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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 13.12.1902
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1902-12-13
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19021213020
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1902121302
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1902121302
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1902
- Monat1902-12
- Tag1902-12-13
- Monat1902-12
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Man berichtet un«: * Washington, 13. Dezember. (Telegramm.) Eine Depesche des amerikanischen Gesandten meldet au« Caracas: Venczncla richtete das Ersuchen an Deutschland und England, vorzuschlagen, Satz die Strettigkeite" einer schiedsgerichtlichen Ent scheidung unterbreitet werden. Uns scheint eS nur recht fraglich, daß Deutschland und England dem so kläglich klein Beigebcnden den Gefallen tun werden. Die Forderungen der beiden Mächte sind so un zweifelhaft berechtigte und jeder einzelne Fall liegt so klar, daß niali sich fragen muß, wozu noch eine schiedsgerichtliche Entscheidung? Der Antrag einer solchen qualifiziert sich hier einfach al« eine impertinente Beleidigung, zumal sich ja auch der Bestgläubige klar darüber sein muß, daß Castro die Vermittlung eine« Schiedsgerichts nur in der perfiden Absicht anruft, sich seiner Beipflichtungen, Wenn irgend möglich, doch noch zu entziehen. In der gestrigen Sitzung des nordamerikanischen Kabinetts wurde die Lage in Venezuela auSsübrlich diskutiert. Man be schloß, den Gesandten Bowen zu ermächtigen, als Vermittler zu fungieren und vorläufig Bowens Depesche bezüglich der SchiedsgerichlSfrage England und Deutschland zugehen zu lassen. Nach Mitteilungen des New Iorker „Evening Journal" be stätigt eS sich, daß baS Seligmanu-Syndikat Castro angeboten hat, sämtliche von der treulichen Negierung gestellten Forde rungen zu begleichen, sowie die gesamte deutsche Venezuela- Bahn zu übernehmen, bezw. die Rechte der Babnzesell- schast abzulöien. Desgleichen wollte das Syndikat den Schlachtbof von Caracas mit allen Verpflichtungen in den Kauf nebmen, sowie eine große Anleihe von etwa 150 Mil lionen Dollars übernebmen. Hierfür sollte Venezuela dem Syndikat zwei neue Eisenbabnkonzessionen. sowie die ge samten Hafenanlagen von La Guayra und Caracas mit allen Haseneinnahmen auf 33 Jahre vei pachten. Canro zeigte sich jedoch nicht geneigt, dem nordamerikanischen Konsortium so weitgehende Befugnisse einzuräumen. Es ist noch folgende Nachricht eingegangen: * Washington, 12. Dezember. Der Marinrsekrrtär Moody erklärte heute nachmittag einem Berichterstatter gegenüber, die Re gierung send«, wenigstens jetzt, kein Kriegsschiff nach Vene zuela, da die Gegenwart ein solches jetzt nicht nötig mache. Politische Tagesschau. * Leipzig, 13. Dezember. Bor -er dritten Lesung -es Zolltarifs. Ob die heute im Reichstage beginnende dritte Lesung der Zollvorlage heute auch zu Ende geführt werden kann oder noch einige Tage der nächsten Woche Anspruch nehmen wird, ist noch fraglich; jedenlallS aber ist es nach H 20 der Geschäftsordnung nicht ausgeschlossen, daß noch heute die Schlußabstimmung erfolgt, obgleich diese bis nach der Zusammenstellung der Beschlüsse dritter Lesung ausgesetzt und in die'er noch «in Teil der Kompromißabmachungen in die Beschlüsse der zweiten Lesung hineingearbeitet werden muß. Bekanntlich kamen diese Abmachungen zwischen den Fübrein der Mehrhcilsf»aktionen und der Regierung erst zu stände, als die zweite Lesung schon begonnen batte und in bezug auf die Mmdestzölle auf Grund der KommissionSoorschläge schon Beschlüsse gefaßt waren, die von dem Abkommen abweichen. Diese Beschlüsse konnten in zweiter Leiung nicht wieder rückgängig gemacht und müssen nun in dritter umgestoßen werden. Es handelt sich noch darum, die Mindestsätze für Getreide bei Weizen, Roggen und Hafer auf tue Sätze der Regierungs vorlage berabzumindern, sür Braugerste den Mindest.oll von 3 auf 4 zu erhöben, unter Herauölassung der Futter gerste aus dem Mindesttarif, und ferner darum, die Bin dung der Vieh- und Fleischzölle zu streichen. Der be treffende Antrag, der eine Reihe von Mißverständnissen beseitigt, ist bereits eingebrackt und auch von einigen der national- liberalen Abgeordneten mit unterzeichnet, die den Antrag Kardorff zu unterstützen sich nicht batten entschließen können. Er wird also von einer starken Mehiheit ohne längere De batte angenommen werden; nur die extremen Agrarier werden Anstoß an ibm nebmen. Er vor allem rechtfertigt auch die Stellungnahme der großen Mehrbeit der nationallibeialen Fratlion in der Zollfrage und speziell zum Anträge Kar» dorff. Mit Recht darf daher heute die „Nat.-Lib. Korr." schreiben: „Bei Einbringung des Antrags Kardorff hatten wir betont, daß die materielle Vorausletzung zur Einwilligung in dieses Ueberein- kommen feiten- der Nationalliberalen die Wiederherstellung der Regierungsvorlage bezüglich der Zölle aus Brotgetreide und der Verzicht auf die Bindung der Lirhzölle war. Die nationallibcrale Fraktion verließ also bei Eingehung dieses Kom promisses nicht den Boden der Eisenacher Beschlüsse, wie ihr vielfach, wie von Gegnern so auch von Freunden zum Vorwurf gemacht wird. Schwer genug ist der Mehrheit der Fraktion dieses Kompromiß geworden; es ist von uns wiederholt als unerfreulich, aber als der einzig mögliche Weg zur Lösung der Wirrnisse bezeichnet worden. Die Annahme der Vereinbarung wurde aber, wie Abg. Basier- mann vorgestern darlegte, den Nationalliberalcn dadurch erleichtert daß sie sich sagen mußten, ein positives Ergebnis könne nur erstell werden, wenn die vier tarisfreuudlichen Frakiionen unter Zurück stellung einzelner Wüniche zu einer gemeinsamen Aktion sich einigten, um das Ganze, den Zolltarif, zu retten. Wer diesen auf das große Ganze gerichteten Standpunkt als unvereinbar mit den alten Ueberlieferungeu der nationalliberaleu Partei tadeln wollte, könnte leicht des Mangels an demjenigen historischen Sinn und derjenigen praktisch-patrioliichen Entschloss.»- heit geziehen werden, welche di« nationalliberale Partei in ihrer wirklich großen Zeit betätigte, indem sie die Opferwilligkeit sür das Ganze und Große weit höher «inschätzte, als das Bestehen auf ihrem Partrijchein und auf ihrein Soaderwillen. Wodurch anders als durch die Ausfassung, daß cs richtiger fei, große Dinge groß und mindergroße auch wirklich als mindergrob oder nebeniächlich anzujehen, wurde die aationalliberale Partei einstmals groß und stark? Wodurch anders aber auch entstand der Zwiespalt — oder soweit er schon bestand, ist er verschärft worden —, als dadurch daß die Nationalliberalen daS Zustandekommen derJustizgejetzgebung im Jahre 1876 im nationalen Interesse für wichtiger erklärten, als das unbedingte Festhalten an ver schiedenen liberal-programmatischen Forderungen? Was war die Folge? Es wurde von den „Auch"-Liberalen, die damals die De vise vrrtralen, die jetzt der Bund der Landwirte sich ungeeignet hat: „Alles oder nicht-", eine solch skrupellose Agitation in Scene gesetzt, der sich dann die Konservativen, das Zentrum und die Sozial demokraten anschloffen, daß die Nationalliberaleu dem vereinigten Ansturm von vier Seiten nicht Stand zu halten vermochten. In seiner unvergleichlichen Gclegcnheitsrede zu seinem 70. Ge burtslage hat Rudolf von Bennigsen die Parteigenossen dringendst ermahnt, sich durch ein solches Gezeter nicht irre machen zu lassen, sondern stets daö nationale Moment, das Ganze und Große, in erste Linie zu stellen. Der große Führer der national liberalen Partei hat zu seinem Schmerz eine weitere Schwächung der nationallibcralen Partei durch die neue Phase der deutschen Wirtschaftspolitik im Jahre 1879 erleben müssen; diese Schwächung wurde dadurch heibeigesührt, daß ein Teil der Freihändler in der Partei die Bedeutung politischer Prinzipien und wirtschaftlicher Ziveckmäßigkeite-Fragen nicht auseinander halten konnte oder nicht wollte. Aus den ehemaligen Parteifreunden erwuchsen neue Gegner, die uns im gegenwärtigen Kampfe am erbittertsten gegenübersteheu. Wir wollen in diesem Augenblick nicht mit ihnen rechten, sondern uns an die draußen, fernab von Len parlamentarischen Kämpfen stehen den engeren Freunde wenden und ihnen mit dein Hinweis aus die Entwickelung unserer Partei und deren Schwächung durch wirtschaftliche Gegensätze wiederholt die Ermahnung Rudolf v. Bennigsens zurufen. Bei der Freiheit, welche den Mitgliedern unserer nationallibcralen Fraktion naturgemäß in wirtschaft lichen Fragen gelassen ist, kann eine durchaus geschlossene Mehr- heit der Fraktion, von der kein einziges Mitglied abweicht, nur selten oder vielleicht niemals in die Erscheinung treten. Aber aus der abweichenden Haltung eines Einzelnen auS formalen oder Zweckmäßigkeits-Gründen darf und soll im eignen Lager nicht erneuter Zwiespalt entstehen, an dem unsere Gegner sich weiden! Die Unterschriften zu dem Anträge, welcher die Zölle auf Brot- gctreche aus die Sätze der Regierungsvorlage zurückiührt, zeigen, oaß die kleine Minderheit der nationalliberalen Fraktion in der Zolltarif-Frage noch kleiner geworden ist, und daß dieser Antrag, der auf dem Boden der Eisenacher Beschlüsse steht, die national, liberale Fraktion nahezu geschlossen vereinigen wird." Die Vorbedingung -er Arbeitervertretung im Reichstage. Bekanntlich hat der Kaiser in BreSlau au dir Arbeiterschaft die Aufforderung gerichtet, einen einfache» schlichten Pi an» aus der Werk - statt, der das Vertrauen der Arbeiter besitze, in den Reichstag zu schicken; einen solchen Mann werde man in der deutschen Volksvertretung willkommen heißen. Diese Aufforderung hat auch in weiten Arbeitcrkrersen Anklang gesunden. Nun aber prüft die „Freis. Ztg." die Aufforderung ans ihre Ausführbarkeit, und kommt zu dem Ergebnis, daß nur bei Gewährung von Retchö- tagödiäten ernstlich an die Wahl solcher Arbeiter vertreter gedacht werden könne. Tas Blatt des Herrn Richter begründet diese Ansicht folgendermaßen: Wie kann gerade dieser einfache, schlichte Mann in Berlin eS aushalten ohne die Gewährung von Diäten? Die Diäten losigkcit ist gerade für Arbeiter noch ein schwereres Hinderni s, als für den Angehörigen irgend einer anderen Berufsklasse. Wer selbständig ein Geschäft fuhrt, der kann teils im Korrcspondenzwegc von Berlin aus, teils, indem er sich für die Sonntage oder sonst für eine Anzahl Tage nacki Hause begibt, Verfügungen treffen, die die Fortführung des Be triebcs sichern. Anders der Arbeiter oder der Wcrkfuhrcr. Er wird bezahltnach d e r Z c it, für die er seine Arbeits kraft zur Verfügung stellt. Ist er abwesend, in Berlin, so kann er auf Lohn für die Zeil seiner Abwesenheit keinen Anspruch er heben. Wenn sein Arbeitgeber ihm gleichwohl den Lohn fort- gewährt, so ist dies ein Geschenk, das den Empfänger in eine gewisse Abhängigkeit gerade für sein Verhalten im Reichstag bringt. Auch ist der gewöhnliche Lohn eines Arbeiters oder eines WerkführcrS durchweg nicht ausreichend, um die Aufcnt Hallskosten in Berlin bestreiten zu können. Wenn daher der Kaiser dem cinfack»cn, schlichten Mann aus der Werkstatt Eingang in die Volksvertretung verschaffen will, so muß er vorher seine Zustimmung geben zur Gewährung vonDiätcn au die Reichstagsabgcordneten, und zwar all gemein, denn es kann sich nicht darum handeln, etwa aus einem Gnadenfonds oder aus einem Dispositionsfonds für einzelne Abgeordnete solche Diäten zuzusichcrn. Ter Kaiser müßte seine Zustimmung geben zur Aufhebung des Ar tikels 32 der Verfassung. Nur die fehlende Zu stimmung des Kaisers sicht dieser Aufhebung noch entgegen. Ter Reichskanzler Graf Bülow macht ja gegen niemand ein Hehl daraus, daß er die Gewährung von Diäten für not wendig hält. Bei den anderen Mitgliedern des Bundesrates ist dies in noch höheren! Maße der Fall. Namentlich leidet die Vertretung Süddeurfchlands schwer unter der Diätcnlosigkeii. Ein Gesetzentwurf ist aus dem Reichstage hervorgcgangen für die Gewährung von Anwcsenhciksgcldcrn und liegt dem Bundesrat zur Entschließung vor. Ein einziger Feder zug des Kaisers würde genügen, diesem Gesetzentwürfe Geltung zu verschaffen. Andernfalls ist der vom Kaiser in Aussicht gestellte freudige Willkomm von vornherein aus- Feuilleton. 18, Der Aulersuchungsrichter. Roman von Heinrich Kornfeld. Nachdruck verbaten. „Ich bleibe", erwiderte der Landrichter. Und dann, auf den Stuhl deutend, der hinter dem großen Amtstisch des Staatsanwalts stand, sprach er weiter: „Ich habe Ihnen eine amtliche Erklärung zu Protokoll zu geben. Wollen Sic, bitte, mir zuhören." Staatsanwalt Selling folgte mechanisch, setzte sich auf seinen Stuhl und schaute neugierig zu seinem Besuch hinüber. Der Landrichter stand vor dem Tisch; sein Gesicht war sehr bleich, aber es spiegelte die eherne, unabänderliche Entschlossenheit eines Menschen wieder, der alle Zweifel, alle Not nnd Angst des menschlichen Lebens siegreich über wunden hat. „Ich sagte Ihnen schon", begann er, „daß das gestrige Urteil ein falsches war und niemals Gesetzeskraft er langen darf. Nicht der Verurteilte ist der Mörder, son dern — ich!" Der Staatsanwalt fuhr von seinem Stuhl empor. „Wie? Was sagen Sie?" „Drr Mörder des Rcgicrungsasscssors Wrede steht vor Ihnen." Staatsanwalt Selling sank in seinen Stuhl zurück. Schrecken und Entsetzen lähmten ihm die Zunge. Mit einem zweifelnden, ängstlichen Ausdruck starrte er zn dem wie ein Steinbild Dastehenden hinüber. Er hatte da bei das Gefühl, als müßte im nächsten Augenblick noch etwas Furchtbares geschehen, der wilde, rasende Aus bruch eines Wahnsinnigen, denn daß Landrichter Detn- hard den Verstand verloren habe, mindestens von einer fixen Idee besessen sei, war der erste Gedanke, der «ach der ungeheuerlichen Erklärung in ihm aufschoß. Aber nichts dergleichen erfolgte. Vielmehr war die Haltung des Landrichters eine durchaus normale; auch seine Augen blickten so ruhig und fest, wie nur die eines geistig Gesunden blicken können. Kurz, er machte in allem den Eindruck eines Menschen, der sehr wohl weiß, was er spricht und tut. Herbert Dcinhard griff jetzt in seine Rocktasche und brachte ein zusammengesaltetcS Schriftstück zum Vorschein. Dann trat er dicht an den Tisch heran nnd legte das Papier vor den Staatsanwalt hin. „Ich habe meine Erklärung nnd einen ausführlichen Bericht meiner Tat zu Papier gebracht", sagte er, wieder etwas zurücktretcnd. „Ich hätte Ihnen diese peinliche Scene ersparen können, aber ich wollte doch meine Er klärung persönlich bekräftigen nnd Ihnen Gelegenheit geben, sich zu überzeugen, daß ich ganz klar nnd bei Sinnen bin und daß die Aufzeichnungen da " — er lächelte wehmütig nnd schmerzlich — „in voller geistiger Klar heit von mir verfaßt wurden . . . Bitte, lesen Sic!" Der Staatsanwalt gehorchte mechanisch nnd las mit flimmernde» Auge» und mit steigender Erregung, wie folgt: „Ich, Friedrich Herbert Dcinhard, königlicher Landrichter a. D., erkläre, daß ich am sechzehnten Februar dieses Jahres zwischen sechs bis halb sieben Uhr abends den Regierungsassessor Wrede in seiner Wohnung mittels eines Rcvolverschusses getötet habe. Tic Ursache meines Verbrechens war folgende: Regicrungoassessor Wrede hatte meinen Bruder gereizt, ihn zu beleidigen, und er hatte meinem Bruder eine Herausforderung zum Duell gesandt. Vergebens hatte ich mich am Vormittag des sechzehnten Februar bemüht, den Assessor zn veran lassen, die Entschuldigungen meines Bruders anznnchmen und seine Forderung znrückzuzichen. Auch ein Versuch bei dem Regimentskommandeur meines Bruders und bei dem letzteren selbst, eine friedliche Beilegung deS Konflikts herbcizuführen, war gänzlich rcsnltatloö verlaufen. Die näheren Umstände berechtigten mich zu der Annahme, daß der Streit vom Regiernngsassessvr Wrede frivol vom Zaune gebrochen war, in dcrauSdrücklichenAbsicht,meinen Bruder zu töten. Wrede hatte den ersten Schuß und er war ald vorzüglicher Pistolcnschützc bekannt. Ich mußte demnach den Tod meines Bruders als sichere Folge des Duells betrachten. Da ich meinen Bruder über alles in der Welt liebe nnd meinem Vater an seinem Sterbebette geschworen hatte, wie ein Vater über >bm zu wachen, so stand bei mir fest, daß eS meine heiligste Pflicht sei, den unsinnigen Zweikampf unter allen Umstünden zn ver hüten. Mit diesem festen Entschluß begab ich mich am Abend des genannten Tages nm sechs Uhr noch einmal in die Wohnung WredeS. Vorher batte ich meinen Revolver zu mir gesteckt, nicht in einer bestimmten Absicht, sondern in dem dunklen, instinktiven Gefühl, baß ich ihn ge brauchen würde. Ich bat Wrede zunächst noch einmal flehentlich und demütigte mich vor ihm, um die Zurück nahme der Forderung zu erlangen. Als ich ank diesem Wege wieder nichts erreichte, beleidigte ich ibn auss schwerste, erzielte aber auch damit nichts, als die Be wertung WredeS: „Ich werde Sic fordern, aber erst nach dem ich das Duell mit Ihrem Bruder ausgesuchten haben werde." Meiner nicht mehr mächtig, riß ich meine Waffe heraus, deutete auf WredeS an der Wand hängenden Revolver und rief ihm zn: Nein, sofort werden wir uns schießen! Bewaffnen Sie sich! „Sie sind wahnsinnig", antwortete Wrede, „ich schieße mich nicht ohne Zeugen." Tann schieße ich Sie wie einen tollen Hund über den Hausen! schrie ich ihm, rasend vor Erbitterung und Schmerz zu. Wehren Tie sich'. Er riß seinen Säbel von der Wand und drang ans mich ein. Ich drückte ab nnd Wrede stürzte tot zu meinen Füßen nieder. Das ist der Sachverhalt. Ich habe nichts hinznznfügcn, als daß ich bereit bin, die Folgen meiner Handlung zu tragen. Ich handelte, einer inneren, unwiderstehlichen Macht fol gend, um das Lebe« meines Bruders zu retten. Ich will meine Tat nicht beschönigen, aber ich kann sie auch nicht bereuen. Ich wüßte nicht, wie ich anders hatte handeln sollen. Das Leben meines Bruders ist mir teurer als daö meinige, und die Gewißheit, daß ihm meine Tat Leben und G'ück gewonnen hat, tröstet mich und erleichtert cs mir, mein unausbleibliches Lvö auf mich zu nehmen. Man wird mich fragen, warum ich nicht früher gesprochen habe. Darauf antworte ich: Ich bin nur ein Mensch, ich hoffte, mir mein Leben retten zn können. Ich vertraute darauf, daß die Schuldlosigkeit deS fälschlich Angeklagten an den Tag kommen würde, ja, ich war darauf gefaßt, daß man mich als Mörder entdecken würde. Mich selbst an zuzeigen, das überstieg meine Kräfte, so .»nge ich die Hoffnung hegen durste, daß kein anderer sür meine Tat verantwortlich gemacht werden würde. Hierzu kam noch die dringende Notwendigkeit für mich, die Wahrheit erst dann zu bekennen, wenn die Hochzeit zwischen meinen! Binder nnd seiner Braut vollzogen sein würde, denn ich fürchtete, dem Bruder eines — Mörders würbe die Hand des von ihm geliebten Mädchens verweigert werden. Jetzt habe ich meine Schuld bekannt. Ich hoffe, daß mich zwar mein Bruder beweinen, daß aber sein Glück nnd das seiner von ihm über alles geliebten Fran nicht gestört werben wirb. Ich bin bereit, meine Tat zn sühnen. Friedrich Herbert Deinbarb, Königlicher Landrichter a. D." Drr Staatsanwalt ließ stöhnend die Hand sinken und das tnhaltschwere Schriftstück siel auf den Tisch nieder. „Furchtbar! Entsetzlich!" stammelte der Vertreter der öffentlichen Gerechtigkeit. „WaS soll ich nun tun?" „Ihre Pflicht'." rief ihm der aufrecht und gefaßt Da stehende zu. „Aber warum haben Sic nicht — ?" Der Landrichter machte eine Bewegung und der Sprechende hielt inne. „Ich mußte mich stellen", erklärte Herbert Dcinhard mit fester Stimme. „DaS war meine Pflicht. Tas war ich uns allen schuldig." Der Staatsanwalt strich sich mit zitternder Hand über die Stirn. „Sic haben recht." Dann griff er resigniert nach der Ktingel. Bei dem grellen Geläut schrak er selbst zusammen. Jetzt wandle er sich nach rechts herum nnd lauschte nach der Tür, durch die das Geräusch des eiligen, schweren Trittes des Ge- richtodieners hcrcindrang. Da ertönte plötzlich ein Knall. Entsetzt sprang der Staatsanwalt in die Höhe. Zugleich stürzte der Gerichts- dicner herein. Der Landrichter war zn Boden gesunlen. Seine krampfhaft geballte Rechte hielt noch den rauchen den Revolver, mit dem er damals die Tat an Wrede be gangen und mit dem er nun seine Schuld ehrlich ge sühnt hatte. * * * Ein Telegramm rief das junge Ehepaar von der Hochzeitsreise zurück. Rechtzeitig noch lehrte Paul Tein Hard mit seiner Gattin heim, mn dem Begräbnis seines so jäh und unter so schrecklichen Umständen ans dem Leben geschiedenen Bruders beiwohnen zn können. Zeine Erschütterung und sein Schmerz waren unge heuer. Mochten ibn andere »adeln nnd verdammen, er konnte den Daliingegangcnen nur beklagen und be weinen und seiner mit inniger Liebe und Dankbarkeit gedenken. Nach dem Begräbnis ließ der Leutnant seinen Urlanv noch um einige Wochen verlängern, um sich seiner Trauer iu stiller Abgeschiedenheit hingcbcn zn können. Daun wurde er «ach einem anderen Regiment in einer fern liegenden Provinz versetzt. Wer weif-, ob er den harten, schweren Schlag, der ihn so jäh betroffen, je verwunden hätte, wäre ihm nicht Hildegard mit zarter, mitfühlender Liebe zur Seite gestanden . .. (Ende.)
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