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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 19.11.1900
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1900-11-19
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19001119022
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1900111902
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1900111902
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
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- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1900
- Monat1900-11
- Tag1900-11-19
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Amtsblatt -es Königlichen Land- und Amtsgerichtes Leipzig, -es Aatyes nn- Nolizei-Ämtes -er Lta-t Leipzig. Anzeigen-Preis die 6gespaltene Petitzeile 25 1 Reclamrn unter dem Redactionsstrich (4 gespalten) 75 vor den Familiennach richten (6 gespalten) 50 Tabellarischer und Ziffernsatz entsprechend höher. — Gebühren für Nachweisungen und Offrrtenannahme 25 H (excl. Porto). Extra' Beilagen (gefalzt), uar mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbrförderung 60.—, mit Postbesörderung ^l 70.—. Ännahmeschluß für Anzeigen: Abend-Ausgabe: Bormittag» 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittag» 4 Uhr. Bet den Filialen und Annahmestellen je «in» halbe Stunde früher. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richten. Die Expedition ist Wochentags ununterbrochen geöffnet von früh 8 bis Abends 7 Uhr. Druck und Berlag von E. Polz in Leipzig. Montag den 19. November 1900. 58« 94. Jahrgang. Die Wirren in China. Die Verproviantirung des HofcS. Die Reise des deutschen Generalconsuls in Shanghai vr. Knappe nach Nanking mit dem Linienschiff „Kurfürst Friedrich Wilhelm" hat Verhandlungen mit dem Vicekönige zum Zweck, wie nach der „Frtf. Ztg." verlautet, auch über die Verproviantirung des chinesischen Hofes, die von Nanking aus betrieben wird. Es wird daher wohl richtig sein, wenn dem „Localanz." aus Shanghai depeschirt wird, der Vicekönig von Nanking dürfte vermuthlich gezwungen werden, entweder seine Hand dazu zu bieten, daß die weitere Verproviantirung von Singanfu aufhört und der Hof nach Peking zurüäkehrt, oder seine den fremden Mächten unfreundliche Haltung offen zu docu- mentirem Zweideutigkeiten sollen länger nicht geduldet werden. Eine Million Taels, die in ver schiedenen Provinzen des Südens und im Centrum gesammelt wurde, ist jetzt nach Nanking unterwegs, wo sie ein Special- commissar übernehmen soll. Fünf große Transporte, die von Truppen aus den Wusungforts begleitet werden, harren hier der Weiterbeförderung. Sie sollen eine halbe Million Taels, den Tribut der Kwantung- und Tschekiang-Provinzen mitführen, und die Verbündeten müßen dem zuschauen, ohne etwas machen zu können. Russische Urtheile über das Vorgehen des Grasen Walöcrsce. Aus Petersburg wird dem „Berliner Tageblatt" gemeldet: In der russischen Presse tobt ein wahrer Entrüstungssturm über die Hinrichtungen in Paotingfu, die Krieg führung Waldersee's und neuerdings über die „ckeoision irrövooable". Die „Nowoje Wremja" hat jedes Ver- ständniß für die Situation verloren. Unwillen und Abscheu ruft in ihr die Handlungsweise der Verbündeten hervor, sie verlangt, daß die territorialen Grenzen der Gewalt Waldersee's genauer gezogen werden. Andere Blätter reden von einem Lynchgerichte Waldersee's, von wahnsinniger Vermessenheit und unerhörter Rohheit. In ähnlichem Stil , reden Alle. Auch die „cköcision" findet die schärfste Vcrurtheilung. Selbst die ruhigen „Nowosti" halten eine Kriegserklärung für besser. Die „Nowoje Wremja" eifert gegen eine Denkmals-Errichtung. Die Hinrichtung eines Prinzen wird von Allen für eine Unmöglichkeit erklärt. Die Verhandlungen werden nach übereinstimmender Ansicht der Blätter gehässig und unversöhn lich geführt. Die „Peterburgskija Wjedomosti" schütten die Schale des Zornes und Hohnes über die deutsch-englische China- Politik aus. Die Hinrichtung eines Prinzen sei eine sittlich unmögliche Forderung; überhaupt sei es klar, welche Art von Civilisation Deutschland und England in China ver breiten. Das Ketteler-Denkmal zu componiren, werde nicht schwer fallen. Ganz im Gegensätze zu diesen Auslassungen stehen die Aus künfte, die im Ministerium des Auswärtigen ertheilt werden. Danach geht Rußland noch immer mit den übrigen Staaten Hand in Hand und steht sympathisch und solidarisch hinter den Forderungen der Gesandten und beabsichtigt keines wegs, sich zu isoliren. Die Disharmonie zwischen der Haltung des amtlichen und des nichtamtlichen Rußlands läßt doch jeden falls so viel erkennen, daß das erstere „der Noth gehorchend, nicht dem eigenen Triebe", sich der Politik der Mehrheit der übrigen Mächte angrschlossen hat. Es erklärt den russischen Groll gegen Deutschland, welches man als die Seele der ganzen China action ansteht, sowie die russischen Bemühungen, in Washington gegen das Concert der Mächte zu schüren. * Peking, 18. November. („Agence Havas.") Eine franzö sische Colonne ist am 6. November aus Peking abgegangen und in Treeling nach einem Kampfe, wobei 300 Boxer kampf unfähig gemacht wurden, eingerückt. Die Franzosen hatten keinen Verlust. Das kaiserliche Grabmal wurde besetzt. * London, 19. November. (Telegramm.) „Daily Telegraph" berichtet unter dem 17. November: Drei chinesische Generale mit 23 000 Mann bewegen sich längs der Grenze der Provinz Tschili, um dem weiteren Vordringen der Ver bündeten nach Westen entgegenzutrete». — „Daily News" berichten aus Peking unter dem 16. Noveinber: Fürst Uchtomski ist heute eingetroffen. Der Krieg in Südafrika. Tie Zerstörung der Eisenbahnen. Wie von Capstadt aus berichtet wird, setzen die Boeren die Belästigung der englischen Verbindungslinien und die Zer störung der Eisenbahnen munter fort, ohne daß es den britischen Truppen gelingen will, derartige Vorgänge rechtzeitig zu ver hindern. Die Eisenbahnlinie zwischen dem Oranjefluß und Bloemfontein ist an nicht weniger als 20 Stellen zerschnitten und auf Meilen hinaus zerstört worden, während die Bahn nach Kimberley u. A. in der Nähe von Belmont derartig ruinirt worden ist, daß die Engländer mindestens eine Woche mit der Wiederherstellung derselben zu thun haben werden. Dabei ge lingt es ihnen in den seltensten Fällen, die „Marodeure" in Flagranti zu ertappen und zu züchtigen, obgleich seit Wochen das ganze Land in bestimmte Districte eingetheilt ist/ deren jeder seine bestimmte Garnison haben sollte, aber natürlich bei der trotz aller trüben Erfahrungen immer noch mangelhaften und verworrenen Organisation der Engländer nicht immer hat. Diese Bezirksorganisationen sollen von ihren Standorten aus strahlenförmig nach allen Richtungen starke Patrouillen regel mäßig unterwegs haben, so daß also, indem natürlich die Eisenbahnen mit Bezug auf ihre Sicherheit ganz besonders zu berücksichtigen sind, eigentlich eine ganz regelmäßige Bewachunng und Sicherstellung des Geländes und vor Allem der Verbin dungslinien stattfinden sollte. Da sich aber vermuthen läßt, daß auch in diesem gut ausgedachten und angelegten System die übliche englische Sorglosigkeit und Nachlässigkeit schließlich doch vorherrschen wird, so kann man sich natürlich nicht wundern, wenn die Boeren andauernd der sogenannten Wachsamkeit ihrer Gegner ein Schnippchen schlagen, und mit großer Gewandtheit und Activität immer gerade da auftauchen und ihr Zerstörungs und Belästigungswert in Scene sehen, wo die englischen Sol daten nicht sind. — Der Nachfolger des Lords Roberts, General Lord Kitchener, scheint mit eiserner Hand unter solchen englischen Officieren anfzuräumen, durch deren Schuld cs dem Gegner möglich gemacht wird, seine verwegenen Hand streiche erfolgreich auszufiihren, und schickt schonungslos jeden Stabsofficier nach England zurück, in dessen Bezirk Eisenbahnen zerstört und sonstige Unternehmungen der Boren wegen Nach lässigkeit des englischen Militärs durchgeführt werden können. " Marseille, 18. November. I)r. LeydS ist heute Abend hier eingetroffen. * London, 19. November. (Telegramm.) Noch einem Telegramm des „Standard" aus Durban vom 17. November ist auf lange Zeit hinaus keine Aussicht vorhanden, daß die Uitlanders nach dem Rand zurückkehreu können. Man glaubt, bis zur Rückkehr könnten Monate verstreichen. IM 1 Politische Tagesschau. * Leipzig, 19. November. Von den die Zustände in der Berliner Criminalpolizei berührenden und darum die Oeffentlichkeit angehenden Vor kommnissen im Proccß Sternberg ist eS vorläufig still ge worden. Dieser Proceß selbst gebt aber weiter und immer weiter, die Erhebungen verlieren sich vom Hundertsten ins Tausendste, und so verschieden die Dinge sind, denen in der Verhandlung nachgeforscht wird, Eines haben sie gemeinsam, daß sie nämlich durchweg häßlich und anwidernd sind. Es ist, weil es sich um einen Sternberg handelt, ein Wagniß, auch nur die Frage aufzuwerscn, ob es nothwendig und richtig gewesen, eine solche, den ärgsten Schmutz aufrührende und in Bezug auf die Beweis barkeit gerade nicht auf Granitsäulen ruhende Anklage bis zu einer Schlußverhandlung zu treiben, die eine geheime heißt, aber wegen der den Zeitungen ohne Ausnahme, also auch den nicht wählerischen, ertheilten Erlaubniß zur Berichterstattung wie eine öffentliche Verhandlung wirkt. Soviel aber darf inan unbedenklich sagen: Der Grundsatz tiat justitia, porent mumlus ist kaum jemals so folgerichtig durchgeführt worden, wie in diesen« Schlußverfadren. Was immer Sternberg verübt haben soll und mag, hinter verschlossenen Thüren verübt haben soll: die allgemeine Sitt lichkeit kann davon den Schaden nicht erlitten haben, den ihr das ans die schlimmsten Dinge und die verschiedenartigsten Personen übergreifende Zeugenverhör verursachen muß. Das im Einzelnen auöznsiihren, verbietet sich. Nur sei der Hoff nung Ausdruck gegeben, daß am letzten Sonnabend der Gipfel- puncl des Bedenklichen erstiegen worden ist, wo eineMitschülerin der von Sternberg angeblich mißbrauchten Zeugin Woyda, ein elfjähriges Kind, über unanständige Ausdrücke, die daS letztgenannte grundverdorbene Geschöpf, das zuerst ein Opfer des Angeklagten gewesen sein wollte und es jetzt nicht mehr gewesen sein will, vor zwei Jahren gebraucht bat! Da die Woyda leugnete, so kam es natürlich vor der kleinen Zeugin zu Auseinandersetzungen, die zu hören ihr gewiß nicht zuträglich gewesen sind. Erbaulich ist es auch nicht gewesen, daß drei Zeuginnen über unzüchtige Handlungen be fragt wurden, die die heute noch nicht erwachsene Woyda vor „mebreren", ja, „vor sieben Jahren" vorgenommen haben soll. Diese Zeuginnen waren allerdings Erwachsene und Frauen aber schön ist mindestens daS nickt, daß sie und Andere über ihre Aeußerungen in Zeitungen lesen müssen. Es wäre in der Tbal an der Zeit, das Reckt der Berichterstattung in diesem Verfahren auf Vorkommnisse zu beschränken, an denen die Oeffentlichkeit ein berechtigtes Interesse nimmt, also z. B. an dem etwa noch weiter auftauchenden Anzeichen eines Kampfes zwischen Polizeibeamtengruppen, welcher anscheinend in diese GerichlSsache hineinspielt. An Sensation wird es ja auch so nicht fehlen, denn mit dem heutigen Tage beginnt in der ReichSbauptstadt die erneuerte Verhandlung des sogenannten Harm losen- Processes. Wir bringen den Sachverhalt nach Berliner Blättern unter „Gerichtsverhandlungen" in Erinnerung. Die Jnstruirnng dieses Verfahrens, bei der sich die Polizeiorgane fast befremdlich eifrig zeigten, und manches Andere, das in ihm zu Tage getreten, hat sicher auch in Juristenkreisen Kopfschnttelu erregt. Es hieß aber, man hätte vor der breitesten Oeffentlichkeit ein Exemplum für vornehme junge Müßiggänger und Spieler staluiren wollen und müssen. Nachdem das Reichsgericht das erste, sreiiprechende, Urtbeil aufgehoben, war eine abermalige Verhandlung nickt zu um gehen. Da aber inzwischen der deutsche Botschafter in Pari2 der feierlichen Einweihung eine» vom Fürsten von Monaco errichteten, bei dieser Gelegenheit mit der deutschen Kriegsflagge gezierten Gebäudes in amtlicher Eigenschaft beigewohnt hat, so sieht man vielleicht vieler Orten jetzt daS Treiben der „Harmlosen" mit etwas milderen Augen an, als vordem. Wenn das deutsche Reich sich an der Eröffnung eines Hauses betheiligt, das von dem gefährlichsten, freilich auch glücklichsten Spielhöllenbalter der Welt über den Gebeinen von Selbstmördern, die er in den Tod gejagt, darunter mancher deutschen Mutter Sohn, von Sündengeldern aufgebaut ist, dann wird man in Deutschland diese Toleranz wenigstens insofern nachahmenswerth finden, alS man dem einen Angeklagten, der, um abermals vor Gericht Rede zu stehen, eine in Südamerika begründete Existenz redlicher Arbeit in die Schanze geschlagen, seine Sympathie nicht versagt. Im Lager der freisinnigen Volkspartei richtet sich die Miß< stimmung über den Ausfall der Präsidialwahlen im Reichstag nicht nur gegen das Centrum, sondern auch, und zwar in noch erhöhtem Maße, gegen die freisinnige Vereinigung, der Herr Richter in seiner „Freis. Ztg." den Vorwurf macht, sie habe durch eine Jntrigue das Centrum zur Preisgebung des Herrn Schmidt veranlaßt. Ganz besonders ergrimmt ist aber der Diktator der freisinnigen Volkspartei über den für deren Ansprüche ungünstigen Verlauf der Schrift führerwahlen, einen Verlauf, für den die freisinnige Ver einigung ganz allein verantwortlich gemacht wird. In Wahrheit verdankt Herr Richter diese Niederlage lediglich der splenckick isolution, in die er seine Partei hineingeritten hat; das ergeben die genauen Zahlen der Schriftführerwahlen. Auf einen Schriftführer hatte die freisinnige Volkspartei Anspruch; den hat sie erhalten; unter den Schriftführern, die nach der uns vor liegenden Liste mehr als 220 Stimmen — also die der Rechten, des Centrums, der Nationalliberalen und aller freisinnigen Parteien — erhalten haben, befindet sich auch der volksparteiliche Abgeordnete I)r. Hermes. Als achter stand auf der Schrift- führercandidatenliste der socialdemokratische Abgeordnete Fischer, der aus hinreichend bekannten Gründen keine Aus sicht hatte. Dagegen wollten die bürgerlichen Parteien den Abgeordneten Or. Pachnicke von der freisinnigen Vereinigung wählen, denselben, der noch kurz vorher in der „Freisinnigen Zeitung" als „Wirklicher Geheimer Oberbaucr" verspottet worden war. Daher war auch dessen Name auf den gedruckten Stimm zettel gesetzt worden. Um diese Wahl zu durchkreuzen, wurde im letzten Augenblick von der freisinnigen Volkspartei der Ab geordnete Dr. Müller- Meiningen auf den Stimmzettel ge setzt. Die Schriftführerwahl vollzieht sich in der Weise, daß die Namen der Candidaten, die jeweilig nicht erwünscht sind, durch gestrichen und durch andere ersetzt werden. Die Darstellung, daß ein Candidat gegen einen anderen aufgestellt werde, ist irr tümlich. Das Ergebniß war, daß der Abg. Or. Pachnicke 179 Stimmen erhielt, das heißt die Stimmen seiner Partei, der Nationalliberalen, des Centrums und der Rechten; der volks parteiliche Abgeordnete Or. Müller-Meiningen erhielt dagegen nur 60 Stimmen, die seiner Fraction, der süddeutschen Demo kratie und eines Theiles der Socialdemokraten. Der social demokratische Abgeordnete Fischer brachte es auf 79 Stimmen. Richtig ist, daß von der bürgerlichen äußersten Linken die frei sinnige Volkspartei äußerlich mehr Ansprüche auf einen zweiten Schriftführersitz hatte, als die freisinnige Vereinigung; dieser An spruch ließ sich aber doch nur dann realisiren, wenn Centrum und Socialdemotratie ihn unterstützten. Das aber ist eben das Zeichen der Zeit, daß diese beiden Parteien demonstrativ be kundeten, wie wenig Werth sie auf die Erhaltung der guten Laune ihres früheren Bundesgenossen jetzt noch legen. Wenn Feuilleton, 51 Die Malerin. Roman von I. Marsden Sutcliffe. Nachtrnck verl'kt n. „Du nimmst mir eine Bemerkung vom Munde weg. Da Du dem Zwange enthoben bist, aus Geldrucksichten eine nicht zu sagende Ehe eingehen zu müssen, so wäre Therese auch als ganz armes Mädchen eine passende Frau für Dich. Jetzt ist sie es nur umsomehr. Ihr Vermögen wäre durchaus nicht nur eine an genehme Zubuße zu dem Deinigen, es würde ganz ungeheuer zu Deinem Einflüsse beitragen, wenn Du cs später vielleicht einmal bereuen solltest, der Politik fern geblieben zu sein. Du wärst eine viel zu wichtige Persönlichkeit, als daß man Dich außer Acht lassen tönnte, ganz gleich, auf welche Seite Du Dich schlügest." „Wer weiß aber, ob wir in unserer Denkungsart überein stimmen?" meinte Denison nachdenklich. Obgleich ihr das mehr als unwahrscheinlich schien, war die Gräfin eine viel zu gewandte Diplomatin, um dem Ausdruck zu geben. „Sie ist nicht engherzig, wenn Du das etwa meinst. Boston ist eine Heimstätte liberaler Cultur, so eine Art amerikanisches Athen, und Du wirst finden, daß sie ihrer Erziehung Ehre macht." „Also so ein bischen Blaustrumpf? Was? Eine zu gelehrte Frau wäre nichts für mich." Lady Pole kam unwillkürlich der Gedanke, die Familie Denison müßte sicher aussterben, wenn ihr Bruder so lange suchen wollte, bis er eine an Mangel an Erziehung ebenbürdige Frau finden würde. Aber sie sagte, ihre Absicht ungeachtet der Seiten sprünge Reginald's nicht aus dem Auge lassend: „Sie prahlt nicht mit ihrem Wissen. Du hättest wirklich allen Grund, die Sache ernstlich in Erwägung zu ziehen. Als sie zu Anfang des Winters in der Gesellschaft erschien, habe ich sehr bedauert, daß Du nicht in England warst. Ich hoffte schon gar nicht mehr, daß Du sie noch unverlobt antreifen würdest. Es ist glücklicher Weise für Dich noch soeben gut gegangen." „Sie war also der Stern der Gesellschaft?" „Jedenfalls war sie viel umworben. Erst in der vorigen Woche hat sie dem Herzog von Morna einen Korb gegeben." „Wirklich dem Morna? Da wird sich Algy Herbert weiter Nicht geärgert haben." „Wem: der nicht gewesen wäre, hätte sie dem Herzog wohl ihre Hand gereicht. Du weißt, daß Morna sehr schwächlich ist, während sein jüngerer Bruder Algy das Leben selbst ist. Algy wird also seinen Bruder überleben." „Und weshalb schlug die schöne Amerikanerin den Herzog aus?" „Nur seines Alters wegen, denn Therese ist sehr ehrgeizig, wie alle amerikanischen Mädchen." „Dann wird sie einem simplen Baron schon lange kein Gehör schenken." „Warum nicht, wenn er ein Pair wird, sobald er das nur wünscht!" „Wie sollte ich das wohl je werden? Der Vater hat die ihm angebotene Pairswürde ausgeschlagen, und meines Wissens macht man ein solches Angebot nicht zum zweiten Male an ein Mitglied derselben Familie." „Bewirb Dich um Millborough, und die Pairswürde ist Dir sicher, ehe Du zehn Jahre älter bist." „Welche Ränkeschmiedin Du bist!" sagte er, sich erhebend. „Ich werde Dich jetzt verlassen, und dies amerikanische Wundermädchen kennen zu lernen suchen." „Denke daran, Dich auf's Beste einzufllhren. Ein veni, vicli, vioi! könnte bei Therese leicht fehlschlagen. Höfliches Wesen, so recht nach der alten Schule, würde Deinem Vorhaben sicher am besten dienen." Ihren Arm in den seinigen legend, ließ sie sich von ihm in die Gesellschaft führen. NeuntesCapitel. Reginald's gesellschaftlichem Auftreten waren seine Ver gangenheit und die in seiner Brust vergrabenen Geheimnisse nicht anzumerken. Weltmännisch gewandt und heiter lächelnd bewegte er sich unter seinen Gästen. Wenn er Winfrieden's je gedachte, so geschah es ohne alle Gewissensbisse. Er erachtete sich im Gegentheil als den in seiner Ehe und durch dieselbe am meisten geschädigten Theil. Wohl seufzte er bei dem Gedanken, daß er dieser verwünschten Fessel noch immer nicht ledig sei. Es entsprach aber seiner ganzen bodenlos leichtsinnigen Natur, daß er sich in Folge der nun fast schon zweijährigen Trennung von Winfriede fast für frei ansah, und es ihm völlig erlaubt dünkte, das Herz jenes Mädchens, welches seine Schwester ihm zum Weibe ausersehen batte, zu belagern. Alles Andere würde sich ja dann später schon finden. Von Therese fühlte er sich abwechselnd angezogen und abge- stoßen. Eine Schönheit war sie nicht. Mund und Nase, so charakteristisch sie waren, dünkten ihm al» Kenner, der er sich ein ¬ bildete zu sein, zu groß. Aber sie hatte ein liebliches, länglich rundes Gesicht, eine schöne, freie Stirn, große, dunkle Augen, einen herrlich geformten Nacken und prachtvolles, braunlockiges Haar. Die Haut war fast durchsichtig, etwa wie feines Por zellan, und ließ einen feinen, warmen Fleischton durchschimmern. Augen und Stirn sprachen beredt fiir einen scharfen, klaren Verstand. Bei etwas besserer Kenntniß seiner selbst hätte Reginald entdecken müssen, daß gerade ihr Verstand und ihr durchdringen der Blick ihn abstießen, während ihre große Anziehungskraft für ihn darin lag, daß Therese so ganz anders war, als die Frauen, die er bis jetzt kennen gelernt hatte. Sie besaß für ilm, den Bonvivant, den prickelnden Reiz der Neuheit, etwa wie ihn ein noch unbekanntes Gericht fiir den Gaumen eines verwöhnten Feinschmeckers hat. Ohne einen seiner Gäste darum zu vernachlässigen oder sein Spiel offen zu zeigen, bemühte er sich, Therese für sich einzu nehmen, und die Amerikanerin zeigte anscheinend keine Ab neigung, sich einnehmen zu lassen. Sie erblickte in der Ehe nicht das unabweisliche Loos der Frau, geschweige denn ihr eigenes. Ihre Ansichten über diese Lebens frage waren vollkommen abgeklärt. Sollte es ihr beschieden sein, eine Ehe einzugehen, welche ihr Leben schön auszugestalten und ihre geistigen Bedürfnisse zu befriedigen vermöchte, so wäre das gewiß ein hohes Glück auch für sie, das empfand sie sehr wohl. Andererseits wußte sie, daß sie Hilfsquellen genug besaß, um vor dem Leben als lediges Mädchen keine allzu große Furcht zu empfinden. Sie war daher ihrer selbst völlig sicher, daß sie nie eine Ehe schließen würde aus Gründen, wie sie fast neun Zehntel der Frauen zu diesem Entschlüsse bringen. Aus Reich- thum machte sie sich nichts, ihr eigener fiel ihr schon zur Last. Der Reiz eines Titels versagte bei ihr gänzlich, trotz Lady Pole's gegenthciliger Meinung. In gesunder, freimllthiger Auffassung wollte sie für die Ergebenheit und Treue, deren sie sich als Frau fähig fühlte, auch nur einem ihrer selbst würdigen Gatten sich für's Leben anvertrauen. Reginald schmeichelte sich bald, einen tiefen Eindruck auf sic gemacht zu haben. Er glaubte schon, der Eroberung Theresens, zu deren Füßen so viele Andere vergebens geschmachtet hatten, ganz sicher zu sein. Und er war für diese große Zuversicht eigentlich kaum zu tadeln, wenn man sah, welch williges Ohr dir reiche Erbin ihm lieh, so oft er sich an sie wandte. Er hatte ja keine Ahnung, und seine Selbstverblendung ließ einen solchen Verdacht gar nicht in ihm auskommen, daß dieses Mädchen jedes seiner Wort« auf di« feine Waagschale ihrer Empfindungen legte und über Plus und Minus seiner Tugenden gewissermaßen Buch führte. Auch Gräfin Pole sah mit Entzücken^ mit welcher Wohl gefälligkeit Therese Reginald's Annäherung aufnahm. Alles, so bäuchte ihr, ginge nach Wunsch; sie war betreffs des Erfolges ihres Bruders von gleich großer Zuversicht wie er. Es schien ihr daher an der Zeit, Fräulein Goffin für ihre Pläne betreffs Reginald's zu gewinnen und zu diesem Zwecke ein iLto-L-töt» mit Therese herbeizuführen. „Ich nehme Ihre freundliche Zusage init bestem Danke an. Mein lieber Bruder beschäftigt sich leider nur wenig mit Politik. Sein Mißtrauen, gerade jetzt, in so bewegter Zeit, als Candidat aufzutreten, ist ja auch völlig gerechtfertigt. Er hat überhaupt einen großen Widerwillen dagegen, sich, wie er das nennt, „von den Wählern öffentlich zergliedern zu lassen", sollte aber bas doch nicht scheuen. Nun dachte ich, Sie, meine Liebe, könnten ge legentlich ein Wort fallen lassen, das geeignet wäre, ihn aus seiner Abneigung herauszureißcn." „Ich?" rief Therese höchst erstaunt. „Jawohl, Sie, meine Liebste. Sie haben mehr Einfluß auf ihn, als wir Anderen alle zusammen. Es ist so wichtig, daß er seine Unthätiglcit aufgiebt. Selbst die besten Männer werden egoistisch, wenn sie sich ausschließlich mit ihren eigenen Ange legenheiten beschäftigen." „Aber Sir Reginald muß doch auf Albertshof und mit der Sorge für seine Pächter vollauf zu thun haben." „Wie freue ich mich, gerade mit Ihnen mal ungestört plaudern zu können. Ich habe Ihnen so viel zu erzählen. Ein Sitz im Parlament ist frei geworden, und mein Mann und ich wünschen inständigst, daß mein Bruder sich darum bewerben möchte. Es wäre zu hübsch, ihn im hohen Hause zu wissen." Um überhaupt etwas zu sagen, meinte Therese, als die Gräfin längere Zeit schwieg: „Das wäre für die Familie gewiß sehr angenehm." „Also Sie denken auch so wie wir. Ich hoffte zuversichtlich darauf und glaube, Sie könnten uns dabei etwas behilflich sein." „Ich versiebe nicht recht, wieso", sagte Therese. „Es wär» aber für mich ein großes Vergnügen, könnte ich Ihnen irgendwie dienlich sein." „Freilich, er ist sogar ein vortrefflicher Gut-Herr. Aber ek> giebt nichts Besseres, einen Mann aus sich heraus gehen zu lassen, als dir Theilnahme an den großen Staat»-Angelegen- heiten. Gerade diese ist sehr geeignet, die naturgemäß sehr engen Kreise der Gemeinde-Interessen zu erweitern und den Groß grundbesitzer einer kleinlich««, KirchthurnZpolitik und Gilbst«
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