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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 08.01.1900
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1900-01-08
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19000108019
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1900010801
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1900010801
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1900
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Größere Schriften laut unserem Preis- verzrichniß. Tabellarischer und Ziffernlatz »ach höherem Tarif. Extra-Beilagen (gefalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbesörderung KO.—, Mit Postbeförderung 70.—. Äunahmeschluß siir Anzeigen: Abend-AuSgabe: Vormittags 10 Uhr. Margen-An-gabe: Nachmittags 4 Uhr. Bei de» Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stunde früher. Anreisen find stet» an die Expedition zu richten. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig. Montag den 8. Januar 1900. 91. Jahrgang. Wohlfahrtspflege in sächsischen Dörfern. Bon Johannes Corvey. (Nachdruck vc>l>oirn.> Ein tüchtiger Bauernstand bleibt die Urquelle der VolkSkrast. Zwar hat die neuere Statistik darauf hingewiesen, daß in den rheinländisch - westfälischen Jndustriobezirkcn die Militärtauglich keit größer ist, als in einzelnen ostpreußischen land-wirthschaft- lichen Gebieten, doch diese Thatsache darf man nicht mißverstehen. Die Ahnen der heutigen Industriearbeiter sind meistens Bauern oder landwirthschastliche Dienstleute. Vielfach ist die groß städtische Fabrikbevölkerung selbst in Dörfern geboren und groß gewachsen. In ihr schlummern also noch Kräfte, die sie der bäuerlichen Abstammung verdankt. Mit Recht konnte daher Roscher den Bauernstand als die Wurzel des DoAsbaumes bezeichnen. Aber dieser Wurzel fehlt es an genügender Nahrung. Der alte Mutterboden ist erschöpft, der Baum trägt spärliche Frucht. AuS der Sprache des Bildes in jene des Politikers und DolkSwirthes übersetzt, heißt das: die Landwirthschaft leidet. Hieran ist nicht zu zweifeln. Die Anschauungen gehen nur darin, und allerdings sehr weit, auseinander, auf welche Ursachen die üblen Verhältnisse der Landwirthschaft zurückzuführen sind, und welche Wege man einzuschlagen hat, um dem Bauernstände Hilfe zu bringen. Wer glaubt, daß diese Hilfe lediglich materieller Natur sein müsse, der bleibt mit seinem Urtheil sehr an der Oberfläche. Bei der Beseitigung übler bäuerlicher Zustände handelt es sich zu einem sehr wesentlichen Theile um Fragen derBildung undMoral. Bisher hat man mehr die wirthschastliche Lage in den Dörfern, als die dort vielfach 'herrschende geistige und sittliche Noth er örtert. Die wirthschaftlichen Verhältnisse hängen jedoch auch auf dem Lande mit den geistigen und sittlichen Zuständen so eng zu sammen, daß die letzteren die Aufmerksamkeit in hervorragender Weise herausfordern. Auch -in Beziehung auf die bäuerliche Be völkerung kann man ost sagen: Schafft tüchtigere Menschen und ihr schalfft bessere Zustände. Diese Erfahrung hat die Social politik als Richtschnur'zu nehmen, wenn sie zu tieferen Erfolgen gelangen will. Vielleicht wird es für die Entwickelung unserer bäuerlichen Verhältnisse ein Glück sein, wenn man allgemeiner erkennt, daß die landwirthschastliche Frage im Wesentlichen auch eine Bildungs frage ist. Von dieser Anschauung geht auch die mit Unterstützung der preußischen Regierung vor längerer Zeit in das Leben gerufene „Centralstelle für Wohlfahrtspflege auf dem Lande" auS. DaS ArbeitSprvgramm und die Forderungen dieser eine Reihe hervorragender Socialpolitiker zu gemeinsamer Thätigkeit zusam'mentsassenden Centrakstelle haben auch in Sachsen viel Aufmerksamkeit gefunden. Zur Besserung der ländlichen Verhältnisse wird von der Centr-alstelle eine stärkere Entwickelung des Genossenschaftswesens in den Dörfern verlangt. Vernachlässigte Zweige der Land- wirthschaft sollen gefördert, neue Erwerbsquellen neben der eigentlichen Landwirthschaft erschlossen werden. Der Flachsbau und die mit ihm verbundenen Arbeiten sollen neu belebt, seine Bedeutung für das ländliche VolkSthum soll die rechte Würdigung wieder erhalten. Den sogenannten landwirthschastlichen Neben betrieben soll mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden, man soll industrielle NebenerwertbSzweige zur Förderung des HauSfleißes, z. B. Teppichknüpfen, Holzschnitzen, Glasarbeiten, Filetstricken u. s. w. mehr als bisher auch in Dörfer verpflanzen, soll den Handarbeitsunterricht fördern, Absatzstellen für ländliche Er zeugnisse und auch für jene neu zu gründenden Nebenerwerbs- Meige in den Städten schaffen, dem kleinen Kram- und Hausirer- handel entgegentreten und Sparcassen-Einrichtungen fördern. Damit ist das Programm keineswegs erschöpft. Auch die Rechts pflege soll verbessert, der Rechtsschutz vergrößert, der Wucher und Schwindel in jeder Gestalt bekämpft-werden. Wo die reine Geld löhnung herrscht, soll das landwirthschastliche Löhnungswesen resormirt werden. Ferner soll man Sorg« für ein freundliches, wohliges Heim hegen, die Allmende erhalten oder wiedergewinnen, die idealen Beziehungen der Arbeiterschaft im Gemeindeleben fördern, die sittlich und geistig tüchtigen Arbeiter an den Ehren ämtern der Gemeinde theilnehmen lassen, örtliche Wohlfahrts vereine bilden, daS Gesindemakler-llnwesen bekämpfen, die haus- wirthschaftliche Ausbildung der Mädchen und Frauen fördern, für eine ordnungsmäßige Gemeindepflege in sanitärer und in humanitärer Beziehung sorgen, die Trunksucht bekämpfen und für Einrichtung von K'leinkinderbewahranstakten wirken. Man soll den poetischen Gehalt im Jugend- und Volksleben fördern, dias GemeinsckaftSleben veredeln, für gute DolkSlectüre sorgen, das Heimgefühl stärken, rechte SonntagSpflege einsühren und einen leistungsfähigen Kleingewerbestand auf -dem Lande schaffen, um die Dörfer in allen Beziehungen lebensvoll auSzugestalten. ES ist nicht möglich, in einem Athem alle Maßregeln aufzu zählen, welche die Centralstelle für nöthig hält, die Zustände in den Dörfern zu bessern. Man will zu viel erreichen und er reicht nichts. Thadsächlich sind bisher die Wirkungen der Central stelle auf die ländlichen Verhältnisse in Deutschland fast gleich Null gewesen. Wirthschäftlich« und sittliche Zustände lassen sich durch ein ideal gedachtes Programm nicht aus der Welt schaffen. Harte Thatsachen -weichen schönen Worten und Wünschen nicht, und der deutsch« Bauer ist aus einem anderen Holze geschnitzt, als manche eifrige Freunde der Wohlfahrtspflege auf dem Lande anzunehmen scheinen. Diele Forderungen der Centralstelle sind überhaupt nicht durchführbar, andere würden die Verhältnisse auf dem Lande eher verschlechtern, als verbessern. Im Princip sind jedoch die Bestrebungen derselben anzuerkennen und zu unterstützen. Auch die Bundesregierungen hab«n in letzter Zeit der länd lichen Wohlfahrtspflege mehr Aufmerksamkeit zugewendet. Je mehr Wohlfahrtspflege und gemeinnütziges Wirken in den Städten sich entwickelt, um so fühlbarer wird der große Gegensatz, der auch in dieser Beziehung in den letzten Jahrzehnten zwischen Land und Stadt entstanden ist. Man sucht nach Mitteln, um die Entvölkerung des flachen Landes, den Zug nach der Stadt zu hemmen, und glaubt, ein Hauptmittel söi in der kräftigen Aus gestaltung der ländlichen Wohlfahrtspflege gefunden, die nicht nur die Abwanderung nach der Stadt eindämmen, sondern auch im Uebrigen die Verhältnisse der landwirthschastlichen Bevölke rung bessern -werde. Diese Annahme ist richtig, wenn man sie mit bestimmten Einschränkungen gelten läßt. Wir dürfen daher hoffen, daß sowohl die Reichsrrgirrung, wie die Einzel staaten in der Zukunft die Beförderung ländlicher Wohlfahrts einrichtungen als «ine sehr wichtige social« Aufgabe betrachten werden. In der Sitzung des preußischen Abgeordnetenhauses vom 2. Februar dieses Jahres hat Minister v. Miquel betont, daß man für Wohlfahrtseinrichtungen auf dem Lande größere Opfer bringen müsse, im preußischen Herrenhause hat man am 12. Mai beschlossen, die engeren und weiteren Communalverbände aufzufordern, Einrichtungen zu treffen, oder aus öffentlichen Mitteln zu unterstützen, durch die den jungen Leuten unter 17 Jahren eine bessere Unterhaltung, als sie daS Wirthshaus biete, verschafft werde; die sächsische Regierung verfolgt die ein zelnen Bestrebungen nach besserer Wohlfahrtspflege auf dem 'Lande mit großer AufmerUamkit, und auch auS andere» deutschen Bundesstaaten sind Beweise dafür vorhanden, daß man derartige Bestrebungen zu fördern sucht. Mißgriffe wird man dabei zu verhüten haben; nicht nur daß man durch sie Kraft und Geld unnütz verschwendet, der Bauer wird auch kopfscheu und mißtrauisch gegen Bestrebungen und Ge danken, die im Wesentlichen doch von außen in das Dorfleben hineingetraaen werden müssen. Man hüte sich auch, den Ein fluß von Pfarrer und Lehrer auf das Dorflvben und den An- schäuungskreis der Landbewohner zu überschätzen. Die Zahl der Pfarrer und Lehrer, die einen Theil ihrer besten Kraft in deutschen Dörfern im Dienste von irgend welchen Wohlsahrts- bcstrcbungen gänzlich oder beinahe vergeblich aufreihen, ist außer ordentlich groß. Der Bauer ist ein Egoist und Individualist; das Gefühl der selbstlosen Gemeinnützigkeit ist ihm meistens fremd. Sein Charakter ist ihm durch eine harte geschichtliche Vergangenheit anerzogen; in Jahrhunderten ist er so gehämmert, wie er sich heute darstellt. Man darf sich nicht darübA täuschen, daß der Umwarrdelungsproceß zu höheren Lebensformen auf dem Lande trotz der Intensität des CulturlebenS der Gegenwart, ein langsamer sein wird. Am leichtesten ist der deutsche Bauer für solche Bestrebungen zu erwärmen, von denen er sich einen unmittelbaren wirthschast- lichen Nutzen verspricht. Die guten Erfolge, welche das Genossen schaftswesen auf dem Lande in den letzten Jahren zu verzeichnen hat, beweisen daS. Freilich setzt, nach unseren Erfahrungen, auch die Durchdringung einer -bäuerlichen Gemeinde mit genossen- schriftlichem Geiste, in derselben immer eine gewisse wirthschast- liche Energie, eine höhere Einsicht, die das ausgesprochene Jndi- vidualitätsgefühl beherrscht, voraus. In Bauerngemrindcn, die geistig und wirthschäftlich sehr tief stehen, vermag meistens auch der genossenschaftliche Gedanke entweder gar nicht, oder doch nur nach unsäglichen Mühen Wurzel zu schlagen. Die meisten Bauern stehen genossenschaftlichen Unternehmungen noch immer mit Miß trauen gegenüber. Verunglückt ein derartiges Unternehmen, so sind in demselben ländlichen Bezirk genossenschaftliche Bestrebungen meistens für lange Jähre aussichtslos. Das ist selbst inS achsen der Fall, wo die Durchdringung der ländlichen Bevölkerung mit städtischen Anschauungen und modernen Gedanken vielleicht größer ist, als in irgend einem Bundesstaat. Es ist also unbe dingt nothwendig, bei der Begründung landwirthschaftlicher Ge nossenschaften mit großer Umsicht zu verfahren. Man soll sich hüten, vorvilig Unternehmungen auf ungenügender Grundlage in da» Lcben zu r-i-ftn, Unternehmungen, die nach einet kurzen, oft an überschwänglichen Hoffnungen reichen Zeit, die Er wartungen nicht erfüllen und den betheiligten Landwirthen Nachtheil statt Nutzen bringen. Durch derartige Untemehmungen wird nicht nur der Einzelne, sondern auch das Ganze, die AuS- FerrrHetsir. Zweierlei Liebe. Novellette von Henry Germain. Autorisirte Uebersetzung von A. Friedheim. Nachdruck verbelen. I. JaqueS Renault stand an dem Fenster seines Ateliers und sah mit träumerischem Blick in die Ferne, wo in verwischten Umrissen in der hereinbrechendcn Dämmerung Himmel und Erde in Ein- zusammen zu gehen schienen. Melancholisch blickte Renault ohne zu sehen ins Weite, und ein Ausdruck von Qual und Angst war auf dem Gesicht des alternden ManneS zu lesen. Was Jaques Renault vor Kurzem erfahren, hatte ihn voll ständig aus dem Gleichgewicht gebracht, all seine Fähigkeiten, seine so gepriesene Lebensweisheit, als „fertiger Mann" über den Haufen geworfen: er sah ein, daß er das Leben zu leicht ge nommen, sich trotz seiner „Mannheit", trotz seiner vorgeschrittenen Jahre, noch mit Illusionen abgegeben hatte, und daß er nun unter dem Zusammenbruch eben dieser Illusionen tief zu leiden haben würde. War eS denn wirklich wahr! Sollte er denn selbst die Liebe, die gestern noch sein ganzes Glück ausgemacht, sollte er sie selbst tödten, selbst aus seinem Herzen reißen? Diese Liebe, die so allmählich erblüht, aus Mitleid und dann auS Anhänglichkeit erstanden, ohne daß er, JaqueS Renault, eS selbst bemerkt! Ach! Warum hatte er damals Mitleid empfunden? Nein, wahrhaftig! Das Herz ist ein überflüssiges Organ, die Quelle moralischen Elends und thörichter Leiden! Hundertmal besser, als Egoist und Skeptiker sein Leben verbringen: Nicht- heilig halten, und daS Leben genießen, hieß überhaupt nur leben! Und JaqueS Renault's ganzes Leben seit den letzten 18 Jahren zog in dieser feierlichen, entscheidenden Stunde an seinem inneren Auge vorüber. Er sah wieder die ärmliche, fast leere Dachkammer, in welcher die sterbende Tänzerin — früher ein „Stern" am Theater himmel von Paris — lag. Von all den früheren Freunden, von all' den reichen Männern, die einst zu ihrer Glanzzeit vor ihr gekniet, um einen Blick, ein Lächeln gebettelt hatten, erinnerte sich auch nicht Einer deS armen Weibe». Er allein, der Nachbar, der für sie fast ein Fremder, blieb an ihrem Lager und vergaß darüber seinen Pinsel und seine Kunst; er allein hörte den letzten Seufzer de» Weibe», der Mutter. Denn in demselben Raum lag in kindlich friedlichem Schlaf ein zarte« Geschöpf, ein reizende», kleine» Mädchen; Ende und Anfang zweier Existenzen! Und plötzlich hatte die Sterbende, al» wenn e» ihr zum Be wußtsein gekommen, daß sie auf dieser Welt noch etwa» zu thun habe, die Lugen aufgeschlagen, hatte sich mit Aufbietung aller Kraft in die Höhe gerichtet, und dann mit angstvoll auf da» Kind gerichteten Blicken geflüstert: „Sie hat Niemand mehr, erbarmt Euch ihrer!" Erst hatte er gezögert. Wa» sollte er, der 30jährige, der unabhängige Künstler, der überhaupt keinen Zwang duldete, sich eine solche Last aushalsrn lassen! Aber der Blick der Sterbenden war in seinem stummen Flehen, in der qualvollen Angst noch beredter al» die gestammelten Worte um Erbarmen, so daß er dem Manne mächtig an» Herz griff, und fast unbewußt sagte er: „Ja, ich schwöre eS Euch! Die Kleine soll nicht verlassen sein." Bald darauf war die Kranke für immer eingeschlafrn, so sanft und mit einem so friedvollen Lächeln auf den Zügen, als wenn daS Leben nur Sonnenschein für sie gehabt habe. Dann hatte JaqueS daS Kind zu sich hinüber getragen und es der Obhut se- alten Wärterin anvertraut; danach hätte er sich um daS Be-^bniß gekümmert. II. Einige Tage später war von dem alten Jaques Renault, dem Zwanglosesten der Zwanglosen, nichts mehr übrig. Wenn er sich, sowie die Dämmerstunde angebrochen, hastig von seinen Kameraden im CafS trennte, so antwortete er stets auf ihre Neckereien und Fragen mit einem: „Ich kann nicht bleiben, eS ist unmöglich! Die Kleine wartet auf mich!" „Die Kleine" war Julia, da» Kind der Tänzerin. Und merkwürdig, je mehr ihm daS Kind an» Herz wuchs, je ehrgeiziger wurde er als Künstler. Er, der sich früher über die Ausstellungen, ZeitungSreclamen, Kunsthändler, kurz über Mes, was zu Ehre und Reichthum führte, lustig gemacht hatte, wurde nun plötzlich berechnend, be dacht auf klingenden Lohn und fleißiger. Und die „Kleine" wurde größer und wunderhübsch. In Jaques Renault'S Atelier reihte sich allmählich eine Skizze von Julia's reizendem Köpfchen an die andere. Sie war inzwischen 10 Jahre geworden, und sich selbst unbewußt, hatte daS kleine Geschöpf in der verhältnißmäßig kurzen Zeit einen ganz anderen Menschen au» JaqueS-Renault gemacht. Durch den Fleiß des Künstler» kam Ordnung und Wohlstand, ja allmählich sogar LuxuS in da» Heim, und JaqueS war bedacht, daS Nest für daS kleine Vögelchen, welches er sich eingefangen, und da» ihn durch sein Gezwitscher erfreute, so schön wie möglich zu gestalten. Das Drängen und Stürmen legte sich auch von selbst, al» Jahr sich an Jahr reihte, denn JaqueS Renault war jetzt ein Mann von 48 Jahren. Als Julia ihr 12. Jahr erreicht, gab Jaque» Renault sie in Pension; er wollte, daß sie eine gediegene, gute Erziehung ge nießen sollte und hielt e» für besser, da» Heranwachsende Mädchen nichts von dem Treiben de» Atelier» sehen zu lassen. Ueber vier Jahre blieb Julia in der Pension, und diese Trennung war dem Künstler sehr schwer: er sah seinen Liebling nur alle 14 Tage oder zu den großen Ferien, die ihm viel zu kurz erschienen. Aber die Tage der „Verbannung", wie er sie selbst nannte, brachte den Mann und da» junge Mädchen sich noch näher, al» sie eS schon gewesen, und al» Julia mit 18 Jahren zurllckkam, um nun selbstständig im Hause zu schalten und zu walten, da konnte Jaque» Renault seinen Augen kaum trauen. Au» der MLdchenkno»pe hatte sich die schönste, üppige Blume entfaltet. Schlank, biegsam und doch voll war die Gestalt. Da» reizende Köpfchen schmückte eine Fülle da» herrlichsten Haare», da» sich in unzähligen, eigensinnigen Löckchen in Stirn und Nacken dem Zwang entzog. Auf der Straße wendete man sich nach ihr um. Jaque» Renault lächelte dann mit einer gewissen Schadenfreude, al» wollte er sagen: Ja, ja, seht sie Euch an! Mir gehört sie! Durch mich ist sie so geworden! Und ich allein habe da» Recht, sie zu hören, zu sehen, mich ihrer zu freuen ... und zu leiden ... ja, zu leiden! . . . Denn er litt unter seinem Glücke, weil er eifersüchtig wurde. Er hatte Furcht! Fürchtet«, daß man sein Kleinod zu viel ansah, daß man eS begehren könne; fürchtete, daß man ihm die nehmen könne, die sein ganzes Lebeniglück auimachte, um die sich für ihn Alles drehte. Und er fürchtete sich vor sich selbst: Denn er liebte sie zu sehr! Seit einiger Zeit war das junge Mädchen verändert. Ihr gleichmäßiges Temperament war ins Schwanken gekommen, ihr Lachen verstummte oft tagelang, und ohne jeden Grund konnte sie Stunden hindurch 'einsam in ihrem Zimmer weilen, und träumend, die Hände müßig im Schooß, zum Fenster hinaus sehen. Erst beunruhigte sich JaqueS Renault darüber, dann dachte er, daß alle jungen Mädchen es Wohl so wie Julia machten und ließ sie gewähren, sie würde schon wieder die alte, fröhliche Julia werden. Aber was konnte der alternde Mann wissen, wie eS um ein junges Mädchenherz beschaffen ist, und JaqueS Renault irrte sich in seiner Annahme, daß seine „Lachtaube", wie er Julia oft nannte, bald wieder die Alte werden würde, denn für Julia hatte sich eine Wunderwelt erschlossen: daS Reich der Liebe. HaqueS Renault hatte einen sehr talentvollen, fleißigen Schüler von vielleicht 28 Jahren, der durch seine Begabung eben seinem Meister unter allen Schülern der liebste war und von ihm auch außerhalb deS Unterrichts herangezogen wurde. So kam eS, daß Georg Vernier öfter bei seinem Lehrer als Tischgast war, und während Julia's jugendlicher Zauber ihn sofort gefangen nahm, hatte auch daS junge Mädchen gar rasch dem hübschen, fröhlichen Gesellen all' ihre Zuneigung geschenkt. Es bedurfte nicht vieler Worte zwischen den beiden jungen Menschenkindern; sie verstanden sich sehr rasch, und so kam eS denn, daß Georg eines Abends mit Julia's Zustimmung bei JaqueS Renault um dessen Mündel warb. Den Maler traf da» wie ein Blitzschlag; vollständig ahnungs los dessen, waS sich da unter seinen Augen angesponnen, war er wie betäubt, und mußte nach einer Stütze suchen. Georg wurde beredter, stürmischer in seinem Werben, und JaqueS Renault versuchte sich zu fassen. „Er wollte überlegen, die Sache reiflich erwägen . . . Julia sei noch zu jung;. . . Georg solle am nächsten Tage eine Antwort haben." Und dann begann für ihn der Kampf mit seinem eigenen Ich, und die ganze Nacht währte die» Ringen zwischen Herz und Verstand.. . . AIS daS TageSgestirn siegreich am Firmament erschien, da hatte JaqueS Renault seinem Herzen den Todetstoß gegeben; al» Mann von Ehre wollte er handeln: Georg sollte Julia heirathen. Und merkwürdig eilig hatte der Maler e» nun mit den nöthigen Vorbereitungen; wenige Wochen darauf schon reiste Georg Dernier mit seiner jungen Frau nach Italien. AIS daS junge Paar, noch berauscht von al? dem Glück ihre» Dasein-, zu Zweien nach Pari» zurückkehrte, war Jacquech Re- nault auS der Stadt verschwunden, ohne irgend eine Nachricht für die Seinigen hinterlassen zu haben. Zuerst beunruhigte sich Georg sehr darüber; er ließ Nach forschungen anstellen und erlangte die Gewißheit, daß Julia'» Adoptiv-Dater lebte. Jacque» Renault hatte nicht die Kraft in sich gefühlt, täg licher Augenzeuge de» Glücke» zu werden, da» er für sich be gehrt und da» ihm nun auf immer verloren; er war nach Amerika gegangen, hoffte dort zu vergessen. Julia und Georg schrieben ihm, die Briefe blieben unbeant wortet. Zuerst war die junge Frau tief bekümmert, aber allmählich durch die Liebe de» Gatten, die Ablenkungen, die jeder Tag mit sich brachte, milderte sich der Kummer, wenn er auch nicht ver schwand. Georg Dernier, der zu Ruhm und Reichthum kommen wollte, und wenn e» auch nur wäre, um seine junge Frau mit all' dem LuxuS zu umgeben, der ihrer Schönheit al« Rahmen dienen konnte, hatte sich mit großer Energie an seine Arbeit gemacht. Leider hatte er sich einer ganz besonderen künstlerischen Rich tung zugewandt, und sein sehr schroffes Urtheil und Auftreten schafften ihm bald Feinde unter seinen Collegen sowohl, als unter den Kunsthändlern. Seine Schöpfungen gefielen wenig, und da er sein Talent durch utrirtes, über das Ziel Hinausgehen forcirte, so kam eS dahin, daß seine Bilder keine Abnehmer fanden. Julia's nur immerhin kleine Mitgift, durch die Hochzeitsreise schon ziemlich verringert, war in der Zeit, da man auf die Käufer wartete, bald aufgezehrt. Nicht lange dauerte es, da kehrte die Sorge in daS Heim ein, und da Georg, trotz all' seines Fleißes, absolut als Künstler keine Concessionen machen wollte, so ver schlimmerte sich ihre pekuniäre Lage mit reißender Geschwindig keit. DaS schöne Heim, in das Georg sein junges Weib geführt, war schon lange verlassen und gegen eine viel kleinere bescheidenere Wohnung vertauscht. Doch auch diese wurde bald zu unbe zahlbarem LuxuS, und als in einer kleinen Mansardenwohnung Julia einem Knaben das Leben gab, und die junge Frau sich gar nicht wieder erholen konnte, da genügten alle Anstrengungen, alle» verzweifelte Ringen Georg's kaum noch, um bittere, wirkliche Noth von Frau und Kind fern zu halten. Die gegenseitige Liebe hielt sie aufrecht, doch der Moment kam, wo Georg seine Kraft erlahmen fühlte, und in einem An fall von Verzweiflung meinte er: sie wollten diesem vergeblichen Kampfe ein Ende machen. . . . Für einige Pfennige Kohlen . . . und Alles wäre vorbei! Keine Noth, keine Leiden, kein Ringen mehr: Friede und Ruhe, Vergessen würde ihnen zu Theil werden. Die beiden Unglücklichen waren bald einig und hatten ihre düsteren Vorbereitungen rasch getroffen. Nachdem Fenster und Thllren dicht verschlossen und die etwaigen Spalten verstopft, entzündeten sie den Kohlenständer und legten sich dann zu dem Schlaf nieder, von welchem sie nie wieder aufzuwachen hofften. Da Plötzlich, in dem ersten Stadium der Betäubung, war es Georg, als wenn gegen die Thür geklopft wurde. Doch weshalb sich darum kümmern, sie wollten ja nichts mehr von der Welt, wollten zur Ruhe. War e» dennoch der Trieb zum Leben, der ihn, gleichsam in der Vorahnung dessen, WaS ihrer wartete, die nöthige Energie finden ließ, sich aufzurichten? Schwankenden Schrittes gelangte er bis zur Thür und öffnete. Ein noch kräftiger Mann mit weißen Haaren drängte Georg fast heftig zur Seite, lief an daS Fenster und riß e» weit auf.. Ueberrascht, entsetzt war ^ulia in die Höhe gefahren. Mit wirrem Haar und angstvoll starrte sie au» großen, tief liegenden Augen auf den Fremden und stürzte dann zu dem Bett deS Kinde», al» Venn sie dasselbe gegen da» grausame, erbarmungslose , Leben, wa» da in Gestalt de» Fremden wieder herantrat, schützen volle. ' Der Eindringling stand eine Secunde regung»loS, unbeweg lich, dann stammelte er: „Ah! Meine Kinder! Meine lieben Kinder!" und preßte Julia und Georg an sich, während ein Schluchzen seinen Körper erbeben ließ. . . . Jacque» Renault war e», der Zurllckgekehrte. Die Sehnsucht trieb ihn heim. Die Sehnsucht de» Vater» zu seinen Kindern, denn endlich hatte er die Liebe, die andere, zum Schweigen gebracht. Zum zweiten Male hatte er sich seine Julia au» Noth und Elend gerettet, denn ihm, dem Meister, war die Kunst nicht untreu geworden, und während er in der Arbeit die Liebe zu überwinden suchte, hatte sie ihm in Fülle die Macht gegeben^ seine Kinder nun in selbstloser Liebe glücklich machen zu können.
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