02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 19.08.1902
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1902-08-19
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19020819026
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- LDP: Zeitungen
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- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1902
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Tabellarischer und Zisfernsay entsprechend höher. — Gebühren für Nachweisungen und Offertenannahme 25 H (cxcl. Porto). Extra-Beilagen (gesalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbesörderung ./L 60.—, mit Postbesörderung ./L 70.—. Ännahmeschluß für Anzeigen: Abend-Ausgabe: Vormittags 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittags 4 Uhr. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richten. Tie Expedition ist Wochentags ununterbrochen geöffnet von früh 8 bis Abends 7 Uhr. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig. Nr. 42« Dienstag den 19. August 1902. 86. Jahrgang. Politische Tagesschau. * Leipzig, 19. August. Am bayerischen Hofe, daran kann leider nicht mehr gezweifelt werden, ist man wegen der Veröffentlichung des Depeschenwechsels zwischen dem Kaiser und dem Prinz-Regenten sehr verstimmt. Weit davon entfernt, diese Veröffentlichung zu bewirken oder auch nur anzufragen, ist man dort von ihr überrascht worden. Das geht deutlich aus der folgenden Auslassung der Münchener „Allgem. Ztg." hervor, obgleich in ihr sichtlich das Bestreben vorwaltet, der Verstimmung einen möglichst schonenden Ausdruck zu geben: „Dem Hofe wie den amtlichen Stellen in Bayern ist die Veröffentlichung des Depeschenwechsels erst durch die Publication des Süddeutschen Correspondenzbureaus, der Münchener Filiale des Wolfs'schen Bureaus, um dieselbe Stunde, wie den Münchener Blättern, bekannt ge- worden. Nichtig ist, daß die Veröffentlichung des Wolss'jchen Bureaus in Berlin damit eingeleitet war, daß es aus München von dem Depeschenwechsel erfahren. Die Ausgabe der Nachrichten in München wies aber auf Berlin als Ursprung der Mittheilung hin, wie es auch thatsächlich der Fall war. Von amtlicher Seite in Berlin ist ebenfalls die Veröffentlichung der Depeschen nicht bewirkt worden. Vielmehr deuten alle Anzeichen darauf hin, dab die Uebergabe der Depeschen an das Bureau sich in der Richtung der Absichten des Kaisertelegramms bewegte. Es lag dabei nichts ferner, als eine unzulässige Einmischung in innerbayerische Verhält nisse, die sicher Niemand mehr verwundet hätte, als den Prinz» Regenten, zu dem das Telegramm vielmehr in einer Zuneigung nnd Verehrung sprach, wie sie für das persönliche Verhältnis; von Bundesfürst zu Bundesfürst nur gewünscht werden kann. Keine Rabulistik, keine Böswilligkeit hätte diesen Aus tausch persönlicher Verehrung bestreiten können, wenn man ihm diese ausschließlich persönliche Form gelassen, in anderen Worten ihn nicht der Oefsentlichkeit übergeben hätte; oder, was unsere Meinung ist, wenn man sich damit begnügt Hütte, von der Thatsache des Depeschenwechsels in einer Form Kenntniß zu geben, die einer Ausnützung, wie sie jetzt aus dem Ceutrumslager versucht wird, vorgebeugt hätte." Ungeschminkt kommt die Verstimmung in der „AugSb. Abendztg.", die für ihre bayerischen Leser eine andere Tonart anschlagen muß, zum Ausdruck. Ueber ihre neueste Aus lassung berichtet folgendes Telegramm der „Franks. Ztg.": München, 18. August. Die „Augsb. Abdztg." schreibt: Es steht nunmehr fest, daß die Veröffentlichung des Depeschen» Wechsels zwischen dem Kaiser und dem Prinz-Regenten auSschließ» lich auf Befehl des Kaisers erfolgt ist, nachdem sie von bayeri scher Seite, wo man Las Peinliche des Vorganges von Anfang an sehr lebhaft empfand, abgelehnt worden war. Im Hoslager des Prinz-Regenten machte die Veröffentlichung, die man erst aus den Zeitungen ersah, eine Wirkung, für welche die Bezeichnung „Ueber- raschung" auch nicht annähernd erschöpfend ist. Trotz manchem Borausgegangenen hatte man Derartiges doch nicht für möglich gehalten. Aus beiden Kundgebungen geht auch unzweideutig hervor, daß man es im „Hoslager deS Prinz-Regenten" nicht für nöthig hält, hinter dem Berge zu halten. Man würde sich auch nicht eben wundern können, wenn Prin; Ludwig dem nächst in einer Rede seinen Gefühlen Lust machte. Am meisten dürste ihn und den Prinz-Regenten der beiden nach der ersten Ueberraschung bekannt gewordene Umstand erregt haben, daß das „Wolff'sche Bureau" den nichtbayerischen Blättern die Depeschen schon mit der Hinzufügung mitgetheilt hat, die Nachrichr komme aus München, die Veröffentlichung erfolge also auf Veranlassung aus Bayern. Diese Falschmeldung mußte ja auch zur Folge haben, daß die bayerischen Blätter gleich uns zu der Meinung kamen, die bayerische Krone sei zu einem völligen Bruche mit dem Centrum bereit und hänge ihm zu diesem Zwecke die scharfen Tadelöworte des Kaisers öffentlich um den Hals. Zn „Berlin" hat man also alle Ursache, zunächst aufzuklären, durch welchen Zrrthum das Wolff'sche Bureau zu seiner Falschmeldung veranlaßt worden ist, um dadurch wenigstens einen Hauptgrund der bayerischen Verstimmung zu beseitigen. Daß diese der Presse Veranlassung zu der Frage giebt: Was sagt denn der „leitende Staatsmann" dazu? ist begreiflich. Auch die klerikale „Köln. Volksztg." wirft diese Frage aus und glaubt sie kurz dahin beantworten zu können, Gras Bülow sitze in Norderney und werde überrascht gewesen sein, sehr unangenehm überrascht sogar. Aber damit, fährt daS Blatt fort, sei für ihn die Sache noch nicht erledigt: „Der Reichskanzler wird sehen, Laß auch der neueste Fall für ihn noch nicht „erledigt" ist. Diesmal wird es seiner eleganten Beredtsamkeit etwas schwieriger werden, als sonst, sich aus der Affäre zu ziehen. Er kann, wenn er im Reichstage inter- pellirt wird, sagen, cs handle sich bei dem kaiserlichen Telegramm um keinen politischen, sondern um einen rein privaten und persönlichen Act, über den Niemand Rechenschaft fordern könne, aber die beliebte Redewendung, er „unterschreibe jedes Wort", wird er diesmal doch nicht gut hinzusügen können. Wirken wird jedenfalls die glatteste Beredtsamkeit in diesem schwierigen Falle nicht. Immer bleibt die Frage: Wozu ist man denn überhaupt „leitender Staatsmann", wenn man überhaupt nichts zu „leiten" hat? Den „leitenden Staatsmann" verinisfen wir ja auch nicht blos hier. Wo bleibt er — um lediglich die jüngste Ver gangenheit in Betracht zu zieyen — im Fall Löhning? Au; der ganzen Linie der „Verantwortlichen" rührt sich nichts.' Wenn man auch den Kanzler sich nicht rühren sieht, so ist doch jedenfalls die Annahme irrig, daß er sich wirklich nicht rühre. Er wird sich sagen, daß während Biömarck'S Kanzlerschaft die Depeschenasfäre nicht vorgefallen wäre; und schon daraus dürste er für sich die Verpflichtung herleiten, die Folgen dieser Affäre möglichst abzuschwächen und den „Draht zwischen Berlin und München" zu repariren. Und das wird sich im Handumdrehen sicherlich nicht bewerkstelligen lassen. Damit wird aber seine Aufgabe noch nicht einmal beendet sein. München ist zweifellos nicht die einzige Haupt stadt, in der die Depeschenaffäre verstimmt bat, denn was dem Prinz-Regenten Luitpold begegnete, könnte vielleicht jedem anderen Staalsoberhaupte zustoßen. Bei solcher Lage wird Graf Bülow selten Zeit finden, in einem Strandkorbe zu träumen. Der „Vorwärts" stellt den auch von uns gebührend gewürdigten Rcvanchrphrascn des französischen Kriegs ministers Andre die bekannte, den Revancheschwindel bloß stellenden Rede deS französischen Socialisten Jaurös vom Juni dieses Zahres gegenüber und beschließt den Vergleich zwischen beiden Reden mit der selbstgefälligen Behauptung: „Nur dadurch, daß man den Chauvinismus im eigenen Lande entwurzelt, fördert man ernsthaft und aufrichtig den Völker frieden. Diesen Kampf gegen den völkerverhetzenden Nationalegoismus führt aber bis jetzt einzig die inter nationale Socialdemokratie." Diese Behaup tung in Verbindung mit der Rede JauröS' ist eine bewußte Fälschung. Der „Vorwärts" weiß sehr gut, denn er hat selbst oft genug darüber geklagt, daß der französische SocialismuS in sich gespalten ist, und daß Zaurös nur der Führer einer Gruppe innerhalb der französischen Socialdemokratie ist. Er weiß ferner sehr gut, daß durchaus nicht alle Socialdemo kraten Frankreichs der bewußten Rede ZauröS' zustimmten; er weiß schließlich sehr gut, daß die französischen Social demokraten schon mehr als einmal bewiesen Haden, wie wenig ihnen der Revanche-Gedanke fremd geworden ist. Als bei spielsweise der damals in seiner Mehrheit noch socialistische — beuie ist bekanntlich diese Mehrheit nationalistisch — Pariser Gemeinderalb im Herbst 1896 den Kaiser Nicolaus feierte, da geschah Lies doch gewiß nicht aus Sympathie für einen absoluten Monarchen, sondern weil man von seiner Hilfe die Verwirklichung des Revanchegedankens erhoffte. Es wäre also sehr gewagt, im Falle eines neuerlichen Anschwellens der chauvinistischen Gesinnung in Frankreich von der französischen Socialdemokratie einen hemmenden Einfluß zu erwarten. Ter um die evangelische Bewegung in Oesterreich hoch verdiente, durch dcu bekaunteu Zinnwalder Ueberfall den weitesten Kreisen bekannt gewordene deutsche Pfarrer 1l n gnad schreibt uns: Wie ich lese, ist auch in Ihr Blatt die Meldung der „Bvssischen Zeitung" übergegangen, ich sollte nach vfficiellcn Mittheilungen aus Oesterreich nicht au sge wiesen sein, sondern freiwillig Klosiergrab verlassen haben. Ich würde mich freuen, die Quelle dieser Mittheilung zu erfahren; sollte sie in Regie rungstreuen liegen, so offenbart sich in ihr recht deutlich die jesuitische Doppelzüngigkeit der k. k. Behörden, sollte sie von Freunden unserer Bewegung stammen, so zeigt sic deren Unkenntnis;. Ich habe im „Reichsbvten", dessen Rcdacteur, Herr Ur. Müller, mir persönlich bekannt ist, ausführlich die Einzelheiten meiner Ausweisung ge schildert. Die Sache liegt so. Bon maßgebenden Herren im Wiener Oberkirchenrath und Eultnsministerium war mir vor einiger Zeit gerathen worden, mich rechtzeitig nach einer außerösterreichischen Pfarrstelle umzusehen, da meine Stellung in Klvstergrab in Folge der völlig ab lehnenden Haltung des fendalklerikalcn Prager Statt halters Eoudenhoven unhaltbar geworden und meine Ausweisung zu erwarten sei. In Begleitung meines Eurat-Stellvertreters versuchte ich darauf, Eoudenhoven iu einer Audienz umzustimmen. Die Audienz hatte völlig negativen Erfolg. Eoudenhoven behandelte uns — die beiden nur geduldeten Ausländer! — in völlig unquali- ficirbarer Weise und lies; uns die Aussichtslosigkeit aller weitere» Bemühuugcn erkennen. Um der Ausweisung vorzubeugen und in Oesterreich so lange gelitten zu werden, bis ich eine andere Stellung gefnndcn hatte, zog ich mein vor circa U/2 Jahren eingereichteä Naturali- sationsgcsuch zurück. Am 20. Juli theilte mir der Duxer Bczirkshanptmann in einem Privatschrciben mit, das; "ich bis spätestens Ende Juli Klostergrab verlassen haben müßte, „eine längere Frist könne er mir nicht geben". Wir glaubten Alle, da wir mancherlei Beweise für das Wohlwollen des Bezirkshauptmanns in den Händen hatten, derselbe habe den Weg der privaten Benachrichti gung gewühlt, um meiner Gemeinde und mir die Aus ¬ weisung durch die Gendarmerie zu ersparen" und einer dadurch entschieden hervorgerusenen Protestkundgebung vorzubeugen. Auf die Möglichkeit einer Proteslkund^ gebung hatte ich ihn bei unserer letzten Privat-Unter- redung aufmerksam gemacht. Wir stellten uns die Situation so vor: Der Befehl, mich auszuweisen, war in Dux von Prag eingetrvffen; man ließ ihn dort einige Tage liegen, verständigte mich privatim, Klostergrab vor dem officiellen Termin freiwillig zu verlassen, vermied alles Staubaufwirbcln und konnte dann nach Prag zurück melden: „Ungnad hat bereits vor der Ausweisung Klvstergrab verlassen." Alles klappte soweit ganz gut, nur mit einem Factor hatte man nicht gerechnet: mit der Presse. Die gcsammte dcutschvölkische Presse Böhmens und die gut evangelische, nationale Presse Deutschlands fiel über die vor den Römlingen im Staube winselnde k. k. Regierung her und stellte meine Ausweisung in das rechte Licht. Um allen Angriffen die Spitze abzubrcchcn, erklärte man jetzt behördlicherseits officiös oder officiell: „Ungnad ist nicht ausgewiesen, sondern hat Klostergrab freiwillig verlassen!" O, diese jesuitisch durchseuchten k. k. Beamten! Ich danke für eine derartige Freiwilligkeit! Meine Ausweisung ist und bleibt das, als was die „Durer Deutsche Zeitung" (VI. Jahrg., 31. Blatt) sie auf faßt, wenn sic schreibt: «... Diese Verurtheilung (der Zinnwalder Uebcrfallsheldcn) war nun selbstverständlich nicht nach dem Geschmack des österreichischen Episkopats und erregte einen gewaltigen Sturm des Unwillens im römisch-katholischen Lager, und vor Allem in den führen den Kreisen der Ultramontanen, und da glaubte wahr scheinlich unsere, für die Ultramontancn ja jederzeit in übereifriger Fürsorge beflissene Regierung, um den Sturm des Unwillens zu besänftigen, den Römlingen eine Genugthnung für die „Unbill" der Verurtheilung ihrer Zinnwalder Werkzeuge schuldig zu sein, und sie gab sie ihnen durch die Ausweisung des evangelischen Pfarrers Ungnad .... und so ist und bleibt die Ausweisung des Pfarrers Ungnad das Gegengewicht für die Verur- theilungen im Zinnwalder Proccsse, der Urtheils- s p r n ä> d e r R e g i c r n n g in diesem Proccsse und eine den Römlingen von der Regierung gewährte Genug« thuung." " ' , Deutsches Reich. lls Berlin, 18. August. (Der Kaiser und die Press c.) Anläßlich der Veröffentlichung des Depeschen wechsels zwischen dem Kaiser und dem Prinz-Regenten von Bayern und der an diese Veröffentlichung geknüpften Kritik werde» Preßstimmen laut, welche behaupten, der Kaiser werde in Unkenntniß über die öffentliche Meinung gehalten dadurch, daß ihm nur Ausschnitte aus gewissen Zeitungen vvrgelcgt würden, die ack usuw Delphine redi- girt seien. Wir fühlen nicht den Beruf, jene namhaft ge machten Blätter vor einer solchen gänzlich haltlosen Unter stellung zu schützen — — das werden die betreffenden Zeitungen selbst thun, falls sie eine derartige Behauptung der Widerlegung überhaupt für werth halten. Aber der Ansicht, der Kaiser sei nicht über die öffentliche Meinung und Stimmung unterrichtet, möchten wir unter Hinweis, wie dem Monarchen die Preßstinnnen zur Kenntniß ge langen, entgegcntrcten. Wir sagen damit nichts Neues, da bei früherer Gelegenheit, wo dieselbe Behauptung wie jetzt anftauchte, von anderer Seite ausführlich dargelcgt FerriHetsn. Das Fraulein von Saint-Sauveur. 14s Roman von Gr 6 ville. (Nachdruck verboten.) „Was wollen Sie mit dieser Kuh?" fragte er den Beamten, der mit den Händen in der Tasche daherkam. „Sie sind wohl mit Ihrer Milchlieferautin nicht mehr zu frieden?^ „Das ist eine Herumstreicherin, die Lust zu haben schien, in aller Gemüthsruhc nach Paris zu spazieren. Sie hatte aber nicht einmal die zehn Centimes bei sich, die sie an der Mauthschranke zn entrichten hat, und da sie den Gesetzen unterworfen ist, so machten wir sie auf der Straße dingfest. Wissen Sie nicht, wem sie gehört?" „Sie werden es schon erfahren, seien Sie unbesorgt", erwiderte Matthäus, indem er sein Pferd wieder in Trab setzte. „Ich kenne sie nicht. Stecken Sie sie inzwischen in den Pfandstall." Das erste, was Frau Regnier, in Paris angekommcn, that, war, daß sic ihrem Notar einen Besuch abstattctc; dann begab sie sich zu einem Rechtsanwalt, den er ihr namhaft machte, und von hier zu einem Gerichtsvollzieher. Als sie sich bereits auf der Heimfahrt befand, begegnete sie ihrem Arzt, der von einem Kranken kam. Er ließ die beiden Wagen halten, und nachdem er einen prüfenden Blick auf die Wittwe geworfen hatte, sprach er: „Daheim angelangt, legen Sie sich sofort zu Bett, und verlassen Sic dasselbe ja nicht früher, als bis ich cs Ihnen erlaube. Sic haben eine zu dieser Jahreszeit doppelt große Unvorsichtigkeit begangen, indem Sic das Hans ver ließen. Sic sind schwach, übermäßig angestrengt, und wenn Sie die begonnenen Arbeiten Ihres verstorbenen Gatten beendet sehen wollen, so spielen Sie nicht mit dem Feuer. Ihr Leben hängt davon ab. Ich weiß, daß Sic stark genug sind, um das zu hören, nnd hoffentlich werden Sie auch vernünftig genug sein, um meine Worte zu beher zigen. Ich werde vor oder nach dem Diner bei Ihnen vorsprcchen." „Ich will Ihnen gehorchen, Doctor", erwiderte Frau Regnier, und sic that nach seinen Worten. Vierzehntes Capitel. Es war gegen fünf Uhr Nachmittags, als die Eheleute Chantcfleur, nachdem sie einen Rundgang durch ihre Be sitzung unternommen, und dabei einer ganzen Menge wackerer Leute, als Tagelöhnern, Erdarbeitern und son stigen dienstbaren Geistern, Grobheiten aller Art gesagt hatten, daheim anlangtcn. Ein sehr anständig gekleideter junger Mann fuhr gleich hinter ihnen ans einem Zweirad in den nicht eben sorgfältig sauber gehaltenen Schlvßhvf, sprang von seiner Maschine und fragte nach den Schloß herren. „Die stehen vor Ihnen", erwiderte Chantcfleur rauh. „Was wollen Sic?" „Ich habe Ihnen eine gerichtliche Vorladung zu über geben, Herr Chantcfleur. Ich empfehle mich." Damit schwang er sich wieder ans sein Rad und schoß pfeilschnell davon, begleitet von dem wüthcndcn Bellen von zwei oder drei riesigen Hunden, den Lieblingen Chantcfleur's. Dieser hatte die Farbe gewechselt. Er kannte alle Arten gerichtlicher Schriftstücke nur zu gut, und auch an Ursache fehlte cs ihm nicht, dieselben zu fürchten, nament lich im gegenwärtigen Moment. Cölestine entriß das Papier seinen Händen, auf die Gefahr hin, cs zu zerreißen. „Du hast schon wieder gespielt?" fragte sic mit zu- sammcngeprcßten Zähnen und flammenden Augen. „Aber keine Spur!" suchte sich der Mann zu verthei- digen. „Laß sehen ... Ja, was ist denn das? „Ans An suchen der Frau Hortense Rögnicr, Wittwe, wohnhaft zn Blois .. ." Diese Person wagt cs, uns gerichtliche Auf forderung znkommcn zu lassen?" „Sehen wir einmal", sagte Chantcfleur, der sich von seiner Verlegenheit bereits erholt hatc. „Das wäre stark!" Mit dicht aneinander geneigten Köpfen, daß cs anssah, als steckten sie unter derselben Mütze, buchstabirtcn sic den Inhalt des Schriftstückes, indem sic mit einer große Uebung verrathcndcn Schnelligkeit über die einleitenden Sähe hinwcgglittcn. Frau Rögnicr ließ sic ans gerichtlichem Wege anf- fvrdcrn, die Grenzmaucr der Besitzung, die sie von ihne'n gemicthct hatte, unverzüglich wieder Herstellen zu lassen. Sollte das nicht der Fall sein, so würde die Mauer auf Kosten und Gefahr der Eigcnthümcr ausgebant werden. „Wieder Herstellen? Soll sic die Mauer doch selbst wieder Herstellen lassen!" kreischte Cölestine mit blutrotsten Wangen nnd zornsprühcnden Augen. Ihre mattblondcn Haare hatten sich buchstäblich gesträubt und umgaben ihr boshaftes Gesicht mit einem absonderlichen Glorienschein. „Sic, eine Mietherin, läßt uns eine gerichtliche Auf forderung zugehen!" Sie sprach das Wort „Mietherin" mit solcher Gering schätzung, das; man gewiß nicht auf den Gedanken ge kommen wäre, das; sie selbst jemals Miethc zu bezahlen hatte. „Schade um die Kosten, die sie sich macht", meinte ihr würdiger Gatte, indem er das Schriftstück in die Tasche steckte. „Sei überzeugt, Alte, das; sie uns nach Ablauf von vierzehn Tagen aussvrdcrn wird, den Vertrag für auf gelöst anzuschcn, obwohl er noch ein paar Jahre zu lausen hat. Und die Mauer wird nie im Leben aufgerichtct werden. Dn bekommst ihren Garten so, wie er ist, und wir werden dabei unseren Vvrthcil finden. Wir werden wenigstens drei- oder viertausend Francs Nutzen daraus haben, dcu Rest gar nicht dazu gerechnet." „Wenn das Hans aber keinen Garten hat, so wird man cs nicht so theucr vcrmiethcn können!" sagte Cölestine, die noch habgieriger war als ihr Gatte, was gewiß nicht wenig ^besagte. „Vor dem Gitter werden wir einen kleinen Garren an legen und eine Maner beim Stall errichten. Du wirst alle ihre Roscnstöcke haben, Cölestine, sammt all' den seltenen Bäumen! Die Leute haben ja Tausende von Franken ans diese Dinge ausgegebcn. Wie dumm von ihnen! Auf einen Grnnd und Boden, der nichr ihnen gehört!" „Gar nicht so dumm!" erklärte die Frau. „Denn den Vortstcil haben ja wir davon. Was gedenkst Du letzt zu thun?" „Du wirst schon festen", gab er gcstcimnißvoll zur Ant wort. „Sic liebt die Ruhe. Nun, sie soll Rnhe haben. Du weißt doch, daß sie krank ist?". „Der Pächter sagte es mir. Vielleicht stirbt sie sogar?" „Das ist nicht ausgeschlossen. Aber, ob todt oder lebendig, ich verbürge mich, daß sie das Feld räumen wird." Damit schritten die liebenswürdigen Eheleute weiter, die Richtung nach dem Hause ihrer Mietherin nehmend. Sie mußten dabei längs einer Allee dahinschrciten, in welcher, wie sich Matthäus ansdrückte, das Telephon an gelegt war. „Da kommt der Arzt", sagte Cölestine mit einem Male. „Ich erkenne das Glöckchen seines Pferdes. Der Mann hat Gummi an den Rädern. Wirst Du mir auch welchen anbringcn lassen?" „Das ist eine kostspielige Geschichte", brummte Chante- fleur, der das Geld seiner Frau lieber für seinen eigenen Gebrauch verwendete. „Doch still! Wiv wollen warten, bis der Arzt geht; da werden wir gewiß Manches erfahren, was uns von Nutzen sein kann. Unbeweglich verharrten sie nun in der beginnenden Dämmerung und suchten einzelne Worte zu erhaschen, die aus der Nachbarschaft hcrübcrdrangcn. Endlich verließ der Arzt das Haus; Luise und Matthäus begleiteten ihn. „Ruhe, vollkommene Ruhe ist unumgänglich noth- wcndig", sagte er zu den zwei treuen Menschen. „Ich werde iu der Apotheke ein Schlafmittel bestellen, und der Gehilfe wird cs Ihnen selbst herbringen. Ihre Gebieterin muß unter allen Umständen schlafen, noch dazu lange schlafen. Morgen früh komme ich wieder." Damit fuhr er davon, die beiden Dicnstleute aber kehrten in das HauS zurück, dessen Fenster im Erdgeschoß alsbald geschlossen wurden. Auch die Läden des ersten Stockes blieben nicht lange offen, und nur der Schein der Lampe, der durch die Brettchen der Jalousien drang, ver- ricth, daß Fran Rögnicr noch immer nicht schlafe. Gegen acht Uhr langte das vom Arzt bestellte Schlaf mittel an. Vergebens hatte die Wittwe cinzuschlafen oder wenigstens zu schlummern versucht; ihr fieberhaft erregter Geist beharrte dabei, ihr die peinlichsten Dinge vorzu führen. Nachdem sie aber die doppelte Menge dcr vor geschriebenen Dosis zu sich genommen, schloß sic endlich die Augen und versank in tiefen Schlummer. Luise, die bis seht bei ihr gewacht hatte, trug die Lampe hinaus, zündete eine kleine Nachtlamve an, die sie im anstoßenden Zimmer ließ, und schritt lautlos hinaus, um den so kostbaren Schlaf ihrer Gebieterin nicht zu stören. Kaum hatte die anhängliche Person ein paar Bissen stinnntcrgcschluckt — denn heute statte kein Mensch im Hause eine anständige Mahlzeit zu sich genommen — als mit einem Male in unmittelbarer Näste des Hauses ein unbeschreibliches Getöse losbrach. Stimmen schrieen, heulten, brüllten durcheinander, als wäre eine ganze Heerde wilder Thiere entsprungen. Heisere, rauhe Kehlen stimmten die „Marseillaise" an, die aber sofort von einem unbeschreiblichen Geklapper von Töpfen, Kesseln und Becken, die man mit Hölzern und Kochlöffeln be arbeitete, unterbrochen wurde. Eine Querpfeife ließ da zwischen ihre schrillen Töne vernehmen, und dazu gesellte sich das Rasseln einer alten Trommel, die Töne von sich gab, wie eine mit getrockneten Erbsen angcsüllte Schweins blase. Glocken, Schellen und Waschschlägel, die gegen
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