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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 29.05.1903
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1903-05-29
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19030529025
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1903052902
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1903052902
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1903
- Monat1903-05
- Tag1903-05-29
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So nehmen die „Times" die Anwesenheit des deutschen Geschwaders an der spanischen Küste und den Besuch des Prinzen Heinrich in Madrid zum Anlaß, um der „fieberhaften Wachsamkeit des deutschen Kaisers" ein natürlich nicht sehr wohlwollenv gemeintes Kompliment zu machen. Diese Wachsamkeit des Kaisers soll darin bestehen, daß der Zeitpunkt des GeschwaderbesuckS mit besonderem Bedacht ausgewäblt Worden sei. Spanien fühle sich gerade im gegenwärtigen Augen- blicke außerordentlich vereinsamt; in der marokkanischen Frage hätten die anderen Mächte die Spanier deutlich empfinden lassen, daß ihre Ansprüche nur als Formsache betrachtet würden; England speziell habe Spanien in der letzten Zeit zweimal vor den Kopf gestoßen, einmal, indem König Eduard Lissabon, Rom und Paris besucht habe, Spanien aber habe links liegen lassen; zum zweiten, indem bei der Enthüllung eines den gemein samen Kämpfen Englands unv Spaniens gegen Napoleon I. geweihten Denkmals sich nicht habe vertreten lassen. Diese Unterlassungssünde sei in gewißen diplo matischen Kreisen — damit sind natürlich deutsche Kreise gemeint — mit lebhafter Genugtuung aus genommen worden, und da auch der schärfste Kritiker dem ventschen Kaiser nicht einen Mangel an „diploma tischer Witterung" absprechen könne, so habe der Kaiser diese Gelegenheit wakrgenommen, um Deutschland bei den Spaniern „niedlich" zu machen. Die Mächte täten also sehr gut daran, den Besuch des Prinzen Heinrich in Madnv und die „Anfeieruug" der deutschen Seeleute in Vigo mit einiger Aufmerksamkeit zu betrachten, um so mehr, als Spanien hoffe, einmal durch eine Alliance mit Deutschland, dann aber auch durch eine Verstärkung der spanischen Flotte wieder zu einer Stellung im Nate der Völker zu gelangen. Wir glauben gern, daß die „diplomatische Witterung" deS deutschen Kaisers schon manchmal denen unbequem ge wesen ist, die Deutschland am liebsten noch immer als eine quautits u^gligadlö bei allen die Geschicke der Welt be rührenden Fragen betrachten möchten, aber in diesem Falle kann nur die englische Phantasie oder — VerdächligungSsucht besonderen Vorbedacht annehmen. Als das Denkmal von Atbuera am 16. Mai enthüllt wurde, war die deutsche Flotte bereits unterwegs; üe batte also nicht erst abgewartet, ob England eine Unterlassungssünde begehen würde. Auch der Besuch des Prinzen Heinrich in Madrid stand damals längst fest. Es ist auch sachlich um so weniger Veranlassung gewesen, einen besonderen Moment auszuwählen, als niemand in Deutschland an ein festeres Verhältnis mit Spanien denkt. Der Besuch des Prinzen Heinrich er folgt, wie unser Berliner /--Korrespondent bereits dem „Journal deS Tebats" gegenüber auf Grund genauer In formation angedeutet bat, weil er von anderer Seite ge wünscht wurde und weil man in Berlin keinen Anlaß hatte, den Wunsch einer Regierung zu ignorieren, die so viele und schwere Schicksalsschläge hat durchmachen müssen. Auf deutscher Seite ist also keinerlei Ränkelust vor handen; wohl aber erscheint es ränkesüchtig, wenn der Korrespondent der „Times" in Madrid die Gelegen heit des Prinzen-Besuches wabrnimmt, um Deutsch land uud die Bereinigten Staaten auf einander zu Hetzen, indem er nämlich aus den spanischen Zeitungen gerade solche Stellen zitiert, die sich auf die angeblichen Zwistigkeiten zwischen der deutschen und der amerikanischen Marine gelegentlich des spanisch-amerikanischen Krieges be ziehen. Ein anderes Beispiel der Neigung der englischen Presse, Deutschland zu verdächtigen oder lächerlich zu machen, liefern gleichzeitig die sonst übrigens ziemlich deutschfreundlichen „Daily News". Dieses Blatt läßt sich aus Rom telegraphieren, baß die Geschenke deS deutschen Kaisers an den Papst im Vatikan als „zu preußisch", d. h. ;u billig, angesehen würden; eine Photographie des neuen Portals der Kathedrale von Metz sei doch ein geschenkter Gaul, dem man Wohl ins Maul lehen müsse. Wir glauben nicht, baß man in vatikanischen Kreisen so geschmacklos ist, an Geschenke des deutschen Kaisers den Maßstab eines Auktionators anzulegen, wohl aber beweist uns die Behaup tung der „Daily News", daß die englische Presse sich be sonders glücklich fühlt, wenn sie am deutschen Kaiser und an der deutschen Nation herumnörgeln kann. Der sozialdemokratische Aufmarsch zu den Wahle«. Triumphierend verkündet der „Vorwärts", daß nun mehr alte Wahlkreise des Deutschen Reiches mit sozial demokratischen Kandidaten „belegt" sind, mit Ausnahme von vorläufig drei Kreisen. Der 15. elsässische Wahlkreis soll unbesetzt bleiben; die Kreise Olpe-Arnsberg und Zabern harren noch ihres Propheten. Aber in 394 Wahlkreisen stehen die Namen der sozialdemokratischen Kandidaten fest und jeder sozialdemokratische Wähler, gleichviel, ob er jemals von dem betreffenden Kandidaten etwas gehört hat oder nicht, muß seinen Wahlzettel für ihn abgeben. Auf diese Weise hofft man. nach den Wahlen von neuem mit dem Anwachsen der sozialdemokratischen Stimmen in allen Wahlkreisen paradieren zu können. Eine dieser Kandidatenliste beigefngte Art von Statistik bietet für die bürgerlichen Parteien insofern einiges Jniteresse, als sie aufführt, welche Wahlkreise bei Sen Wahlen im Jahre 1898 noch nicht von den Sozialdemo kraten „belegt" waren. Es waren die Wahlkreise: Tchwetz, Kvsten-Neutvmischl, Fraustadt-Lissa, Schrimm- Schroda, Wreschen - Pieschen, Kron'ictnn, Gnesen-Wou- grvwitz, Daun-Prüm, Wittlich-Bcrnkastel, Gelsenkirchen- Heinsberg und Saarburg; letzterer (15. elsässischer Kreis) bleibt auch diesmal unbesetzt. In Essen zählten im Jahre 1898 die 4429 sozialdemokratischen Stimmen nicht, weil sie für den nicht wählbaren (verurteilten) Schröder ab gegeben waren. — Noch lehrreicher aber sind die vom „Bvrwärts" wiedergegebeneü Zahlen deshalb, weil sie beweisen, daß eine große Zahl der sozialdemokratischen Kandidaten des Wahljahres 1898 lediglich durch die Lauheit der Wähler der bürgerlichen Parteien in den Reichstag gelangte; denn die folgenden sozialdemo kratischen Kandidaten brachten es bei den Wahlen auf noch nicht die Hälfte der abgegebenen Stimmen und kamen dennoch als Abgeordnete in den Reichstag; cs sind dies die sozialdemokratischen Abgeordneten Zubeil, Klees, Antrick, Tutzauer, Sachse-Waldcnburg, A. Schmidt «dessen Wahlkreis nachher von den Nationalliberalen zurückerobert wurde), Thiele, Ehrhardt, Segitz, Fischer, Kaden, Gradnauer, Rosenow, Agster, Geck, Dreesbach, Kramer, Dr. Herzfeld, Baudert, Bloos, Calwer und Albrecht. In den 22 Wahlkreisen dieser sozialdemo kratischen Abgeordneten erhielten sie also noch nicht die Hälfte aller abgegebenen Stimmen und wurden dennoch gewählt! Die Anzahl der abgegebenen Stimmen ist selbstverständlich nicht identisch mit der Anzahl der Wahl berechtigten. Man kann getrost annehmen, Laß die sozial demokratischen Wahlberechtigten bis auf den letzten Mann an der Wahlurne erschienen, die bürgerlichen Parteien dagegen in ihren lauen und gleichgültigen Elemente» noch eine große Wahlreserve hatten. Wäre diese im Jähre 1898 geschlossen gegen die Sozialdemokratie ins Feld geführt worden, so würde die sozialdemokratische Fraktion 22 Mandate weniger gezählt haben; sie hat letztere nicht so sehr durch eigene Kraft, als durch die Lässigkeit der Wähler der anderen Parteien erworben; diese sollten sich also die bittere Lehre in den jetzt bevor stehende» Wahlkämpfen immer wieder vor Augen halten! Englische Zollkampfpolitik. Die Frage des Freihandels und Schutzzolls ist gestern im englischen Unterhaus sehr eingehend erörtert worden, zwar nur akademisch, da ein radikaler Umsturz eines jahrhundertelang mit einer an Anbetung grenzenden Pietät sestgehaltenen Prinzips ja nicht von heute auf morgen er folgen kann, allein die besonders für Deutschland höchst wichtige Angelegenheit wird in absehbarer Zeit nicht wieder von der Tagesordnung der englischen und der internationalen Politik — und wir meinen nicht nur der Finanzpolitik — verschwinden. Zudem waren es die ersten Führer der ministeriellen Partei, Bal four und Chamberlain, welche — ganz gegen die Erwartung der Opposition bis auf das Tüpfelchen über dem i einig — ein ganzes Arsenal von Waffen, oder wenn man will, von großen Worten und hochtönenden Phrasen für das Schutzzollsystem ins Feld führten, und leidenschaftliche Entgegnungen der Liberalen werden, wenn das Haus in der zweiten Juniwoche wieder Zusammentritt — man erwartet einen „großen Tag" — nicht ausbleiben. Alles das veran laßt uns, die gestrige Unterhausdebatle unter „Großbritannien" in aller Ausführlichkeit wiederzugeben. Welches Echo Chamberlains unv Balfours Reden im Unterhause finden werden, davon kann man sich jetzt schon einen ungefähren Begriff machen, wenn man die folgenden Preßäußerungen liest: London» 29. Mai. (Telegramm.) „Standard" schreibt, es scheine kein Zweifel darüber zu bestehen, daß, während Chamberlain sich gestern die warme Unterstützung eines Teiles der unionistischen Mehrheit erworben habe, er sich weiter vorgewagt habe, als eine Anzahl Ministerieller, darunter, wie man glaube, einige Mitglieder der Regierung, zur Zeit zu gehen geneigt sei. — In einem anderen Artikel führt das Blatt aus, es bestehe kein Unterschied zwischen den Anschauungen Balfours und Chamberlains. Binnen Kurzem könne das Land in Streitigkeiten verwickelt werden, die alle politischen Erörterungen der letzten Jahre völlig in den Schatten stellen würden. Sache der Wähler sei es, sich darüber schlüssig zu machen, ob das Experiment gemacht werden solle oder nicht. — „Daily Tele graph" weist daraus hin, daß es sich in dieser Frage nicht um einen bereits ausgearbeiieten Plan, sondern nur um einen bestimmten Grundsatz handle. Hier werde die große Frage der Zweckmäßigkeit des Imperialismus in den Vordergrund gerückt, vou der die ganze Existenz des Reiches abhängen könne. — „Daily News" führt auS: Die kurze Regierung Balfours scheint schon nahe amVerlöschenzujein. Chamberlains Plan ist ledig lich der rücksichtslose Schlag eines Mannes, der sich in ver zweifelter Lage sieht, aber sein Plan wird keinen Erfolg haben.— „Daily Chronicle" schreibt: Chamberlain entw ckelt keinen Plan, sondern entwirft uns ein Wablprogramm, das voll von unfertigen Andeutungen ist. Wir glauben nicht, daß Las Land damit einver standen jein wird, die Augen zu schließen und die Taschen auszumachen.— „Morning Post" sagt, die gestrige Debatte im Unterhause zeige, daß Chamberlains Politik eine politische Regierung ei. Chamberlain habe mit Unterstützung Balfours eine neue Frage aufgeworfen, die alle anderen bis zur allgemeinen Wahl beherrschen müsse. Nach alledem wird die Reichs-Schuyzollsuppe nicht so heiß gegessen werven, wie der Kolonialmunster sie eingebrockt hat. Nach den Wahlen bläst sie Chamberlein vielleicht selber mit. Unter dem Gesichtspunkte der Wahlrede mögen denn auch die brüsken Anpöbelungen Deutschlands gewürdigt werden, die der Mann mit der dreisten Stirn sich wieder geleistet hat. Wir nehmen sie nicht besonders ernst, denn das englische Volk ist zu klug, um diesem skrupellosen Politiker auf diesem Wege bis ans Ende zu folgen, denn er würde, wie die internationale Konstellation nun einmal liegt, Eng land in unabsehbare Wirren sichren. ES entspricht also dem eigensten Interesse unserer „besten Feinde", diesen Mann baldigst über Bord zu werfen. Roosevelt als Präsidentschaftskandidat. Als Kandidaten für die nächstjährige Präsi dentenwahl in den Bereinigten Staaten von Nordamerika werden neben dem jetzigen Oberhaupte der Washingtoner Regierung, neben Theodor Roosevelt, der Ex-Präsident Cleveland und zwei Führer der demokratischen Partei, der Senator Gorman und Mr. William Jennings Bryan ge nannt. Auch ein bisher politisch nicht hervvrgetreteuer Bewerber, der Zeitungsbesitzer und Millionär W. R. Hearst, soll bei der Bewerbung um den Prüsidentenfitz sich der Unterstützung eines Teiles der demokratischen Partei erfreuen. Wenn nun auch Bryan und Hcarst an Energie und Geschicklichkeit der Wahlmache nichts ver missen lassen, so lehrt doch schon das Vorhandensein mehrerer Kandidaten, daß eine einheitliche Stimmung und Führung der demokratischen Partei im nächsten Jähre ebenso wenig vorherrschen dürfte, als bei den letzten Wahlen. Jedenfalls hat im Gegensätze zu den beiden genannten Kandidaten, von denen Bryan erklärt, daß neben ihm ein anderer Bewerber unmöglich sei, und Hearst sich als der „Mann voll Mut und Energie" preisen läßt, der Senator Gorman sich in einer Weise über das Ergebnis der nächstjährigen Wahlen geäußert, die erkennen läßt, daß er seiner Sache keineswegs sicher ist. Mit Rücksicht auf den fernen Termin der Wahlen, be merkte er einem Vertreter der Londoner Presse, lasse sich, auch wenn folgenschwere Ereignisse auf politischem oder wirtschaftlichem Gebiete nicht einträten, weder über das Programm der Wahlen, noch über ihren Verlauf irgend ein ernsthafter Anhalt gewinnen. Ganz anders ist da- gegen die Art, wie der gegenwärtige Präsident seine Sache führt. Die von einer ungewöhnlichen staats männischen Begabung und kraftvollen Energie zeugenden! Kundgebungen, die Roosevelt auf seinen weiten und Frrrilletsn. Mr. TrunneU. Seeroman von I. Hains. Nachdruck verboren. Erstes Kapitel. Es ist noch nicht allzu lange her, da faß ich zu Mel bourne in Australien als stellungsloser Seefahrer auf dem Trocknen. So etwas kommt ost vor, überall wo es Seeleute gibt; damit die Sache aber nicht etwa falsch gedeutet werde, will ich hier hinzufügen, daß ick damals — ich war fünfund zwanzig Jahre alt — noch niemals einen Tropfen Brannt wein über die Lippen gebracht hatte, obgleich ich bereits sieben Jahre zur Lee fuhr. Auf den letzten Schiffen hatte ich den Posten eines Steuermanns versehen, und da ich keine Lust verspürte, mich jetzt wieder als Matrose anmustern zu lassen, hatte ich so lange an Land gezögert, bis mein Wirt unangenehm wurde und mich in die Notwendigkeit versetzte, weniger wählerisch zu sein. Es waren damals da draußen Steuerleute im Ucberfluß vorhanden, an Matrosen herrschte jedoch Mangel. Tag für Tag streifte ich von früh bis spät umher, um irgendwo als Offizier an Bord zu kommen, und auf diesen Gängen schleppte ich alle meine Habseligkeiten mit mir herum; sie bestanden aus meinen Papieren, einem alten Quadranten, einem nautischen Almanach, einer blauen Piejacke und einer kurzen Holzpfeife. Den Quadranten führte ich als letzten Notanker mit mir; wenn alle Bemühungen miß glückten, dann wollte ich ihn bei einem Pfandleiher ver setzen, um noch einige Dollars aufzutreiben. Als ich eines Tages trübselig am Hafen entlang schlen derte, wurde mein Blick durch ein schönes Klippervollschiff gefesselt, das an einer der Werften lag. Ich erkannte so gleich, daß keine Mannschaft an Bord war, da die Segel von einigen wenigen Schanerleuten untcrgcschlagcn wur den. Ehe ich noch seinen Bug sah, wußte ich bereits, welcher Nation cs zugehörte: die schneeige Weiße seiner Segel kennzeichnete es als einen Amerikaner. Es war sehr tief geladen; der Zchanzdeckel befand sich nur vier Fuß ober halb der Wasserlinie. Das Deck war, der hohen Schanzkleidung wegen, von der Werft aus nicht sichtbar; aus dem herübcrtönenden Gc. rausch schloß ich aber, daß man damit beschäftigt war, die letzte Ladung in den Raum zu bringen. Ich schritt die ganze Länge des Schiffes ab, bis zu seinem Heck; hier las ich den in goldenen Lettern ange brachten Namen: „Pirat, von Philadelphia". Und jetzt erinnerte ich mich. Der „Pirat" war ein Hankeeschiff von sehr schlechtem Ruf. So heiß ich mich auch danach sehnte, nach New Z)ork, meiner Heimat, zurückzukehren, so mar ich doch jetzt innerlich froh darüber, die Heimfahrt nicht an Bord dieses Fahrzeuges machen zu müssen. Der „Pirat" mar vor vier Wochen hier binnengekom- men. Bei der Abmusterung hatte sich herausgestellt, daß auf See drei Mann der Besatzung verschwunden waren; auf welche Weise, dafür fehlte jegliche Zeugenaussage, der bloße Anblick der übrigen Matrosen aber reichte hin, das Schicksal der Vermißten zu erklären. Auch war der Kapi tän sogleich nach dem Einlaufen des Schisses ins Gefäng nis abgeführt worden. Schon früher war mir allerlei von den Untaten dieses Menschen zu Ohren gekommen, und ich wünschte von Her zen, daß ihn nun endlich einmal die Vergeltung ereilen möchte, zugleich aber mußte ich mir sagen, daß dies wohl sehr fraglich sein würde, denn mit der irdischen Vergeltung hat es in solchen Fällen, soweit Schiffskapitünc in Betracht kommen, zumeist gute Wege. Dieser gehörte zu jener Klasse von Seeschifsern, die den amerikanischen Paket schiffen zu ihrem schlimmen Rufe verhalfen haben, und aus diesem Grunde gönnte ich ihm ebenfalls das Schlimmste. Ich war im Begriff, die Werft zu verlaßen, wendete mich aber noch einmal um, das schöne Schiff zu betrachten. Hoch ragten die schlanken Bramstengen empor, mit Lber- bramraaen und Skyseaelraaen in allen drei Toppen und mit den gewaltigen Unterraaen. die von Nock zu Nock nahezu neunzig Fuß maßen. Es war ein prachtvolles Schiff; meine Bewunderung aber verwandelte sich in Zorn, als ich an das Los dachte, das der armen Schelme wartete, die sich ahnungslos hier anmustern ließen. Nur unsereiner weiß, wieviel Drangsal und Elend, wieviel Schläge und Flüche es kostet, diese gewaltigen Masten, Stengen und Spieren reinlich geschrapt und blank in Farbe zu erhalten. „Feiner Huker, he?" sagte plötzlich eine Stimme ganz in meiner Nähe. Ich drehte mich schnell herum und gewahrte einen Mann, der sich über die Hcckrecling lehnte. Erstaunt schaute ich zu ihm aus, denn der Mensch erschien mir höchst sonderbar. Ein Wust von langen, zottigen Haaren umgab seinen großen Kopf, sein breites Gesicht verschwand beinahe unter einem langen struppigen Bart. Beine schien der Mann gar nicht zu haben, denn die Schultern, breit wie die eines Riesen, ragten nur wenig über die drei Kuß hohe Reeling empor. Die übermäßig langen Arme hatte er, die Ellbogen ausgespreizt, auf die Reeling gelegt, die großen Hände waren über dem Pfeifenstummel gefaltet, an dem er gemächlich saugte, während er auf mich herab blickte. „Von außen gesehen, ist das Schiff ja ganz fein", ant wortete ich. „Bei hohem Seegang ersäuft es mitschiffs", redete der Mann weiter, „vorn und achtern aber bleibt es trocken. So ist's immer, wenn ein Huker tief geladen ist. Einige nehmen vorn und achtern Wasser über, andre mitschiffs. Macht aber nichts, so lange sie binncnwärts trocken bleiben. Wollen Sie nicht mal an Bord kommen?" Ich zögerte erst ein Weilchen, dann kletterte ich in der Kreuzrüst hinauf, die in gleicher Höhe mit der Werft war. „Noch keine Mannschaft -a, wie ich sehe", sagte ich, als ich an Deck stand. „Nein, außer mir bloß noch der Koch. Die Mannschaft kriegen wir morgen früh, auch den Kapitän, wenn cs richtig ist, was ich gehört habe." „Wo ist der Kapitän?" fragte ich. Er sah mich einige Augenblicke von der Seite an, dann spreizte er die Beine weit auseinander und schob die mäch tigen »Fäuste tief in die Hosentaschen. „Nichts davon gehört, was?" sagte er dann. „Brummt und wegen einer verflucht faulen Sache." Dabei zog er die Rechte wieder aus der Tasche nnd machte damit eine bezeichnende Bewegung um den Hals. »„Wegen Mordes?" Er nickte. Ich stand unschlüssig; am liebsten hätte ich mich sogleich wieder entfernt. Da nahm er wieder das Wort. „Sie haben da ein Ochsenjoch, wie ich sehe", sagte er. Er meinte den Quadranten. ,;Lind Sie Steuermann?" „Ja." „Das bin ich auch, „Erster" nämlich, nnd an Land suchen sie jetzt gerade einen „Zweiten" für mich. Hab's Ihnen gleich angesehen, was Sie sind, als Sie am Hafen daher kamen. Das ist einer für mich, sagte ich zu mir selber. He? Was sagen Sic ?" Ich fühlte etwas wie einen Hoffnungsschimmer in mir aufdämmern. „Brummt Ihr Zweiter etwa auch?" warf ich hin. ,„Ia, und wird wohl noch lange brummen, weil er keine Bürgschaft beschaffen kann. Mit dem Schiffer liegt das Dina anders, der treibt vielleicht die nötige Lumme auf, quien sah«? Heute abend kommen die Agenten der Reederei an Bord und bringen alles in Schick; Zeit wird's, wir sind voll und auch mit dem Stauen beinahe fertig. Länger warten können wir nicht." Ich überlegte. Hier konnte ich möglicherweise als Steuermann an Bord kommen, und was den wüsten Kerl, den Schiffer, anlangte, so war es doch fraglich, ob er gegen Bürgschaft aus dem Gefängnis entlassen werden würde. Tann konnte ich nichts Besseres finden, denn vor dem kleinen Oberslcucrmann fürchtete ich mich nicht. Furcht war mir überhaupt unbekannt — ein Mann, der das nicht von sich sagen kann, wird es selten zum Steuermann eines großen Lzeanfahrers bringen — aber brutale Kapi- täne suchte ich sorgfältig zu meiden, wegen der unbeschränk ten Gewalt, die sic auf See ausüben, und gegen die cs keinen Einspruch aibt. Der kleine Steuermann erriet, was in mir vorging, und setzte dementsprechend seinen Kurs. ,„Kommen Sic doch nach Feierabend nochmal an Bord", sagte er. „Dann finden Sie die Agenten hier — Lauer L Eo., Sie kennen die Firma wahrscheinlich; ich werde die Sache für Sie schon in Ordnung bringen. Was meinen Sie dazu, he ?" Ich erklärte mich einverstanden, und nach kurzer Un terhaltung über die Eigenschaften von allerlei Schiffen, besonders über die des „Pirat", verlieb ich das Schiff und begab mich in mein Quartier. Mein Wirt war bei der Kunde von der Wendung meines Geschickes so vergnügt, wie ich erwartet l>atte, mir selber aber kamen nach und nach doch allerlei Bedenken, nnd es fehlte nicht viel, so hätte ich mich wieder anders besonnen und die Suche fortgesetzt. Die Zeit verging je doch schnell, und ehe ich noch mit mir im reinen war» be fand ich mich bereits aus dem Wege nach der Werft. Schon von weitem gewahrte ich den buschigen Kopf oberhalb der Rcclina des Quarterdecks, und gleich darauf lehnte sich Mr. TrunneU, der Obcrsteuermann, wieder über die Hcckrecling und begrüßte mich mit seemännischem Zuruf. Ich kletterte an Deck, wo er mich empfing und sogleich in die Vorkajüte führte. Hier sand sich auch alsbald der „Doktor" — der Säiifsskoch — ein bildhübscher Neger, der sein bißchen Geschirr abgcwaschen und das Feuer in der Kombüse ausgelöscht hatte und sich nun hier unten mit -G»
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