Uie weitverbreitete Ansicht, man müsse vor der geistigen Auseinander- setjung mit einem modernen Bilde wissen, was der Maler damit hat sagen wollen, ist irrig. Die Deutung eines Kunstwerkes ist Sache des Beschauers. Es ist sekundär, was den Künstler beim Schaffen bewegt hat, auf welchen geraden oder ungeraden Wegen er zu dieser oder jener Form gelangt ist. Es ist unwichtig zu wissen, welche Vorstellungen und inneren Regungen ihn trieben. Es ist zwar für ihn von Bedeutung und vielleicht für uns interessant, aber für das Kunsterlebnis ist es entbehrlich. Wir wissen nicht, welche Gefühle und Gedanken die ägyptischen Plastiker beherrschte, als sie ihre unsterblichen Werke schufen; und doch begeistern sie immer aufs neue. Selbst wenn wir wüßten, welche thematischen und geistigen Forderungen im einzelnen damals an sie gestellt wurden, und wie der geistige Schaffensprozeß vor sich ging, wir hätten kaum innere Beziehungen dazu, und das Kunsterlebnis könnte deshalb nicht tief reichender sein. Es war zu allen Zeiten so: Der Künstler schafft das Werk; er bemüht sich alles hineirikulegen, was in ihm zur Erlösung drängt; er ringt um die richtigste Form für das, was er gestalten will. Sein Genius aber führt ihm die Hand. Kunst läßt sich nicht erzwingen, auch mit Fleiß und Hin gabe nicht, wenn der Genius schweigt. Künstlertum ist Begnadung, Be rufung. Und nur der Beschauer eines Kunstwerkes wird dieses erleben können, in dem selbst der Genius wirksam ist. Amusischen Menschen wird die Kunst verschlossen bleiben. Es ist nußlos, sie zum Kunstver ständnis und Kunstgenuß hinleiten zu wollen. Man muß ein Organ, wie für die Musik, auch für die bildende Kunst haben. Aber in viel mehr Menschen, als wir annehmen, hat die Muse eine Heimat, sie schläft nur und will geweckt sein. Und wenn sie erwacht ist, muß man intensivst bemüht sein, sie aus der Verstrickung von Vorurteilen, Hemmungen, Verbildungen, aus der Ratio zu lösen. Dann wird sie uns beschenken mit den beglückenden Erlebnissen, die nur sie imstande ist zu vermitteln. Wie Blumen, die in tausendfältigen Formen ihre Schönheit offenbaren, deren Geseßmäßigkeit, Gebundenheit an ein unerforschbares System der Allgewalt Natur auf gehoben zu sein scheint, die keine vergleichbaren Vorbilder haben, die beinahe zivecklos ihre Pracht und ihren Duft ver schwenden, so blüht die Kunst, funkelnde Krone unseres Seins, leßtes Ziel des menschlichen Geistes und — praktisch fast ohne Wert.