie auf einen Antisemiten entfielen, behaupten können. Dieses Ergebniß ist angesichts des von dem Reichswablreckt so verschiedenen preußischen Wahlverfahrens so unangenehm, daß die „Kreuzzig." voraussichtlich morgen über den Niedergang der — nationalliberalen Partei Betrachtungen anstellen wird. Die Interpellation Mirman in -er französischen Kammer. 6. Pari», 13. November. VorauSgesagte Ministerstürze treten nie ein. Tas bat sich auch gestern wieder bewährt, zum großen Schmerze des zahlreich versammelten Publikums, das gern einmal ein historisches Ereigniß miterleben wollte. Nach dem Mißerfolge, den das Ministerium am Tienstage, allerdings in einer nickt (ehr wichtigen Geschäflsordnungsfrage erlitten hatte, er schien seine Stellung in der Thal stark erschüttert, auch für den, der an die Tonart der socialistischrn und radikalen Blätter gewöhnt ist und sich von ihrem Triumph geheul nicht beeinflussen läßt. Man sprach nämlich von bedenklichen Palastinlrigucn; man wollte wissen, daß die Herren Ribot, Sarrien und Genosten die Zeit für gekommen hielten, wieder einmal ein Portefeuille zu übernehmen, und daß ein ausgedehnter Stellenschacher für das von ihnen zu gründende Concentrations-Ministerium im Gange sei. Aber es ist eben ganz anders gekommen. Als ick gegen 4 Ubr in der Kammer anlangte, batte der socialistiscke Ab geordnete Mirman, der von seinen Freunden auserlesen worden war, dem Cabinet den Todesstoß zu ver setzen, schon beinahe zwei Stunden geredet. Die Volks vertreter unterhielten sich, lasen oder schliefen, und auf den Tribünen suchte man sich durch faule Witze die Langeweile zu vertreiben. „So stürzt man nicht Mi nister", daS war der erste Eindruck. Bekanntlich handelte eS sich um eine Frage der C oalitivnSfreibeit. Die Regierung hatte auf der einen Seile die Vereinigung der Lehrer zu einem allgemeinen Verbände mit einem Ausschuß >n Paris verhindert, auf der anderen aber den Congreß der Geistlichen zu Rheims zu Ccntenarfeier der Taufe Chlodwig's gestattet. Es kam aljo für ihre Gegner darauf an, diese beiden Sacken, die offenbar gar nichts mit einander zu thun haben, zusammenzuschweißen und der Regierung in einer kurzen, schneidigen Rebe entgezenzuhaltcn: Ihr handelt hier so, dort so, Ihr meßt also mit zweierlei Maß. Ihr begünstigt die Kleriker, die von jeher geschworene Feinde der republi kanischen Verfassung gewesen sind, und Ihr verfolgt die Lehrer, die treuen Freunde und Diener der Republik. Zu gleich suchte mau aus diese Weise drei Ministern eine Falle zu stellen. Sprachen sie sich für die Kleriker aus, so stimmte die gejammte Linke gegen sie, äußerten sie sich in antikleri kalem Sinne, so war die Rechte für sie verloren. Allein daS Gewebe war zu fein gesponnen. Eö ging zu wie im Sprichwort: Wer zugleich zwei Hasen hetzt Wie gesagt, verdarb schon Herr Mirman die ganze Sache. Statt mit einer wuchtigen kurzen Anklagerede wartete der ehemalige Schulmeister mit einem endlosen akademischen Sermon auf. Statt die springenden Punkte zusammen zufassen und bervorzuheben, verlor er sich in ein wüstes Cbaos von Einzelheiten. Ter ungeheure Fleiß, mit dem er diese Einzelheiten zusammengctragen batte, war das einzige BemerkenSwerthe an der ganzen Rede. Immerbin wäre die Sache nicht so schlimm gewesen, wenn er wenigstens einen festen Standpunkt vertreten hätte. Als Socialist hätte er doch konsequenter Weise unbeschränkte Coalitioiisfreibeil für Alle fordern müssen; er aber verlangte von der Regierung, sie hätte den Congreß der Lehrer gestatten und den der Geistlichen verbieten sollen. Antiklerikal ist eben immer noch der Haupttrumpf bei den französischen Freiheitsaposteln. FertiHetsn. Minder Lärm. Humoreske von L. Guönin. Aus dem Französischen von Ernst Blank. Nachdruck verboten. In das kleine Dörfchen, wohin ich mich diesen Sommer geflüchtet batte, strömten Sonntags die Pariser in Hellen Haufen. Wenn sie des Abends ganz erschöpft von den länd lichen Vergnügungen dem Zug zueilten, der sie wieder auf bas Pariser Pflaster setzen tollte, fiel manch' neidischer Blick auf dir Villen mit geschloffenen Läden, welche den Schienen strang einsäumen, und Mancher fragte sich: Wann wird der Tag kommen, wo auch ich ein kleines Häuschen mein Eigen nennen kann? Dieses Sehnen jedes eckten Pariser- theilte natürlich auch Herr Campe, zweiter Bureauvorsteber auf der Seine- Präfectur. Tag für Tag berietb er mit seiner Frau in ikrer engen Stadtwobnung die Vorzüge ihres zukünftigen BesitzthumS; sie entwarfen Baurisse, brachten ganze Wochen damit zu, den geeignetsten Platz für die Treppe ausfindig zu machen, und stritten sich um Zimmer, die Frau Campe im ersten Stock und der Herr zu ebener Erde wünschte. Ja, die guten Menschen kamen schließlich so weit, sich wegen der Drücker an den Thüren gegenseitig unangenehme Dinge zu sagen. Endlich trat der ersehnte Tag in Sicht, wo der Traum zur Wirklichkeit werden sollte. DaS Ehepaar durchforschte letzt die Umgebung von Pari» und machte vor jeder Besitzung Halt, deren Thor die übliche Tafel: „HauS zu verkaufen" oder „Zu vermiethen" schmückte. Sie besuchten alle ohne Ausnahme mit dem Eifer der Neulinge, dock stets fand sich ein Fehler, der den Geschäfts abschluß vereitelte. DaS Eine war zu tbeuer, da« Andere zu klein, dieser Garten zu lang, jenes Erdgeschoß feucht. Und mit verminderten Kräften, aber immer frohen MutbeS ging da« Suchen weiter nach dem jahrelang festgesetzten Ideal. Etliche Meilen von Paris erstreckt sich ein langer Hügel rücken, bedeckt von Landhäusern und Gärten voller Obst bäume. Von der Höhe herab beherrscht der Blick eine weite Landschaft, in der die Gewässer des Flusses friedlich zwischen hohen Pappeln mit unruhig bewegtem Laubwerk einherfließen; in der Ferne debnt der Wald von S6nart, so weit das Auge reicht, seine dunkelgrüne Masse. Dort oben hinter der Kirche von AthiS sollten CampeS endlich daS Ziel ihrer eifrigen Nachforschungen finden: eine Besitzung, durch ein Gitter abgeschlossen, in der Mitte erhebt sich rin ländliche» HauS, vor dem Erdgeschoß ein Rosen strauch am andern, die sich zu beiden Seiten der Allee bis an dir Eingangspforte auf den Wegen fortpfianzen. Immerwährend ist die Luft von balsamischem Woblgeruch der Rosen erfüllt. Mauern, Balcon, dir Strebefeiler der Trevpe sind davon überzogen. Die zarten Abstufungen der verschiedensten Arten vom Schneeweiß bis zum Purpurrotb erfreuen den Beschauer und machen den Ort zu einem ent zückenden Aufenthalt. DaS ist die Rosenvilla. CampeS ziehen stolz auf ihren Fund ein. Voll Begeiste rung athmen sie die Düfte, von denen die Luft um sie erfüllt ist, und beklagen von ganzem Herzen die Gepeinigten, welche der Zwang des Lebens in der verseuchten Stadt mit ihren schlechten Gerüchten zurückhält. Langsam und ordnungsmäßig gebe» sie vorwärts: erst daS Mobiliar und Ausstattung der Räume, dann erfordert der Garten ihre Zeit, schließlich spricht Frau Campe, die gern sriscke Eier essen möchte, von einem Hübnerhof. Landleben ohne frische Eier, daS hätte kein Mensch be griffen! Ebenso gut könnte nian da in der Mauffetard- straße wohnen, im 4. Stock auf dem Hof hinaus. So erhebt sich denn bald inmitten des Gartens ein leichter Bau. Ein Drahtgitter verleiht ihm das Ansehen eines richtigen Geflügelhofe«. 10 Hennen und ein reizender kleiner Hahn treffen ein, und von da ab ist daS Glück der CampeS vollkommen. ES sollte bald gestört werden. Eines schönen Morgen- fanden die Insassen einer Nachbarvilla ihren Hllbnerstall offen und leer. Während der Nacht batten sich Uebelthäter eingescklichen und Hübner und Kaninchen gestohlen, die da allzu vertrauensselig schliefen. Am nächsten Tage empfing eine andere Villa den Besuch dieser Liebhaber von Fell und Federn; einige Zeit darnach erlitt ein drittes Hau» da« gleiche Schicksal. Große Aufregung allenthalben, nächtliche Runden, polizei liche Nachforschungen acht Tage hindurch ohne Ergebniß, doch nickt ohne Anstrengung. Schließlich legte man sich eines Abends zu Bett in der Urberzruaung, daß Alle« zu Ende sei. Verbangnißvoller Jrrthuml In dieser selben Nackt neue Miffethaten: Hübner wurden an Ort und Stelle gerupft und bei drei zurückgelassenen Kaninchen fand sich ein Zettel, auf dem geschrieben stand: Wir kommen wieder und holen sie, wenn sie groß sind. Welche Frechheit! Diese Leute waren zu Allem fähig, man mußte sich bewaffnen, Maßregeln ergreifen, wie es eine kluge Vorsicht, die Mutter der Sicherheit, gebot. Campe« vermochten nicht mehr zu schlafen, im Dunkel der Nacht meinten sie jeden Augenblick rin Geräusch zu hören, Tbür einschlagen, erstickte Schre«e, Schritte im Garten! Frau Campe, di« ihre geliebten Hennen im Traum erdrosselt und blutüberströmt vor sich sab, erwachte unter SchreckenSlönen. Der au« seinem besten Schlaf gerissene Campe sprang mit einem Satz au« dem Belte, öffnet da» Fenster, blickt an gestrengt in die Dunkelheit hinaus. Nichts zu unterscheiden wie die flimmernden Sterne am Himmel, nickt« zu hören außer dem leisen Säuseln de« Winde« in dem Geäst der Bäume. So legte er sich fröstelnd wieder nieder, fortwährend bemüht, seine Frau zu beruhigen. Endlich faßte der kühne Bureauvorsteher einen Plan, der die höchste Anerkennung seiner besseren Hälfte fand. Von dem Schlafzimmer führte ein kunstvoll gelegter Draht nach dem Hübnerstall, im Zimmer endete er in eine Schelle, ein Haken hielt ihn im Hühnerstalle an die Tbür. Die Nester in den Ecken vereinfachten die Function des Apparates. Ging die Thür auf, so spannte sich der Drabt an und zog bi« Klingel, deren Ton von außen nicht vernehmbar war. Da leise Läuten benachrichtigte den Eigenthümer, und während die Diebe ahnungslos in die Behausung der unschuldigen Opfer ihrer Räubereien drangen, wurden sie umzingelt und gefangen wie Füchse im Bau. Wahrend der ersten Nächte ließ die Schelle Campe's den Schlaf der Gerechten schlafen, inmitten der kriegerischen Ausrüstung, die sie sich verschafft halten: eine doppelt geladene Flinte, Revolver mit sechs Kugeln, Reitersäbel, Hacke, Dolch und Verwandtes. Doch am Sonntag ertönte gegen 2 Uhr Morgen- ein zartes Läuten. Zitternd horchten sie. Kling! Kling! Kem Zweifel möglich, die Hühnerstallthür wird geöffnet. Ein wenig blaß, aber entschlossen wirst sich der Mann auf die Flinten, schlingt rasch den Säbelgurt um sein Hemd, steckt den Revolver um den Gürtel, öffnet leise die Tbür auf den Balkon und fliegt unhörbaren Trittes die Treppe hinab. Mit vermehrter Vorsicht macht er die Runde umS Haus. Unterdessen erwartet seine Frau in jedem Augenblick Schüsse zu hören und schwitzt vor Angst in ihrem Zimmer, dessen Tbür zu ihrem Entsetzen offen geblieben ist. Schließlich kann sie eS nicht mehr länger anShalten. Zitternd kommt sie auf der Treppe an, deren Getrach unter der Last ihre« Körper« sie schaudern macht. Ihre ei-kalten Hände fühlen kaum da- Geländer, an welchem sie sich krampf haft festklammert. Plötzlich erscheint vor ihr ein Schatten. Die Unglückliche sinkt halbtodt vor Schrecken in die Kniee und kann kaum noch murmeln: ,Tödten Sie mich nicht!" E- ist ihr Mann, der Jemand batte heruntersteigen hören und ihr diese wohlthurnde Ohnmacht verschafft bat. Als sie endlich begriff, wer vor ihr stehl, kommt ihr die Besinnung wieder und sie überschüttet den armen Kerl mit einer Fluth von Vorwürfen. Durch ein paar Worte nur bringt er sie zum Schweigen: ,/Still! Sie sind da!" Sie, die Diebe, sie, die das Schellchen au« dem Hühner« stall erklingen ließen. Mit mühsam errungener Fassung befiehlt der Besitzer seiner Genossin, ihm ohne Lärm zu folgen und kehrt, das Gewehr geschultert, zum Hübnerstall zurück. Der Hof war leer, die Thür geschlossen. Sie waren drinnen. Zu dieser Stunde öffnen und den Kampf Mann gegen Mann beginnen, daran durfte gar nicht gedacht werden. Die Stunden verstrichen in der Finsterniß mit verzweifeln der Langsamkeit, nur in unermeßlich langen Zwischenräumen durch die entfernten Schläge der Dorfuhr unterbrochen. Dazu kam die Kälte. Die Morgenkühle wurde um so fühl barer empfunden, da unsere Helden in der Eile hinausgestürzt waren ohne andere Bedeckung, als jenen weißen Stoff, der da« erste und unentbehrlichste Stück der menschlichen Kleidung bildet. Endlich erglomm am Horizont der erste Strahl der Morgenröthe; mit dem Lickt nimmt auch der Muth zu, und wäbrend der Mann die Schreckensthür in Schach hält, holt die Frau einen Schlafrock, mit dem sie sich selbst bekleidet, und eine Hose für den frosterstarrten wachsamen Hüter. Bei Tagesanbruch läuft die Dame zu den nächsten Woh nungen, klopft an die Läden, weckt Männer, Frauen, Kinder, Dienerschaft und führt sie fort, bewaffnet mit Heugabeln, Lanzen, Stöcken, kurz, mit Allem, WaS ihnen in die Hände fällt. O! Die Schurken sollen einmal sehen! Man rückt näher heran. Die Diebe werden ausgefordert, herauszukommen, unter der Drohung, daß ihnen die Köpfe eingeschlagen würden, falls sie sich zur Wehr setzten. Keine Antwort. Jetzt erscheint die öffentliche Macht in Gestalt eines Brigadiers und eines seiner Untergebenen. Sie werden von den Ereignissen der Nacht in Kenntniß gesetzt, von der An wesenheit der geflüchteten Misselhäter im Stall, den sie nickt verlassen wollen. Der Brigadier tritt an, Alle folgen ihm ängstlich. Er klopft, da- Schweigen im Innern dauert fort. Rasch reißt er die Tbür auf, die Umstehenden weichen sämmtlich zurück. Campe reißt da» Gewehr an die Wanze, seine Frau be wegt sich angftooll, der Gatte beruhigt sie nach Kräften. Der Brigadier schreitet in den Hübnerstall, blickt überall bin und — sieht nicht-. Nur die Hühner auf ihren Stangen werden unrubig. In demselben Augenblick schmettert der kleine Hahn, den da« eindringende Licht weckt, gerade über dem Haupt des Vertreters der Gesetze sein schrillstes Kikeriki. Der Mann siebt auf und entdeckt den Sänger auf dem Drabt, der in die Schelle au-mündet. In der Nackt batte ihn wahrscheinlich ein» Henn« von seinem Platz verdrängt, er war auf den Draht gehüpft und hatte da« Kling-kliug bewirkt, worüber seiner Herrschaft di« Haare ru Berg« standen .... Die Polizei lachte, daß sie fast krank darüber wurde, die Nachbarn bekamen Krämpfe, selbst Campe« stimmten, wenn auch mit schwerem Herzen, in den Cbor ein nack Kräften. Aber al« sich die Menge verlaufen hatte, sahen die Beiden sich an und verstanden einander ohne Worte. Am folgenden Tag verkündete eine Tafel den Vorüber gehenden, daß die Rosenvilla zu vrrmietben sei Ackt Tage später war Frau Campe schon wieder in der alten Wobnung in der Turrnne-Straße. Sie ißt ibre frischen Eier, ohne die mühevolle Aufgabe zu haben, die Hennen behüten zu müssen.
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