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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 07.07.1900
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1900-07-07
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19000707013
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1900070701
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1900070701
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- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1900
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Mit Kopfschütieln habe ich von Anfang an, seit dem Mai dieses Jahres, die zum Schutze der Gesandtschaften und sonstigen Europäer in Peking ergriffenen Maßregeln verfolgt, die meines Erachtens ein völlige- Verkennen derjenigen Schwierigkeiten zeigten, welche beim Vordringen nach Peking, beim Eindringen in die Stadt, bei der Festsetzung in derselben und der Sicherung der rückwärtigen Verbindungen zu überwinden waren. Mit von Tag zu Tag steigender Verwunderung hat mich dann die weit verbreitete Selbsttäuschung über das Schicksal der Gesandt schaften un dsonstigen Europäer in Peking erfüllt. Wie?! War es denn überhaupt denkbar, daß, wenn die Gesandtschaften sich wohlbehalten „im Schuhe der chinesischen Regierung" befanden, es ihnen oder irgend einem der anderen Europäer dort, nament lich dem General-Jnspecteur der chinesischen See-Zölle, Sir Robert Hart, trotz aller ihm gewiß zu Gebote stehenden Ver bindungen, seit dem 13. Juni wochenlang nicht möglich gewesen sein sollte, selber auch nur eine einzige Nachricht über ihre Lage nach Außen gelangen zu lassen? Ihr völliges Schweigen allein konnte füglich keine Illusion über die Lügenhaftigkeit der von chinesischer Seite amtlich ge gebenen Versicherungen, daß die Gesandtschaften in Peking unversehrt seien, aufkommen lassen, selbst wenn man die chine sische Verlogenheit nicht schon anderweitig hinreichend gekannt hätte. Es wäre müßig, hier zu sagen, was hätte geschehen können und deshalb auch hätte geschehen sollen, zuerst, sobald man die Gesandtschaften in Peking ohne militärischen Schutz nicht mehr für gesichert hielt, dann, sobald nach dem 13. Juni von ihnen selbst keine Nachricht mehr kam. Nachdem aber die bisher ge hegten Illusionen nun schrecklich zerstört sind, sollte man wenigstens fortan sich keinen Illusionen mehr hingeben. Und doch behandeln jetzt wieder die Zeitungen die allseitig nun mit Recht als nothwendig anerkannte Besetzung Pekings durch die vereinigten Truppen der Mächte als ein bereits in seinem Erfolge gesichertes Unternehmen. Dies könnte sich aber von Neuem als eine verhängnißvolle Selbsttäuschung erweisen, und deshalb möge auf folgende Thatsachen hingewiesen werden. Der Feldzug der Engländer und Franzosen nach Peking im Jahre 1860 wurde mit einer Armee von 20 000 Mann unter nommen. Nach der Wegnahme der Forts von Taku erfolgte die Besetzung von Tientsin am 26. August ohne Widerstand. Dort brauchte man Zeit, sich zu etabliren und den Nachschub an Lebens- und Kriegsbedarf auf dem Peiho zu organisiren, den die große Straße nach Peking bis Tungtschüu begleitet. Erst am 9. September konnte der weitere Marsch dorthin angetreten wer den. Durch Zurücklassung der in Taku und Tientsin nöthigen Besatzungen war das Expeditionscorps jedoch schon um mehr als die Hälfte geschwächt. Dennoch gelang es, die chinesische, nume risch vielfach überlegene Armee unter San-ko-li-tzin unterwegs wiederholt zurückzutreiben und sie endlich bei Palikao zu schlagen, denn ihr Zustand war bei zum Theil noch mittelalterlicher Be waffnung, mangelnder Uebung und Disciplin ganz erbärmlich. Nichtsdestoweniger konnten die Alliirten nicht wagen, gleich nach dem Siege bei Palikao Weiteres zu unternehmen, weil sie durch eigene Verluste geschwächt, ihre Munition fast erschöpft und ihre Verpflegung nicht hinreichend gesichert war. Unter diesen Umständen konnten sie die chinesische Armee, die sich zunächst in ein altes verschanztes Lager vor der Nordseite von Peking zu rückgezogen hatte, nicht abermals angreifen. Noch weniger aber war es möglich — von der dortigen Anwesenheit der chinesischen Armee ganz abgesehen —, die nicht mehr als zwei bis drei Stunden entfernte Hautpstadt selbst mit Sturm zu nehmen. Denn Peking ist rings von einer so starken Befestigung umgeben, daß, wenn sie nur überhaupt vertheidigt wird, jeder Sturm versuch ausgeschlossen ist: es ist wohl die stärkste sturmfreie Enceinte des Mittelalters. Ein schmaler, die ganze Stadt umgebender Wasserlauf ist zwar ohne Bedeutung, um so gewaltiger dagegen sind die da hinter sich erhebenden Mauern, die in einer Höhe von circa KM Metern die äußere Bekleidung einer oben 18—19 Meter breiten, auf der Stadtseite gleichfalls mit Mauern derselben Höhe bekleideten Wallschüttung bilden, über der sich feldwärts eine freiHehende, mehr als 2 Meter hohe, mit Scharten versehene Mauer erhebt, so daß die äußere Gesammthöhe der Mauer fast 13 Meter oder 41—42 Fuß beträgt. Eine Leiter-Ersteigung ist um so weniger ausführbar, als vor die Mauer, auf je 80 Meter oder 100 Schritt der Länge, Halbthürme zu ihrer Flankirung, wenigstens mit Gewehr, vorspringen, während zur Flankirung mit Geschütz die etwa 20 Meter weit vor die Maucrflucht vor greifenden Thorbefestigungen dienen. Auch eine Erstürmung der Thore würde bei tapferer Vertheidigung schwerlich gelingen, weil vor dem inneren Thor eine Vorburg liegt, die einen Zwinger umschließt, aus welchem das äußere Thor nicht in der Verlängerung des inneren, sondern seitwärts im Winkel zwischen der Vorburg und der Stadtmauer ins Freie führt. Ein Sturm auf diese Befestigung ist also ohne vorherige theil- weise Zerstörung durch Artillerie nicht ausführbar und, obwohl das Mauerwerk in ganzer Höhe sichtbar ist, Feldartillerie allein nicht genügend. Denn es kommt nicht nur darauf an, die obere, schwache, mit Scharten versehene Mauer zu zerstören, um den Vertheidiger von der Wallkrone zu vertreiben, sondern auch, und vorzugsweise, die äußere starke Bekleidungsmauer in Bresche zu legen, wonach man übrigens immer noch über die 11 Meter hohe innere Bekleidungsmauer hinabsteigen oder die zu beiden Seiten der breschirten und erstürmten Mauerstrecke liegenden Thor- gebäude nehmen müßte, die den Wall in seiner ganzen Breite durchschneiden. Daß, wer sich in diese Befestigung hineinbegiebt, ohne Herr wenigstens eines der Thore zu sein, in einer Mausefalle sitzt, ist ebenso klar, wie es Thorheit gewesen sein würde, wenn die alliirten Generale sich eingebildet hätten, zur Oesfnung der Ringmauer ihre Leute blos mit den Köpfen an rennen lassen zu brauchen. Sie waren denn auch damals von dieser Thorheit entfernt und verständig genug, erst schwerere Geschütze heranzuziehen, die zu Wasser auf dem Peiho bis Tungtschüu hinaufgebracht wurden: seitens der Franzosen ge zogene 12-Centimeter-Kanonen, seitens der Engländer 4- bis 8zöllige Schiffskanonen (68-Pfllnder) — übrigens auch 3- bis 8zöllige Mörser zum Bombardiren. Nachdem außerdem der größere Theil der in Tientsin zurückgelassenen Besatzung, Mu nition und Lebensmittel angekommen und in Tungtschüu im Schutze einer Besatzung Lazarethe und Magazine eingerichtet waren, sollte vor dem Angriff auf Peking selbst am 6. October die chinesische Armee in ihrem Lager vor dessen Nordseite aus gesucht werden. Da sie aber unbemerkt verschwunden und auch bei dem eine Meile nordwestlich liegenden Sommerpalast des Kaisers, Nuen-min-Vuön, nicht zu finden war, so kehrte man — nach dessen Plünderung — am 9. October vor die Nordseite von Peking zurück, verlangte die Uebergabe eines Thores binnen drei Tagen, drohte im Weigerungsfälle mit Breschelegung und Erstürmung und stellte bis zum 13. vor der Nordseite bei einem der Thore mehrere Batterien und Laufgräben her. Von einem Widerstande der Chinesen war keine Rede. Obwohl die englischen Batterien kaum 200 Schritt, die französische 12-Centi- meter-Batterie sogar nur 70—80 Schritt von der Mauer ent fernt lagen, schauten die Chinesen von der Mauer herab den Arbeiten ruhig zu und öffneten, ohne daß es zum Schießen ge kommen wäre, am 13. October das Thor. Dennoch hielten die Alliirten für rathsam, nicht in die Stadt selber einzurücken, sondern sich mit der Besetzung des Thores und der Mauer zu beiden Seiten desselben zu begnügen, und erst am 24. October ge lang es ihnen, den Abschluß des Friedens durch die Drohung der Erstürmung und Plünderung des Kaiserpalastes in der inneren Stadt zu erzwingen. Längeres Zögern wäre gefährlich gewesen, denn schon Mitte October fingen die Gebirge an, sich mit Schnee zu bedecken und die Truppen unter der Kälte zu leiden, und wenn man nicht vor Ende November das Meer und die Flotten wieder erreichte, hätte man den Winter hindurch, von ihnen abgeschnitten, mit der Armee im Lande bleiben müssen, weil um den 1. December herum der Peiho zuzufrieren und das Meer vor seiner Mündung sich mit Eis zu bedecken pflegt. Obwohl daher der Rückmarsch von Peking am 1. November ange treten wurde, gelang es doch gerade nur noch in der letzten Novemberwoche, wieder auf die Schiffe zu kommen, wobei die Transportboote bereits mit den Eisschollen vor der Peiho- Mllndung zu kämpfen hatten. — Sollte man aus diesen Thatsachen nicht Lehren für eine neue Expedition nach Peking zu ziehen haben, um sich vor weiteren und höchst gefährlichen Illusionen zu bewahren?! Unverändert geblieben gegen 1860 sind die klimatischen Verhältnisse. Der Zeitpunct, zu welchem damals die Alliirten nach Wegnahme der Forts von Taku widerstandslos Tientsin besetzen konnten, war der 26. August. Wird die militärische Situation in diesem Jahre am 26. August derjenigen von 1860 ähnlich sein? Zwar sind die Forts von Taku bereits genommen, um Tientsin aber wird noch immer gekämpft, und es ist noch durch aus nicht gewiß, daß die gegenwärtig dort und am unteren Peiho verfügbaren Streitkräfte im Stande sein werden, den chinesischen Widerstand daselbst zu brechen. Möglich sogar, daß sie auf Taku zurückgehen müssen. Verstärkungen sind zwar unterwegs, beispielsweise jedoch die von Wilhelmshaven schon abgegangenen deutschen Truppen nicht vor dem 17. August auf der Rhede von Taku zu erwarten. Die nothwendige Organisation der zahlreichen Contingente der verschiedensten Mächte zu einer möglichst einheitlichen Armee wird Schwierigkeiten haben, mit denen die von langer Hand organisirte, nur aus zwei strategischen Körpern bestehende Armee der Engländer und Franzosen 1860 nicht mehr zu rechnen brauchte. Bis Tientsin in eine gesicherte Basis verwandelt ist und der Vormarsch von dort nach Peking möglich sein wird, kann sehr leicht längere Zeit, als 1860 bis zum Aufbruch der Alliirten von Tientsin nach Peking, am 9. September, vergehen. Wann man letzteres erreicht haben wird, ist Angesichts der gegenwärtigen Verhältnisse ganz unberechenbar. Nur darauf muß man gefaßt sein, daß der 1860 kaum zu berücksichtigende Widerstand der Chinesen jetzt weit größeren Aufenthalt ver ursachen wird. Während ferner die Alliirten 1860 nur mit der chinesischen Armee zu rechnen, seitens der Bevölkerung aber nichts zu leiden hatten und dennoch bei einer ursprünglichen Stärke ihres Heeres von 20 000 Mann zum letzten Vorstoß auf Peking nur noch 8000 Mann zusammenbringen konnten, muß man jetzt auf fort währende Störung der rückwärtigen Verbindung, also auf eine sehr erhebliche Schwächung der ursprünglichen Stärke der vor rückenden Armee, gefaßt sein. Wird sic, abgesehen hiervon, vor Peking angekommen, im Stande sein, die Stadt binnen so kurzer Frist, wie 1860, zu nehmen? Schwerlich! Selbst dann nicht, wenn sie mit allem dem, was zur Ueberwindung der Be festigung von Peking nöthig ist, gehörig ausgerüstet würde. Nach der Einnahme der Stadt werden aber noch viel schwierigere und zeitraubendere Geschäfte zu erledigen sein, als 1860 der Ab schluß des Friedens. Und doch gelang es der alliirten Armee 1860 nur eben noch, vor Eintritt des Frostes wieder auf ihre Schiffe zurllckzukommen. Jetzt ist darauf n i ch t zu rechnen. Man wird in gehöriger Stärke zu Lande bleiben müssen, und, da die überseeische Verbindung aufhört, sobald der Peiho Anfang December gefroren ist, für sichere Ver bindungen zu Lande mit eisfreien Häfen zu sorgen haben, dazu also noch weitere Streitkräfte brauchen. Als solche Verbindungen sind nur zwei über haupt denkbar: die eine über Shan-hai-kwan um die Nord seite des Golfs von Petschili herum nach Port Arthur, die andere von Tientsin über Tsinan-fu nach Kiautschau. Letztere ist rund 600 Kilometer, erstere sogar rund 800 Kilometer lang. Dennoch würde diese den Vorzug verdienen, weil jene den Hoangho bei Tsinan-fu überschreiten müßte, was im Winter nicht sicher zu sein scheint, während auf jener theils fertige, theils im Bau begriffene Eisenbahnen auf längeren Strecken vorhanden sind, für deren Ausbau im Hinblick auf die Nothwendigkeit, während des Winters in Peking zu bleiben, schon jetzt mit allen Mitteln zu sorgen wäre. Auch dies wird ein starkes Aufgebot militäri scher Kräfte und Arbeiter ohne Verzug erheischen. So erweist sich die Nothwendigkeit, die Fahnen der Cultur- mächte auf den Wällen von Peking aufzupflanzen, um die Schuld des Hochverräthers Tuan zu sühnen und eine geordnete Regierung wiederherzustellen, als ein Unternehmen, dessen schon aus seinen Hauptzügen hervorleuchtende Schwierigkeiten selbst dann nicht unterschätzt werden dürfen, wenn man es in a l l e n Einzelheiten der Natur des Krigesschauplatzes und den militärischen Erfordernissen vollkommen entsprechend vorzu bereiten versteht. — Nur kurz sei in dieser Beziehung darai-f hingewiesen, daß Fußtruppcn allein nicht genügen. Für den Aufklärungs- und Nachrichtendienst müssen auch alle materiellen Hilfsmittel bereitgestellt werden, Fesselballo n nicht zu vergessen. Außer dem von den Truppen selbst mitge führten Schanzzeug ist ein Genie-Park erforderlich, und außer der Feldartillerie ein kleiner Train schwerer Geschütze — zum schnellen Breschiren der Umwallung von Peking — vielleicht schon derjenigen von Tientsin. Zum Trans- Feuilleton. Lauernthnm und Volksleben in Norwegen. Bon Klaus Hennings. Nachdruck «erboten. Auch Wenn die alljährlichen Kaiserreisen nicht die Aufmerk samkeit in Deutschland auf Norwegen gelenkt hätten, würde das nahverwandte norwegische Volk und seine Cultur unser lebhaftes Interesse verdienen. Ist es doch das einzige Volk, bei dem die altgermanische Bedeutung und Kraft des Bauernthums sich an nähernd noch bis heute erhalten hat. Norwegen ist, wenn sich auch im Laufe der Entwickelung neue sociale Schichten gebildet haben und zu Einfluß gelangt sind, im Wesentlichen noch immer ein Bauernland und der Bauernstand spricht über die Geschicke des Volkes ein höchst gewichtiges, vielleicht daS entscheidende Wort mit. Ein seltsames Wesen aber ist der norwegische Bauer und leicht zu verstehen ist er nicht. ES giebt ihrer hochgebildete; so die Hardanger-Bauern, die mit lebhaftem Interesse die Fragen der Zeit verfolgen und über die wichtigsten Schöpfungen der modernen Literatur sich auf dem Laufenden erhalten. Doch Hardanger ist nach norwegischen Begriffen ein ungewöhnlich wohlhabender Bezirk; im Allgemeinen aber ist das Loos des norwegischen Bauern ein recht ärmliches. Dem Deutschen, der das Land in seinen verschiedenen Theilen durchwandert, fällt es immer wieder auf, wie wenig es seinen Kindern spendet; die rauhe, wüste Fjeldnatur herrscht, und nur mit Mühe wird ihr ein Stücklein Acker- oder Kartoffelland oder ein Gemiisegiirtchen abgerungen. Darum können auch die meisten norwegischen Bauern vom Boden allein nicht leben; sie treiben gewöhnlich noch ein Gewerbe daneben, sie fischen oder zimmern, sie malen oder fahren Skvds. Unter solchen Verhältnissen muß dem Bauern natürlich etwas Gedrücktes und Unfreie» anhaften. Er ist un endlich mißtrauisch. Man wird ihm schwer ein bestimmtes „Ja" oder „Nein" entlocken; „ich will mir'S bedenken", sagt er vor sichtig und meint damit, daß er mit dem Vorschläge, den man ihm macht, einverstanden ist. In gleicher Weise sperrt er sich gegen alle» Neue; selbst au» seinem ärmlichen Boden könnte er bei größerer Initiative und Energie erheblich mehr machen, als es gegenwärtig der Fall ist; aber Dem, der mit dergleichen Vor schlägen an ihn herantritt, hört Per oder Ola nur verdrossen zu und Folg« leistet er ihm nun gar nicht. An seinen alten Ge bräuchen hält er mit Zähigkeit fest; nach wie vor sagt er zu Jedermann, den König nicht ausgenommen, Du, und nur sehr langsam gewöhnt sich da» Bauernmädchen, da» in städtischen Dienste geht diese Anrede der Herrschaft gegenüber ab. Der Bauer kennt den Werth der Zeit nicht; er hat immer Zeit, und seine Buben lungern, selbst wenn sie schon erwachsen find und gute Hilfe leisten könnten, oft müßig herum und wachsen so selbst wieder in dieselbe Dumpfheit hinein, die die Atmosphäre des Vaterhauses bildet. Bei alledem aber ist der norwegische Bauer ein gesunder, kraftvoller Schlag, aus dem unausgesetzt tüchtige Elemente zu höherer Cultur emporsteigen, und oft findet man Bauern mit prächtigen Gesichtern, mit Hellen Augen, offenen Zügen und kernigem Wesen. In die Culturwelt hineinversetzt, bringt es der norwegische Bauer zuweilen zu hervorragenden Leistungen: Björnson entstammt einer Bauernfamilie, Garborg ist ein Bauernsohn. Oefter. allerdings haftet ihm dann noch lange eine unbändige Halsstarrigkeit und Rechthaberei an, die ihm die Anpassung an die Cultur erschwert; von diesem Schlage sind z. B. die Bauernpolitiker und Volkshochschullehrer, die einen so großen Einfluß im öffentlichen Leben Norwegens ausüben. Inmitten des wogenden, bewegten, reichen Culturlebens stehen dann diese starren Bauernnaturen, fest und stark, wie ihre heimathlichen Felsen, aber auch unbeweglich, hart und wild wie die Fjeldnatur, mit der ihre Väter und Vorväter einen jahr hundertelangen Kampf führten. Trotz dieses gewissen Gegensatzes zwischen dem norwegischen Bauernthum und der Cultur aber ist es unzweifelhaft, daß Nor wegen, was es an specifisch nationaler Cultur besitzt — man mag das hoch oder gering einschätzen, dem Bauern verdankt, dem Einzigen, der unter allen Wandlungen der Geschichte seit Jahrhunderten auf diesen Fjelden und Schären, in diesen Thälern und an diesen Fjorden gewohnt hat und das wahrhaft urwüchsige Geschlecht deS Landes darstellt. Die Webereien, Schnitzereien, Malereien, Goldschmiede-Arbeiten, die den eigent lich norwegischen Stil repräsentiren, sind bäuerlicher Erfindung und werden oft noch heute von den Bauern daheim gearbeitet, wenn auch in der neuesten Zeit städtische Elemente sich bereits vielfach dieser Techniken angenommen haben, theils um sie vor dem drohenden Untergange zu retten, theils um sie zu vervoll kommnen und zu entwickeln <„Hu»flid"-Vereine). Anders ist es allerdings in der Literatur, auS der die Bauernsprache und Bauerncultur seit Jahrhunderten völlig verschwunden ist. Diese Position aber will man ihr gleichfalls erobern. Eine Schaar be geisterter Männer, Schriftsteller, Lehrer, Politiker, sieht allein die Bauernfprache als die „norwegische" im Gegensätze zu der bisher üblichen Schrift- und Umgangssprache, der „dänischen", an und kämpft für den völligen und allgemeinen Sieg des lancksrnaal. Garborg z. B. schreibt seine Romane in dieser Sprach« (früher „übersetzte" er sie allerdings zugleich in daS Dänisch-Norwegische, so daß also z. B. von dem bekannten Romane „Bet Mama" zwei Ausgaben — HoS Mama und Hjaa Mor — erschienen); auch erscheinen eine beträchtliche Anzahl Zeitungen und Zeitschriften in LandSmaal. Es ist sogar ein Schutzgeseh in Vorbereitung, nach dem e» den Communen frei- gestellt sein soll, den Unterricht in der Bauernsprache auf den Schulen etnzuführen. Schad« nur, daß man nicht von einer ein heitlichen norwegischen Bauernsprache, sondern nur von Bauern- dialecten reden kann; und deren giebt es schier zahllose. Denn der Sogning spricht anders als der Telemärker, und der Nord länder anders als der Mann von Smaalenene, und oft ver stehen sie einander thatsächlich nur mit der größten Schwierig keit oder auch gar nicht. Doch die maalmaenci ficht das nicht an. Rede nur jeder Norweger seine Zunge, gleichviel, ob man sich verstehe oder nicht; die Hauptsache bleibt ihnen, daß das echte Norwegerthum überall im nationalen Leben die Einführung und Macht gewinne: in der Schule, in der Politik, in der Presse, in der Literatur. Wie man sieht, ist das Bauernthum in Norwegen einiger maßen Mode, und das ist ja auch ganz natürlich bei einem Volke, das sich eigentlich erst im 19. Jahrhundert gefunden hat, nun von einem hochgespannten Nationalgefühl erfüllt ist und mit Eifer Alles aufftlcht, was zu dem eigenen Volksthum in Be ziehung steht. Diese Bauernmode hat aber doch — abgesehen von dem erwähnten Sprachstreite — manche Verirrungen mit sich gebracht. So findet man z. B. in einer großen Anzahl nor wegischer Häuslichkeiten ;ene Bauernarbeiten, Stickereien, Aaklander (Webereien), Tinen und Kjängen (Holzarbeiten), buntbemalte Möbel und dergleichen mehr, und es ist nicht zu leugnen, daß ein gewisser Gegensatz fühlbar wird zwischen einer modernen komfortablen Wohnung mit ihren anspruchsvollen In sassen und dem primitiven, oft sogar rohen Stile der Bauern- crrbeiten oder ihrer Imitationen. So lieben es auch, um auf diesem Gebiete zu bleiben, die norwegischen Architekten, das alt nordische Bandornament und die bekannten Drachenmäuler bet allen möglichen paffenden und unpassenden Gelegenheiten anzu bringen; als ob etwa einem modernrn Miethshause durch diese Mittel ein national-norwegischer Charakter aufgedrückt werden könnte! Aber auf der anderen Seite fehlt es auch nicht an ent schiedenen Gegnern der Verbauerung der norwegisch«,, Cultur. So hat vor einiger Zeit selbst Björnson, der ja bekanntlich al» einer der Ersten die bäuerlichen Dialekte zur Auffrischung der Schriftsprache angewandt und so der Sprachenbewegung den Weg gebahnt hat, seine weithin vernehmbare Stimm« gegen die Bestrebungen der maatrnaenck «rhoben und Protest dagegen «in- gelegt, daß den Norwegern die Sprache von Leuten aufgezwungcn werden solle, denen man nicht gern die Hand reiche, weil sie zu schmutzig seien. Und wahr ist eS, daß die große Mehrzahl der norwegischen Bauern in dumpfigen, unsauberen Häusern wohnt, und daß in einem Eisenbahn-Soupü, in das ein paar Bauern einsteigen, sich binnen Kurzem der scharfe, höchst unangenehme und fast unerträgliche „Bauerngeruch" verbreitet. Björnson steht aber In diesem Kampfe gegen die Uebertreibung der Bauern freundlichkeit nicht allein, vielmehr sind die beiden großen neueren socialen Schichten des Lande«, der Beamten- und der Kauf mannsstand, seine natürlichen Bundesgenossen. Ihre Cultur be ruht im Wesentlichen noch auf der dänischen Bast». Noch vor 50 Jahren wurden die Kinder guter Familien gern nach Kopen hagen zur Erziehung gesandt, wo sie eine feinere Gesittung und ein reicheres Leben kennen lernten. Insofern hat der Abbruch der politischen Verbindung mit Dänemark Norwegen nicht zum Vortheil gereicht, als di« innige Wechselbeziehung mit dem hoch entwickelten südlicheren Culturlande seitdem natürlich gleichfalls schwächer geworden ist; die Verbindung mit Schweden aber hat keinerlei Ersatz dafür zu bieten vermocht, da Schweden ohne jeden Einfluß auf das geistige und kulturelle Leben Norwegens geblieben ist. Immerhin ist die geistige Verbindung mit Däne mark schon durch die gemeinsame Schriftsprache noch heute eine starke und das dänische Element in der Bildung der höheren norwegischen Classen ist nicht zu unterschätzen. Dies Element aber neigt zur Feinheit, zur Zierlichkeit, zur Eleganz und ist daher ein natiirlrcyer Gegner der Bauerncultur. Noch bestimmter ist die gegensätzliche Stellung, die zu ihr der norwegische Handels- und Kaufmannsstand einnimmt. Der norwegische Kaufmann, besonders in den Seeplätzen, hat einen weiten Blick; seine Schiffe gehen nach Westindien, nach China und Chile und seine Söhne leben in Chicago, in Barcelona und Singapore. So tritt er in enge Beziehungen zum Ausland« und kann sich unmöglich im eigenen Lande mit einer Bauerncultur begnügen, die bei aller Gesundheit doch ärmlich ist und den Anforderungen des modernen Lebens nicht entspricht. Gerade der norwegische Kaufmann entwickelt «ine außerordentliche Rührigkeit in der Heranziehung und Verwerthung der ausländischen Cultur und ihrer Erzeugnisse, wobei in erster Linie England, in zweiter Deutschland in Frage kommt, und in diesen Kreisen findet man so manches Heim, das an Comfort und aller Zier der Kunst und deS Handwerkes sich in jeder europäischen Hauptstadt sehen lassen könnte. Der Kaufmann ist gegenwärtig da» eigentlich treibende Culturelement in Norwegen; in Bergen ist Jedermann Kauf mann, wie in Florenz der Medici, und mit Recht hat Knut Hamsun in einem seiner Romane den Kaufmannsstand als die wahre Hoffnung Norwegens geschildert. Er stellt ihn dabei in Gegensatz zu dem Literaturstaude, der sich in Norwegen ganz unverhältnißmäßig üppig entwickel hat und nun mit seinen vielen müßigen Existenzen nnd seinem unnatürlich großen Ein flüsse, den er durch die Press« und durch seine Bücher ausübt, wie ein Schmarotzer an dem Marke des gesunden Volkes zehrt. Eben die Literaten aber im Vereine mit den Bauernpolitikern sind die leidenschaftlichen Verfechter der Vormacht de» Bauernthumes im norwegischen Leben und in d«r norwegischen Cultur. So spielt sich hier obcn im Nordlande in aller Stille ein Cukturkampf ab, der darüber entscheiden wird, inwieweit Norwegen in Zukunft zu der großen europäischen Culturgemeinschaft rechnen und welche Stellung e» zu ihr einnehmen wird.
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