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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 02.12.1896
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1896-12-02
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18961202018
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1896120201
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1896120201
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1896
- Monat1896-12
- Tag1896-12-02
- Monat1896-12
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Die Morgen-Au-gabe erscheint um '/,? Uhr. dir Abend-Ausgabe Wochentags um 5 Uhr. Nedaclion und Erpe-itiou: IohanueSgasse 8. Die Expedition ist Wochentags ununterbrochen geöffnet von früh 8 bis Abends 7 Uhr. Filialen: ktt» Klemm'» Torttm. (Alfred Hahn), Universitütsstraße 3 (Paulinum), Louis Lösche, Katharinenstr. 14, pari, und Königsplatz 7. Bezugs-Preis der Hauptexpedition oder den im Stadt- bezirk und den Bororten errichteten Aus- aabestellrn abgeholt: vierteljährlich^ 4.50, bei zweimaliger täglicher Zustellung ins Haus .-L 5.50. Durch die Post bezogen für Deutschland und Oesterreich: vierteljährlich 6.—. Direkt» tägliche Kreuzbandiendung ins Ausland: monatlich »> 7.b0. Morgen-Ausgabe. KÄWgcr Tagtblail Anzeiger. Ämlsliktt des Hömgrichen Land- nnd Äilttsgerichtes Leipzig, des Aatyes und Nottzei-Ämles der Stadt Leipzig. Anzeigen-Preis die 6 gespaltene Petitzeile SV Pfg. Neclamen unter dem NedactionSstrich (4ge» spalten) 50^, vor den Familiennachrichten (6 gespalten) 40^- Gröger» Schriften laut unserem Preis- vrrzcichniß. Tabellarischer und Ziffernsatz nach höherem Tarif. fSrtra-Beilagen (gesalzt), nur mit der borgen-Ausgabe, ohne Postbesörderung ./t 60.—, mit Postbeförderung 70.—. Annahureschluß für Anzeigen: Adend-Ausgabe: Vormittags 10 Uhr. Morgen-Ausgab«: Nachmittags 4Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stunde früher. Anzeigen sind stet» an die Expedition zu richten. Druck nnd Verlag von E. Polz in Leipzig- SV. Jahrgang.' Mittwoch den 2. December 1896. ^2 612. Oie InstiMvelle nach der zweiten Lesung. SS Nach mehrwöchigen Debatten wurde endlich die zweite Lesung der Zustiznovelle zu Ende geführt, aber trotz dieser viel länger, als zu erwarten war, ausgedehnten Verband- lungen läßt sich die endgillige Gestaltung der Novelle noch gar nicht absehen, wenn sie überhaupt zu Stande kommt. Man wird die bei verschiedenen Gegenständen der De- ratbung ausgesprochene Erklärung der Regierungsvertreter, die Vorlage würde scheitern, wenn nickt in dem einzelnen Falle dem Wunsche der Regierung stattgegeben würde, nickt für jeden einzelnen Fall ernst zu nehmen brauchen. Man wird aber andererseits, wenn man die Gesammlbeit der Be ratbungen überblickt, zugeben müssen, daß ohne ein gegen seitiges Nachgeben die Vorlage allerdings scheitern wird, denn der Regierung ist bei der zweiten Lesung so übel mitgespielt worden, daß nicht wohl angenommen werden kann, sie würde sich in allen Punkten fügen. Wir können es nicht verbehlcn, daß der Reichstag in mancher Hinsicht Wohl zu weit gegangen ist, und wir würden eS deswegen nicht für bedenklich halten, wenn durch ein Nachgeben des Reichstages in einigen Puncten eine Verständigung mit der Regierung sich wiederberstellen ließe. Nun würde es allerdings ein Febler sein, wenn zwischen Reichstag und Regierung eine Verständigung in der Weise zu Stande käme, daß in einer rein mechanischen Weise jeder Tbeil in einigen Puncten nackgäbe, obne daß ein bestimmtes Princip festgebalten würde. Wir meinen, daß der Neickstag an dem Grundsätze allerdings festbalten muß, daß nicht um der Einführung der Berufung und der Entschädigung der unschuldig Verurtbeiltcn willen das sonstige Strafverfahren, insbesondere das Verfahren der ersten Instanz, verschlechtert werden darf. Wir glauben aber, daß der Reichstag in dieser Hinsicht zu weit gegangen ist, und daß gerade in einigen für die Regierung besonders wichtigen Puncten nachgegeben werden kann. Ein sehr wesentliches Gewicht legt bekanntlich die Negie rung auf die Verminderung der Mitgliederzahl der Strafkammern. Sie bat in der zweiten Lesung den Fehler begangen, den fiScalischen Gesichtspunkt zu sehr hervor treten zu lassen. Das war um so weniger nöthig. als für die Dreizahl der Richter genügend viel in der Sacke selbst liegende Gründe sprechen: dir größere Aufmerksamkeit des Richters, fein höheres Verantwortlickkeitsgesühl, vor allen Dingen aber die Analogie mit den Cwilprocessen. Reichen in diesen Processen drei Richter aus, um bei einer manchmal unendlich complicirten Sachlage das Recht zu finden, so müssen sie bei den sowobl rechtlich wie thatsächlich der Regel nach leichter liegenden Strassachen ganz gewiß ausreichen können. Wir hoffen, daß die Regierung bei der dritten Lesung diese Gründe stärker hervorheben und daß der Reichstag alSoann nachgeben wird. Wir hoffen nickt minder, daß der Reichstag von seinem aus anderen Gründen für die Regierung unannehmbaren Beschlüsse, in gewissen Fällen die Zeug niß pflicht für Nedacteure, Verleger u. s. w. aufzuheoen, abgeben wird. Es ist ganz gewiß berechtigt, daß die Presse in ihrer schwierigen Aufgabe nicht durch Unbilligkeiten des Strafver fahrens benachtbeiligt werde, und cs ist deshalb nur zu be grüßen, daß der Reichstag dem sogenannten ambulanten Gerichtsstände der Presse ein Ende bereitet bat. Es ist aber andererseits nickt billig, daß ein Ausnabmereckt geschaffen wird, daS in vielen Fällen der Strasjustiz die Ahndung eines Vergehens zur Unmöglichkeit macht. Man kann nickt sagen, daß in diesen Fällen die Ahndung ja schon in der Be strafung deS verantwortlichen Redakteurs liege, denn es ist viel wichtiger und der Gerechtigkeit mebr entsprechend, daß der wirkliche Tbäter bestraft wild, als eine nur formell für die Tbat haftende Person. Aus demselben Grunde, weil wir AuSnahmerecbte nicht billigen können, hoffen wir, daß der vom Eentrum durchgedrückte Beschluß, daß Geistliche be rechtigt sein sollen, unter dem Eide eine objectiv unwahre Aussage zu machen, in der dritten Lesung wieder rückgängig gemacht wird. Wenn die Regierung ferner großen Wertb darauf legt, daß Meineidssachen nicht mehrvor den Schwurgerichten,sondern vor den Strafkammern verhandelt werden sollen, so geben wir in diesem Falle dem Reichstage Recht, wenn er auf seinem abweichenden Beschlüsse stehen bleibt. Wir wollen damit nicht sagen, daß die Meineidssachen bei den Schwur gerichten besser aufgehoben seien, als sie eS bei den Straf kammern sein würden, aber wir glauben nicht, daß eS richtig sei, die Frage der Schwurgerichte auf die Weise zu lösen, daß man gewissermaßen hinterrücks ihre Competenz mehr und mehr einschränkt. Auch in anderen Puncten wird der Reichstag gut thun, auf seiner Meinung stehen zu bleiben. Es ist eine Verbesserung gegenüber dem be stehenden Zustande, wenn der Reichstag beschlossen hat, die Ablehnung eines Richters auch nach dem Beginne der Hauptverhandlung zuzulassen, wenn er ferner dem Angeklagten das Recht giebt, wabrend der gesetzlichen Frist den Verzicht auf ein Rechtsmittel wieder zurückzunebmen, wenn er weiter bezüglich der notlmendiger Vertheidigung Be stimmungen getroffen hat, die manchem jetzt herrschenden Miß stande ein Ende machen. Es märe eine Verschlechterung des gegenwärtigen Zustandes gewesen, Wenn der Reichstag der generellen Vereidigung der Zeugt» im Vorverfadren zu gestimmt hätte und wenn er für das Wiederaufnabmever- sabren dem Wunsche der Regierung gemäß den Nachweis der Unschuld des Angeklagten verlangt Kälte. Es wäre ebenso eine beträchtliche Herabminderung des Werthes der neu- einzufübrenden Berufung gewesen, wenn, wie es die Regierung wünschte, die Zulässigkeit der Verlesung von Zeugenaussagen in der Berufungsinstanz ausgesprochen worden wäre. Es mangelt an Nanin, die Differenzpuncte zwischen Reichstag und Regierung sämmtlich aufzuführen und zu be leuchten, denn ihre Zabl ist zu groß, trotzdem hoffen wir, daß eS zu einer Verständigung kommt. Wir gestehen aber auch, daß wir, wenn eS nicht dazu kommt, zwar ein Bedauern darüber empfinden werden, wenn die Berufung, die Entschädigung unschuldig Verurtheilter und manche andere Verbesserung auf dies- Weise zu Falle kommen, daß aber unser Sckmerz erträglich sein wird. Denn eS handelt sich bei der Justiznovelle doch im Großen und Ganzen nur um Flickwcrk und Stückwerk. Wir sieben auf dem Standpunkte Derer, denen ungleich wichtiger als die Berufung eine gründ liche Umgestaltung deS Vorverfahrens und eine andere Zu sammensetzung der Gcricktsböse ist. Zu unserer Freude haben die Beralhungen des Reichstages gezeigt, daß wenigstens in ter letzteren Hinsicht die Stimmung in weiten Kreisen eine günstige ist. Und so seben wir voraus, daß, mag nun diese Justiznovelle zur Verabschiedung gelangen oder nickt, in nicht allzu ferner Zeit andere und durchgreifendere Reformen deS Strafverfahrens die öffentliche Meinung und die Volks vertretung beschäftigen werden. Deutsches Reich. Leipzig, 1. December. Zur Frage der Ver jährung von Preßdelicten, die in letzter Zeit zu großen Debatten nicht nur in Fachzeitschriften, sondern auch in der Tagespresse geführt hat, äußert sich jetzt, wie bereits kurz erwähnt, in der „Deutschen Juristenzeilung" ProfessorDr.H. von Marquardsen, der seiner Zeit an der Berathung deS Prcßgesctzes mitgewirkl und ein hervorragender Commentator desselben ist. Er stebt nicht auf dem Stand punkte, welchen das königlich sächsische Oberlandesgericht in seinem mehrfach erwähnten Urtheil eingenommen hat und welches unter Anderen auch die Zustimmung von AppeliuS, Stenglein rc. gefunden hat. Auch Marquardsen ist der An sicht, daß die Verjährungsfrist mit demerstenVerb reitungs- acl bei Preßdelicten beginne, da sonst die „kurze Verjährung", die der Reichstag für Preßdelicte einfübren wollte, ganz illusorisch würde. Er weist darauf hin, daß es notorisch sei, daß bei dem Erlaß des Paßgesetzes, und ganz speciell bei der Bestimmung über die kurze Verjährungsfrist, die periodische Presse vor allen Dingen geschützt werden sollte. Marquardsen ist mit Groschuff, dessen Ausführungen früher an dieser Stelle wieder-gegeben wurden, der Meinung, daß durch jede weitere Lerbreitungskanblung nach der ersten nickt ein neuer rechtswidriger Erfolg hervor gebracht wcrde, sondern durch jede folgende Perbreitungshand lung, gerade so wie durch die erstes nur der eine Erfolg bewirkt wcrde, daß die Druckschrift einer unbestimmten Viel heit von Personen zugänglich ist. Sonach können auch mehrere Verbreitungshandlungen eines und desselben Ver breiters nicht unter den Begriff des fortgesetzten Vergehens als aus einem Entschlüsse hervorgegangene Mehrheit von Slrafthalen gebracht werden. Marquardsen billigt den Satz eines klrtheils deS preußischen Kammer gerichts: „Tie Ansicht, daß die Verjährung der Preß tel cte von rem Beginn der Verbreitung zu laufen an sängt, entspricht allein dem Zwecke der kurzen Verjährungs frist, während durch Anwendung der gegentheiligen Ansicht die Bestimmung des 22 deS ReichSpreßgesetzeS illusorisch gemacht wird." Dann fährt Marquardsen fort: „Gegen eine Auslegung, welche den Zweck eine« Gesetzes illusorisch mackt, darf man sich getrost und mit guter Jurisprudenz verwahren, und eS will dagegen nichts verschlagen, wenn eingewendel wird, das; die Bestimmung, wonach bei Preßvergehen der Beginn der Verjährungsfrist mit der ersten Verbreitung Zusammenfalle, in früheren Preßgesctzcn, aber nicht ausdrücklich in dem Reichspreßgesetze ausgesprochen sei. Man hat dies einfach für selbstverständlich gehalten, und gerade das Ungeheuerliche deS praktischen Resultates, wozu die entgegengesetzte, neuerlich vereinzelt aufgetauchte Ansicht führen würde, ist der beste Beweis für die Selbstverständlichkeit der bis jetzt herrschenden Ansicht." Für Diejenigen, welche im Dienste der Presse stehen, sind diese Ausführungen Marquardsen's natürlich äußerst sympathisch. Indessen, wenn auch er und Die, welche mit ihm denselben Standpunkt theilen, darthun, daß die gegentheilige Ansicht nur auf einer falschen Interpretation beruhe, so halten wir es doch für besser und sicherer, daß bei einer Revision dcS PreßgesetzeS wieder, wie in früheren Preßgesetzen, gesetzlich ausgesprochen wird, daß der Beginn der Verjährungsfrist bei Preßdelicten mit der ersten Ver- breituiigöhandlung zusammenfällt. * Leipzig, l. December. In unserer Nummer 587 vom 18. November d. I. haben wir auf ein Inserat der „Franks. Ztg." hiugewiesen, in dem die Prinzessin von Pleß „eines nationalen Zweckes wegen" alle an Deutsche verheiratbete Engländerinnen ohne Unterschied des Standes um Ein sendung ihrer Adressen bat. Wir stellten damals fest, daß die Prinzessin von Pleß von Geburt Engländerin sei, v.nd bemerkten, aus dem obigen Inserat gehe nickt hervor, ob es sich um einen deutsch-nationalen oder um einen englisch nationalen Zweck handele. Heute erfahren wir aus den „Bert. N. N.", daß die Veranstaltung einer Sammlung zur Beschaffung eines Geschenkes für die Königin Victoria zu deren bevorstehendem, seckzigsirbrigem Negierungs-Jubiläum geplant sei. — Der „nationale Zweck" ist also ein englisch nationaler. * Berlin, 1. December. Der kürzlich vom Reichs-Ver- sicheruugsamt genehmigte Nachtrag zu den Unfallver hütungs-Vorschriften der See - Bcrufsaenosseu- schafl enthält, außer den bereits angeführten Vorschriften über wasserdichte Schotten für Passagierdampfer, eine Reibe anderer wichtiger Bestimmungen zur Erhöhung der Sicherheit der Seeschifffahrt. Es gilt dies namentlich von den Vor schriften, welche die Ausrüstung der Schiffe mit einer genügen den Anzahl zweckmäßig gebauter Rettungsboote, die aus reichende Größe besitzen und zum sofortigen Aussehen stets bereit sein müssen, betreffen. Dem ost gehörten Vorwurf, Feuilleton. Goethe's Hermann und Dorothea. Hundert Jahre nach seinem Entstehen. Bon vr. Ernst Maasburg. Nachdruck verboten. Bücher haben ihre Schicksale, wie die Menschen; und wie hervorragende Menschen, so wirken hervorragende Bücher oft durch ihr erhabenes Beispiel und greifen tief und ein schneidend nicht nur in das Leben der Individuen, sondern sogar der Nationen ein. Wer kann ermessen, welche Er rungenschaften wir vielleicht in letzter Linie einem werthvollen Buche verdanken, wer sagen, wie viel Antheil an seine» eigenen Charakter» Bildung gewisse Bücher haben. Ja, einige Werke haben geradezu eine welthistorische Bedeutung erlangt, wie z. B. Rousseau's „Lwilo" und „Lontraot social". Wie viel Geister hat ein „Hamlet" in Gäbrung versetzt, wie viele ein „Faust" überwältigt und entzückt! Einer am andern rankt sich empor, jeder Stand, jedes Wesen findet seine befruchtenden Ideale. So die deutsche Hausfrau ihre „Dorothea", jene sinnige Meister gestalt aus dem Zaubergriffel deS gereiften, durch Schiller'« Freundschaft zu seinen großartigsten Schöpfungen begeisterten Dichters. „Hermann und Dorothea" — wie viele Frauen und Mädchen haben sich in dem lieblichen Idyll berauscht nnd sich aus ihm heran» ihr Ideal des Lebens und der Häuslichkeit gebildet, wie viele gemüthvolle Herzen haben sich erbaut an dem reizvollen, erschütternden Gemälde schlichter einfacher Sitten und echt deutscher Treue und Biederkeit. Der Einfluß eine» solchen BuckeS ist darum nicht minder ge waltig, weil er ein stiller ist und nickt so blendend und stürmisch zu Tage tritt, eS wirkt und arbeitet still und emsig wie die deutsche Hausfrau, deren schönstes Sinnbild und Beispiel e» unS vor Augen führt. Wissen wir» was wir idm danken? Wer hat den ruhigen, fleißigen Weg mit Menschen augen verfolgen können? Hundert Jahre sind eine lange Zeit, und da, was gut wirk», noch länger wirkt, als eS sonst Jemand vermag, so erscheint sie uns noch länger al» ge wöhnlich. Denn hundert Jahre sind vergangen, seit Goethe mit dieser Perle deutscher Dichtungen seiner Nation ein unver gängliche» , unschätzbare» Geschenk gemacht hat. In der Hauptsache entstand dieses Meisterwerk AuSgang» 1796, wenn e» auch erst in der ersten Hälfte de» darauf folgenden Jahre» zur Vollendung und Veröffentlichung kam. Sollen wir, die wir so gern feiernd und bewundernd die Thaten der Vergangenheit un» zurückrufen, am Gedenken einer literari schen Tbat von so hoher Bedeutung vorübergeben? Nicht un« erinnern, wie der Plan dazu gereift, wie e» entstanden und gewachsen ist? Da« herrliche Idyll ist wie so viele andere gewaltige Geiste«erzeognifse der beiden Heroen der deutschen Dichtung ein Product deS großen Jahrzehnts, jener Jahre innigster Freundschast zwischen den Großen von Weimar, in welcher einer aus dem andern die hehre Kraft neuen Schaffens zog und sich beide zu immer neuen und schöneren Gesängen gegenseitig begeisterten. Goethe hatte vergeblich mit seinen hohcitSvollen Tragödien „Jphigenia" und „Tasso" auf Geist und Herz seiner Zeit zu wirken gesucht, die schwankende Gunst deS Publikums batte den einst so gefeierten Verfasser des „Götz von Berlichingen" und der „Leiden deS jungen Werlber" verlassen, um sein flaches Interesse einem Kotzebue und Jff- land zuzuwendrn — nun zog sich der große Edle, tief ver stimmt, in sich selbst zurück, der Menschbeit die reichen, in ihm noch aufgespeicherten Schätze vorenthaltend. Da erstand ihm in Schiller der Freund, der seine poetische Jugend neu erweckte. Schiller, selbst von tiefer Verstimmung Uber das Mißverhältniß zwischen Ideal und Leben ergriffen und seit Jahren schweigsam, trat durch die Begründung der „Horen", an welcher Goetbe mitarbeitete, vielem näher und schnell fesselte ein inniges geistiges Band die einzigen Männer an einander, um erst durch den leider allzu frühen Tod de« einen von idnen gelöst zu werden. Was Deutschland dieser Zeit verdankt (1795—1805), ist tief eingegraben im Herzen jedes nrahrbaft Gebildeten. Der „Wilhelm Meister", die „keinen", die wunderbaren Balladen, „Hermann und Dorothea" und andere der gereiftesten Werke verdanken wir dieser olympischen Periode deutschen Dichterlebens. Die Idee entstand zuerst in ihm bei der Lektüre der Göckingschen Geschichte der vertriebenen Salzburger. Be kanntlich hatte Erzbischof Graf von Firmian in den Jabren 1731—32 seine protestantischen Unterlbanen unter dem Vor geben, daß sie eine Verschwörung beabsichtigt hätten, auS dem Lande vertrieben, welches dadurch um 30 000 fleißige und ruhige Bürger ärmer wurde, die man in Preußen und anderen Ländern mit Freuden willkommen hieß. Göcking berichtet nun u. A. eine Anekdote, wonach ein reicher Bürger zu Alt mühl im Oettingischen einen Sohn besaß, den er angeblich zum Heirathen ermunterte. Unter den durch das Städtchen wandernden vertriebenen Salzburgern erblickte der Sohn «in Mädchen, da- den schlummernden Funken der Leidenschaft in ihm erweckte. Er erkundigte sich nach ihm und hörte nur LobenSwerthes. Da beschloß er, da» Mädchen zu seiner Frau zu machen. Der Vater und einige Freunde de» Hause», darunter der Pastor, bemühten sich umsonst, ihn von seinem Entschlüsse abzubringen» schließlich willigten di« Eltern auf den Ratb de» Pfarrers, der Gotte» Fügung in dem Entschlüsse de» SobneS erblickte, ein, der Sohn suchte das Mädchen auf und brachte e» zunächst unter dem Vorwande, daß eS al» Magd bei den Ettern dienen solle, in» Haus. A!« die Salzbuigerin aber vernabm, daß sie den Sodn beiratben solle, dachte sie, man halte sie zum Besten; endlich überzeugte man sie vom Ernste der Absicht und sie willigte mit der Erklärung rin, sie wolle ihren Mann halten wie ihr Auge im Kopse. Auch kam sie nicht so arm zu ihm, wie man vermuthrt, sondern zog, als sie ein Ehepfand erhielt, einen Beutel mit 200 Ducaten hervor, die sie ihrem Verlobten als „Mahlschatz" überreichte. Anfangs dachte Goethe nur daran, den Stoff zu einem kleinen idyllischen Gedicht zu verarbeiten. Bald jedoch wuchs die Idee in ihm und gestaltete sich zu einem größeren epischen Gedichte auS, wie er sich auch zugleich entschloß, die Handlung in die Gegenwart zu verlegen, und an die Stelle der Protestantischen Salzburger die französischen Emigranten zu setzen, von denen 1795 Züge bi» selbst inS weimariscke Land hineinkamen. Der Gegenstand erhielt durch diese glück liche Aenderung nicht nur einen aktuellen, sondern auch einen allgemeineren Charakter, er wurde aus dem Rabmen dcS bloßen Idylls berauSgenommen und zu einem Epos mit kräftiger lebendiger Handlung erweitert unter voller Bewahrung aller zarten und reizvollen Züge und Schilderungen der Idylle. Der Dichter ging mit Rieseueifer im September 1796 ans Werk, neun Tage hintereinander schrieb er jeden Tag über 150 Verse. Schiller, der von Anfang an daS regste Interesse für die Arbeit empfand, tonnte die Leichtigkeit und Schnelligkeit, mit welcher Goethe schaffte, nicht genug bewundern. Je weiter es aber vorschritt — und nach wenig Wochen lagen schon mehrere Gesänge fertig vor — je mehr begeisterte sich der Dichter an seinem Stoff, er fuhr fort, zu dichten, zu über arbeiten, zu ändern und setzte schließlich an die Stelle der ursprünglich geplanten seckS Gesänge neun, von denen jeder nach einer der Musen benannt wurde. Im Januar 1797 schloß Goetbe bereits den VerlagScontract mit dem Buch händler Vieweg in Berlin und am 3. Juni 1797 konnte er den letzten Gesang fortsckicken. Die liebreizende Dichtung erntete im Volke den verdienten Beifall, so baß durch sie gewissermaßen der Friede des Dichters mit dem Publicum zu Stande kam, wie er sich auch in ibr mit der französischen Revolution abgesunden hatte. Auch die maßgebenden Männer waren voll Bewunderung. W. von Humboldt schrieb seine „Aestbetischen Versuche über Goethe s Hermann und Dorothea", Boß, der bis dahin den Rubin deS größten deutschen JdyllendickterS genoß, fand Stellen darin, für die er seine ganze „Luise" hingeben würde, und in der Thal kann sich die, wenn auch noch so gelungene Kleinmalerei des friedlichen Dorflebens und der stillen Reize der ländlichen Natur, wie sie Voß uns giebt, mit diesem wundervollen Gemälde echt bürgerlich-menschlichen, ja echt deutschen Empfindens nicht messen, das aus dem engen Rahmen kleinbürgerlichen Stilllebens heraus den Blick auf daS große Welttbeater öffnet und eine weite Perspective zu enthüllen weiß. Schiller war voll Be wunderung, er hatte zur Tbäligkeit angefeuert, wenn der Ver fasser zu zögern begann; nach der Vollendung bezeichnete er daS Gedicht als ein Kunstwerk ersten Ranges. „Sie werden gestehen", schrieb er an Meyer, „daß das Gedicht der Gipfel seiner und unserer ganzen neueren Kunst ist. Ich habe eS entstehen sehen und mich fast ebenso über di« Art der Ent- stebung als über da» Werk verwundert. Während wir Anderen mühsam sammeln und prüfen müssen, nm etwas Leidliches langsam hervorzubringen, darf »r nur leise an dem Baume sckütteln, um sich die schönsten Früchte, reif und schwer, zusallen zu lassen." Auch der Dichter selbst verkannte die Bedeutung seiner Aufgabe nicht, wie einige Stellen aus Briefen an seinen Freund H. Meyer beweisen. „Der Gegenstand", heißt eS in einem Briefe, „ist äußerst glücklich, ein Sujet, wie man es in seinem Leben vielleicht nicht zweimal findet." Und in einem andern Schreiben sagt er: „Ich habe das rein Menschliche der Existenz einer kleinen Stadt in dem epischen Schmelztiegel von seinen Schlacken abzuscheiden gesucht und zugleich die großen Bewegungen und Veränderungen deS WelttheaterS aus einem kleinen Spiegel zurückzuwerfen getrachtet. Die Zeit der Handlung ist ungefähr im vergangenen August, und ick babe die Kühnheit meines Unternehmens nicht eher wahr genommen, als bis das Schwerste schon überstanden war." Mit Recht wird von den Literarhistorikern „Hermann und Dorothea" als das „Meisterstück" der Epoche im Leben des Dichters, in welcher es entstand, bezeichnet; die Geschichte bat das Lob Schiller's bestätigt. Es ist eine Dichtung, die ewige Jugend genießt, weil sic ewige Schönheit besitzt; aus gestattet mit allem Schmuck, welchen Kunst zu geben vermag, ist sie ein kostbarer Schatz des deutschen Hauses geworden, und die Gestalten des edlen Bürgersohnes und der liebens würdigen Maid sind unseren Augen dank der sinnigen Vc. bildlichung durch geschickte Künstlerbände so vertraut geworden, wie sie es vom ersten Augenblicke an den Herzen waren. Man hat immer Dorothea als daS Muster der deutschen Hausfrau bezeichnet, und wir dürfen wohl noch heute, ob gleich die Zeit auch für die Frau ein anderes Gesetz gebracht bat, daS Mädchen glücklich Preisen, daS sich mit solchem Vor bilde zu messen weiß. Wie schön bezeichnen z. B. die Worte Dorothea'S die Stellung der Frau im häuslichen Leben: „Tienen lerne bei Zeiten das Weib nach ihrer Bestimmung; A Denn durch Dienen allein gelangt sie endlich zum Herrschen, Zu der verdienten Gewalt, die doch ihr im Hause gehöret. Dienet die Schwester dem Bruder doch früh, sie dienet den Eltern, Und ihr Leben ist immer ein ewige» Kommen und Gehen, Oder rin Heben und Tragen, Bereiten und Schaffen für Andre." Und Hermann ist nicht nur der Typu» des deutschen Bürger sohne», sondern auch der des deutschen Helden. Zufrieden in seinem kleinen Kreise, still wirkend nnd emsig schaffend, woblthätig und einfach, weiß er doch HauS und Reich zu vertheidigeu gegen den Feind, wenn die Noth eS erfordert. „Dies ist unser! so laßt unS sagen und so es behaupten! Denn «» werden noch stets die entschloßenen Bölter gepriesen, Die für Gott und Gesetz, für Eltern, Weiber und Kinder Stritten und gegen den Feind zusainmenstehend erlagen. Du bist mein, und nun ist LaS Meine meiner al« jemals. Nicht mit Kummer will ich » bewahren und segnend genießen. Sondern mit Muth und Kraft. Und drohen diesmal die Feinde, Oder künftig, so rüste mich selbst nnd reiche die Waffen. Weiß ich durch Dich nur versorgt da- Hau» und di» liebenden Eltern, O so stellt sich die Brust dem Feinde sicher entgegen. Und gedächte Jeder wie ich, so stünde die Macht auf Gegen dir Macht, und wir erfreuten un» Alle de» Friedens."
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