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01-Frühausgabe Dresdner Nachrichten : 29.06.1927
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1927-06-29
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id501434038-19270629010
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id501434038-1927062901
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-501434038-1927062901
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungDresdner Nachrichten
- Jahr1927
- Monat1927-06
- Tag1927-06-29
- Monat1927-06
- Jahr1927
- Titel
- 01-Frühausgabe Dresdner Nachrichten : 29.06.1927
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Mittwoch. 2S. I«ni 1927 Slernwan-erung im Juli. Eter«wander«ag i« J«lt. Von Dr. H. H. Kritzln ger. Die SonnensinfterntS und der Kometenbesuch sind vor» über. Ereignisse die noch im Mittelalter aus weiteste Kreise ihren furchterregenden Eindruck nicht verfehlt haben würden. Die Sonnenfinsternis hat sich so harmlos abgespielt, wie man e» schon in der Schule gelernt hat. der Mond hat eben mit seinem Schotten die Erde gestreift. -Und bet der Generalprobe zum Weltuntergang, wie man die Annäherung des Kometen Winnecke scherzweise genannt Hot, ist uns auch wieder nichts passiert. To dürfen wir u»S jetzt eines humorvollen kleinen Gedichtes erinnern, das Otto Sommerstorfs einer Kometen» annäherung unter dem Titel «Der Unsterbliche" gewidmet hat. Er schildert: «Auf der Warte, wo man gerne Sich in Anbetracht der Sterne Aus dem laufenden erhält". wo die wütenden Entdecker den im Weltenraum verirrte» ahnungslosesten Kometen förmlich auf die Schweife treten ... „Mo das Teleskop die Pforte Ausschließt in den Himmelsdom, Sitzt etn junger Astronom." Spähend forscht er unermüdlich, ob nicht irgend was Apar tes sich im Universum finde, daö ihm seinen Ruhm begründe.. „Doch, so wett die Blicke wandern, Und das Fernrohr sich erstreckt. Alles lmben ihm die andern Bor der Nase wegentdeckt ..." Doch plötzlich wandelt sich sein Unmut in Helle Freude: Etn verdächtiges Objekt taucht vor ihm auf: Ein Komet! Er be» rechnet sogleich dessen Bahn und stellt fest, dak er sich der Erde nähert, ja, das! er unserer gesamten Welt mit Ver nichtung droht. Das ist gewiß eine noch nie dagewesene, höchst bedeutsame Enthüllung. Von ihr verspricht er sich die Er» füllung keines Lebenstraumes. Auf die Sekunde genau gibt er den Augenblick an, zu dem der Zusammenstoß des Kometen mit unserer Erde eintrcten muß: „Dieser wird und muß der Erde Zweifellos verderblich sein. Sie geht unter! ... Und ich werde Endlich dann — unsterblich sein!" Wenn wir auch hier dem lächelnden Dichter beistimmen dürfen, das, der drohende Komet nur ein Scherz der Natur für uns gewesen ist, so dürfen wir doch mit der Verallgemeine rung dieses Erlebnisses nicht allzu wett gehen. Dte kosmische Gebundenheit der irdischen Vorgänge, die man gerade in un» seren Tage» offiziell noch vielfach von der Hand zu weisen für opportun hielt, drängt sich in wissenschaftlichen Studien Immer weiter auf. Wir erfahren nicht nur, daß dte ganz großen Rhvthmen der Klimaschwankungen, z. B. die 8Sjährige von Brückner nachgewiescne Witterungsperivdc, durch Einwirkung der Wandelsterne aus die Sonne zu erklären sind, auch die von Friedrich Freiherr» Stromer von Reichcnbach zuerst be merkte GefchichtSperiode von 270 btS 800 Jahren ist auf die gleiche Wurzel zurückzuführen. Es gibt uns sehr zu denken, daß ein bekannter Philosoph der Leipziger Universität, der Neovitalist Pros. Driesch, einen jungen sächsischen Forscher dazu ermutigt hat. seine astrologischen Studien in der dem Gelehrten gewohnten Form darzustellen und damit dem Forum der Wissenschaft zur Diskussion zu unterbreiten. Der starke Band, den Freiherr von Klöcklcr jetzt herausgebracht hat, zwingt uns immer mehr, in der vielleicht nur gefühls mäßig begründeten Ablehnung eines kosmischen Zwanges zurückhaltend zu werden. Wir sind nur „schetnfret", wie Goethe sich einmal in den Orphischen Nrworten aussprtcht, und müssen uns mit der kosmischen Gebundenheit abfinden. Es hat fast den Anschein, als ob die Astrologie, die vor hun dert Jahren in Psasf in Erlangen ihren letzten akademischen Vertreter auf dem Professvrenkatheder fand, auch in unserer Zeit wieder akademisch werden wird. Der Lauf der Sonne führt sie in diesem Monat am 28. in daS Zeichen des Löwen, »nd damit sinkt das Tages gestirn schon langsam von seiner sommerlichen Höhe herab. Das Tcmperaturmaximum des Jahres folgt dem Höchst stände der Sonne um einige Wochen nach, so daß uns das Kürzerwerden der Tage und die verringerte Einstrahlung zunächst kaum zum Bewußtsein kommt. Wer in diesem Monat die Ferien an der Sec genießen darf, wird vielleicht hin und wieder bet Sonnenuntergängen merkwürdige Formverände rungen der Kontur des TagcsgestirncS erleben können. Daß sie erheblich abgeplattet erscheint, ist die natürliche Folge der nahe dem Gesichtskreis sehr stark zunehmenden Strahlen brechung. Bei abnormer Schichtung der Atmosphäre kommen jedoch »och ganz andere Figuren heraus. Die Sonne kann am oberen Rande abgcschnittcn wie ein Käselaib erscheinen. Ja, cs kann auch über diesem Trennungsstrich ein neues Stückchen der Sonnenscheibe etwa wie ein Pfaffenhütchen heraus kommen. Den Laus des Mondes finden wir vom 8. bis 14. in unserem Kärtchen eingetragen. Die Ltchtgestalten beginnen am 7. mit dem ersten Viertel. Vollmond folgt am 14., letztes Viertel am 21. und Neumond am 28. Die Zusammenkünfte des Erdbeglcitcrö mit den Wandlern sind für nachstehende Tage vorausbcrcchnet: Mit Merkur am 1., mit Mars und Venus am 2., mit Saturn am 10., mit Jupiter am 10. und schließlich nochmals mit Merkur am 27. und mit Mars am 30. Das Zurechtftndcn unter den Fixsternen wird uns in diesem Monat durch einige Sterne erster Größe erheblich er. leichtert, dte die schwer einzuprägenden Bilder Herkules, Schlangenträgcr und Schlange umgeben. Wir beginnen mit der auffälligen Gruppe des Skorpion, tn dessen Mitte der rote Antares steht. Der rechts davon liegende kleine Stern- bogen wird oben durch den jetzt dort befindlichen Saturn ab geschlossen. In der rechten oberen Ecke des Kärtchens ist der Bärenhtttcr mit Arktnrus uns schon wohlbekannt. Auf der Unken Seite des Kärtchens kommen neu hinzu die Leier nnd der Adler, die mit Recht als die schönsten Sommersternbildcr bezeichnet werden. Zumal der saphirblaue Hauptstcrn der Leier. Wega, lenkt unseren Blick sogleich aus sich. Beim Aus- suchcn der dazwischenliegende» Bilder wird man am besten tu», vom Närenhüter zur Krone »»^ von da ans zn dem schiefen „Viereck" des Herkules vvrznbrtngen. Unter diesem wird man sich da»» den Schlangenträgcr mit der Schlange durch schrittweises Vergleichen der Karte mit dem Himmel einprägcn können. Dte Wandler bieten nnS in diesem Monat am Abend- Himmel ein gewiß nicht »»iiitercisanteS Schauspiel. Merkur — „Dresdner Nachrichten" — ' ist allerdings schon tn der Abenddämmerung verschwunden und wirb uns im Lause dieses Jahre» nicht mehr Gelegenheit geben, ihn unter ähnlichen Bedingungen zu beobachten. Dafür können aber Venu» und Mars noch sehr gut gesehen werde». VenuS erreicht am 2. ihren größten östliche» Abstand vom Tagesgestirn und wird weiterhin an Helligkeit zunehmen. Leider verringert sie wegen ihres im Vergleich zur Sonne recht südliche» Standes ihre Sichtbarkeitsdaucr erheblich: sie acht anfangs um 2211 Uhr und gegen Ende um 2l Uhr unter. In ihrer Nähe wandert ganz bescheiden mit einer vergleich», weise unbedeutenden Helligkeit der Mars einher. Am 10. bzw. 20. kommen beide Wandler dem Hanptstern NeguluS de» Große» Löwen nahe. Noch bis tn den August hinein werden sie so ihre Abendpromenade fortsetze», bis die Venns sich von Ihrem Begleiter wieder verabschiedet. Satnr» mit seinem großen Ningsystem kann in den Abendstunden noch bequem studiert werden. Schließlich ist auf den größten unter den Wandlern, auf Jupiter, HInzuwetsen, der zu Beginn des Monats kurz vor Mitternacht und gegen Ende um 21)1 Uhr über den Gesichtskreis emporsteigt. Die Verfolgung des Spieles seiner Monde ist für den Sternsreund eine besonders anziehende Beschäftigung. Vermischtes. Sr-beben tn -er Krim. Am Sonntagmittag wurden in Sebastopol und an deren Städten der Krim starke Erdstöße von 8 Sekunden Dauer wahrgenvmmcn, die von starkem unterirdischem Getöse begleitet waren. An mehreren Stellen ereigneten sich Erd» stürze. DaS Erdbeben, das anscheinend die ganze Halbinsel in Mitleidenschaft gezogen hat, wird ans vulkanische Verände rungen des BvdcnS des Schwarzen Meeres zurückgesührt. ** Festzug aus Anlaß der Jahrhundertfeier Bremer havens. Ans Anlaß der Jahrhundertfeier Bremerhavens wurde von der Stadt in Verbindung mit den Handels- und Jndustriekrciscn und de» Vereinen ei» historischer Festzng ver anstaltet, der trotz der ungünstigen Witterung am Sonntag durchgesührt wurde. Die Straßen und Plätze Bremerhavens zeigten sich tm reichen Flaggen- und Girlandenschmuck. Der Zug begann mit dem Wagen der Stadt Bremerhaven. Dieser Wagen führte in einer schönen Frauengestalt Bremerhaven daher. Es folgten Wagen ans Wagen, die die Weser und die Geeste darstellten, und ein Bild von der Entwicklung der Stadt Bremerhaven in wirtschaftlicher und kultureller Beziehung gaben. Unter den Wagen sind außer den Spitzenwagen noch zu erwähnen derjenige, der die Glanzzeit der Hanse um 1400 darstellte, weiter „die Gründung Bremerhavens 1827". auf dem der erste Spatenstich zum Hasen gezeigt wurde, „die Gründung des Norddeutschen Lloyd 1867", dargestellt in dem Modell des ersten Norddeutschen Lloyddampfcrs „Bremen", die „Hochsee fischerei". Abends sanden in verschiedenen Lokalen der Untcr- wcscrstädtc Festkommerse statt. ** Hohe Fahrgeschwindigkeit dcntschcr Schiffe. Wie vor einigen Tagen daö Mvtvrschnellschiss „Hansestadt Danzig" hat nun auch das Mvtvrschiicllschisf „Preußen" des Seedienstes »ach Ostpreußen und D a n z i g—M emcl melden können, daß es aus der Probefahrt die hohe Fahrgeschwindigkeit von 20,2 Seemeilen pro Stunde erreicht hat. ** Hervorragende Flnglcistung. Das deutsche Flugzeug I) 1137 ist, aus Dessau kommend, in Moskau eingetrossen. Es legte die 1940 Kilometer betragende Strecke in neun Stunden 28 Minuten zurück. ** Explosionen ans der Danziger Werst. In Danzig er eigneten sich am Montag auf dem an der Danziger Werft zur Reparatur liegenden Motorboot „Falke" auS Wien zwei schwere Explosionen kurz nacheinander, bei denen ein Maschinenbauer der Danziger Werft sowie ein Monteur der Mvtorensabrik Deutz getötet und ein Meister der Danziger Werst sowie der Kapitän und die beiden Maschinisten des Bootes schwer verletzt wurden. Während von der Danziger Werst schiffsbailtcchiiische Reparaturen an dem Bootskörper vorgenvmmcn wurden, arbeitete der Monteur an der Instand setzung des Motors. Gleichzeitig wurde Benzin eingenommen. * Vergiftung durch gekochte Leberpastctc? In Brachclc», Regierungsbezirk Aachen, erkrankten in einer Familie plötzlich vier Personen. Es traten Vergistungs- erschcinungcn auf. Ein Mädchen ist gestorben. Man führt die Erkrankungen a»s den Genuß von eingekochter Lebcr- pastctc zurück. Der Zustand der übrigen Erkrankten ist sehr bedenklich. ** Lärmszenen in einem Berliner Revuetheater. In der Komischen Oper, wo zurzeit die Revue ,/Streng verboten!" aufgcführt wird, kam cs am Montag abend gegen 11 Uhr zu erhebliche» Störungen. Während der Vorführung er tönten laute Pfiffe und es wurden Zwischenrufe laut und lebhaftes Trampeln setzte ein. Die herbetgerusene Polizei »ahm zwölf Personen fest, die sämtlich Mitglieder der Liga für Menschenrechte sind. Sie erklärten, an der Vorstellung Anstoß genommen zu haben. Die Direktion der Komischen Oper hat Anzeige gegen die Sistierten wegen Hausfriedens bruches erstattet. ** Die Ursache des Zehlendorfer Autounglücks. Der schwere Aiitomobilzusammenstoß auf der Potsdamer Chaussee, bet dem elf Personen zum Teil schwer verletzt wurden, be schäftigte Montag nachmittag die Berliner Kriminalpolizei. ES wurde festgcstellt, daß der Kraftdrvschkenchauffeur, der aus Potsdam kam und seinen Wagen stark überladen hatte, sich in angetrunkenem Zustand befunden hat und auf der falschen Seite der Chaussee in ziemlich schnellem Tempo dahinjagte. Gegen den schuldige» Kraftdroschkenchauffeur ist nach Ausnahme des Tatbestandes Strafanzeige er stattet worden. ** Blutige Schttlcrtragödie. Ein tn die Wohnung eines verreisten Berliner Kaufmannes gerufener Arzt fand dort den 10jährigen Sohn und eine» anderen ebenfalls 10jährigen jungen Mann mit schweren Schußwunden auf. Der schwer ver letzte Sohn des Wohnungsinhabers, der noch Schüler ist, erlag bald darauf seine» Verletzungen, während der andere bereits tot war. Nach den bisherigen Ermittlungen scheint der 10jährige Schüler im Streit zur Waffe gegriffen zu haben. ** Schweres Flicgernnglück. Bet Kindelsöorf, Kreis Landeshnt lSchlesicnj versuchte Montag nachmittag gegen 0 Uhr ein französisches Flugzeug, bas sich infolge des nebligen Wetters verflogen, die ticfhängcnden Wolkenmassen zu durch brechen. Zu spät erkannte der Führer, daß er sich in einem hohen Wald befand, und mit voller Wucht sauste das Flugzeug durch die wie Streichhölzer geknickten starken Baumstämme zur Erbe. Beide Insassen wurden bis zur Unkenntlichkeit ver stümmelt, das Flugzeug gänzlich zertrümmert. ** Der Tötung von Frau «nd Sohn bcschnldigt. Im großen Saal des Harburger Rathauses begann am Diens tag der Prozeß gegen den Schuhmacher Straßcr, der an geklagt ist, seine Frau und seinen Sohn getötet zu haben, um den Versicherungsbetrag für beide zu erhalten. Nach Eröffnung der Verhandlung verliest der Vorsitzende die An klageschrift, in der dem Angeklagten vier Verbrechen zur Last gelegt werden: 1. die Tötung seiner Frau, 2. die Tötung seines Sohnes, 8. etn BrandsttftungSversuch, der mit einem Mordversuch an seinen beiden Söhnen verbunden war, 4. ein Versichern ».»oetrug. Bei >e >er Vernehmung erklärte Straffer, daß er sich nicht scbnlcig fühle. Hierauf schilderte der Angeklagte seinen Lebenslauf und den Tod seiner Frau, als dessen Ursache er Selb st e » «Iaöung eines in der Tasche befindlichen Re volvers angab. Hln.lchtnng eines dreifachen Mörders. Dienstag früh wurde in Kuttcnberg tTscherhv-Slowakeii Jakob Bacaut, der seine d r e i G c l i c b t c n e r i» o r d e l halte, hingcrichtct. Vor dem Tobe hat der Mörder ein Geständnis abgelegt. Nr. 300 Sette 13 Die schnellen Bankbeamten. Berliner Olympiade. Von Peter Sachse. Berlin, im Juni. O Caesar FlaischlenI Hab' du Sonne im Herze», wen» du sie nicht ans dem Strohhut hast! Haben wir überhaupt Slrohhiilc? Unser be rühmtester Strohhut-Konstruklenr Unter den Linden hat mich gestern brechenden Auges durch sein übervolles Lager gesnhrt: erst ganze sechzehn Männcrköpse hat er in diesem Sommer seines Mißvergnügens unter die Butterblume gebracht. In schlaflosen Rächten entwirft er eine Petition an den Prinzen vs Wales — ob er nicht de» Strvhhul als Kopfbedeckung des Winters inaugurieren wolle? An den regennassen Zäunen der Gartenlokale stehen die Inhaber und schauen, die Hand über dem umslvrien Auge, nach den Gäste» aus. die zähneklappernd dahcim den Portier be stochen haben, die Zentralheizung wieder anznsteile». Un verbraucht werden die Mttttärkonzerte in die feuchte Akustik gehaucht, für dte noch kein Rezept zum Einwecken crsnnden ist. Was an uns ist. das tun wir ja. um uns gegen Wetters Unbill abzuhärtcn. Diese ganze Woche steht im Zeichen körperlicher Ertüchtigung. Ungezählte Tausende bringt die Große Berliner Turn- und Sport woche auf die mit einer leichten Gänsehaut überzogenen Beine. Turner und Fußballer, Nadler und Segler, Ruderer und Ringer, Schützen und Kegler. Schwimmer, Boxer, Autler — welch ei» Aufmarsch zur Berliner Olympiade! Alle Lieder durch die Gassen. Der Asphalt, sonst gepeinigt von atemlosen Pneumatiks, bebte unter dem Tritt von hunderttausend fröhlichen Beinen. Eine Armee von weißen Hemden flutet um die Ecken — die Stamm tische ließen die an den Mund gehobene Blume »»getrunken, der Barbier den eingescisten Bart im Stich. Die Männer, die Mütter traten aus den Türen, um die lustige Parade ihrer Jugend zu sehen. Die marschierte, marschierte, marschierte — hunderttausend sommcrklare Augen über hunderttausend novemberlich gebläuten Lippen zogen durch die Abendkühlc. Sic rührte cs nicht, daß die Frauen in den Fenstern so besorgt ans Thermometer sahen oder sich fragte», ob man für manchen von den kleinen Pilgern in den dünne» Gewändern nicht erst einmal eine Etz- und Mästwvche veranstalten müßte. Die wandelten. Die sangen. F-iinszigtausend kleine Caesar Flaischlens und hatten wahr haft Sonne im Herzen unter diesem Regcnhimmel von 1027. Ihre Begeisterung glühte bis auf die Trottoire, daß den Bäuchen der Väter die Gewissen schmolzen: „Ach, wären wir in jungen Jahren auch so marschiert, hätten wir auch so die Muskeln und Leiber geübt, wir litten heute nicht so an müdem Fett, an krummen Rücken, an trüben Augen." Ja, an diesem SamStag, der die Berliner Olympiade einlcitete, hatte manche Träne Lust, in manchen welke» Bart zu rollen — dieser singende», wandernden Jugend nach, die ihre versäumte, ver schwendete Jugend war. Es ist ein Gewissensalarm, diese große Turn- und Sportwoche der Weltstadt . . . * Sonntags früh säumen hunderttausend Regenschirme den Wettkampf der „Großen Staffel". Stasfcttenlauf über rund fünfzig Kilometer — für die Damen nur über fünf Kilometer, desgleichen auch für die Abteilungen der Allen Herren —. Ein weißer Stab muß vom Rathaus nach Schwanenwerder am Wannsee und wieder zurück im schnellsten Tempo gebracht werden. In der ersten Etappe ist der Stab den Läufern über geben, die ihn vom Rathaus znm Spreeufer bringen. Schwimmer schaffen ihn im Wasser weiter, Radler über nehmen ihn und sausen damit in den Grnncwald. Neun Gruppen kämpfen um den grünen Kranz — Bcreinsfportler, Vcamtcnklnbs, die SportabteUungen der Großbanken. Aus den Bureaus, hinter dem Ladentisch kamen sie hervor, legten Kragen und Sakko ab und zeigten das andere Berlin. Das Berlin der Sehnen und Muskeln. Es ist das neue, bewegliche Geschlecht, daS sich da auf den Berliner Sportplätzen empor- trginicrt hat. während wir Alten hinter Büchern und Bechern saßen. Den Zuschauern im hochgeschlagenen Kragen traten die Augen ans den Höhlen. Was da vom Rathaus zum Ncichstags- ufcr stürmte, dort den Stab an die Badetrikots abgab, die sich in die nasse, i» die kalte Spree warfen, die Radler, dte den Stab ans wehenden Pedalen weiter gen Schwanenwerder ver schleppten und die flinken Beine, die ihn — strahlend wie Marathonläufer — heil ans Ziel brachten: das war der Be amte der Deutschen Bank, der immer so freundlich auf mcnn Schecks schreibt: „Leider ohne Deckung!", Las war der Kon trolleur der städtischen Gaswerke, der meinen Gasmesser ab- licst, das war die Telephonistin von Siemens L Halske, die mich gestern mit dem Generaldirektor verbunden hat. Im vorigen Jahr war sogar mein Briefträger dabei — in der Sicgergrnppc. Diesmal streikten die Postbeamten. Sind sie böse, weil wir daö hohe Porto nicht bewilligen wollen? Dies mal siegten — in der Frauen- wie in der Männcrgruppe — die Beamten der Deutschen Bank. Natürlich, sie sind es ge wöhnt, den besten Kursen schnellstens nachzulaufen. Gar keinen Preis hat die Gruppe der städtischen Beamten von Berlin bekommen. Sie sind nicht für die Schnelligkeit. Sie sind über haupt gegen Sport und Wochenende. Das Steueramt Berlin- Mitte hat eben beschlossen, auf die Autobusse, die die Berliner Sonntags in die Umgebung fahren, eine — Vergnügungs steuer zu legen. Die Stadt selber, von Amts wegen, hat das Wochenende mit einer großen dreimonatigen Ausstellung pro pagiert — und nun machen die städtischen Stcnerbeamten eine Steuerquelle daraus. Ob sie nicht auch etwas mehr von dem Sport treiben sollten, der die Köpfe lüftet? Inzwischen reg-net es weiter. Inzwischen geht die Sport- woche weiter. Im Lustgarten, im Hnmboldthain klettern die besten Boxer der Polizei und der Boxsklubs in die Seile und gehen abends 7 Uhr bei freiem Entree zu Propagandazwecken mit Schwingern und Kinnhaken aufeinander los. Auf dem Wittenbergplatz, im Schillergartcn machen sie Jnjitsu-Pro- paganda. In Treptow ein Paradcschmimmcn von IMOSchwim- incrn — Europameister Hans Lnber springt von der Abtei- Brücke. Am Funkturm ein ganzer Tag der Franenturner. Ich weiß noch nicht, ob ich lieber zum Hunderenncn im Stadion Lichtenbcrg oder zum Wcrbesportkegeln nach Hohenschönhausen soll, wobei ich auf jeden Fall Sen großen Automobil-Blumen korso am Kaiserdamm versäume. Das ist unsere Olympiade. Jeder zweite Berliner ent puppt sich als ein kleiner Dr. Peltzer, als eine andere Gertrud Edcrle. Unser Oberbürgermeister, der der Vater dieser Turn- und Sportwochcn ist, ist ein Kolumbus geworden, der in seinen Untertanen den MuSkclmenschen wieder entdeckt und hcranögestcllt hat, als die Weltstadt jeden zu einem Nerven bündel machen wollte. klopft u. lagert ^eppieks § I »»ul«- 1 81okke Nslm. Porste! 5rdeUoi»<rkiti« 21 --- k.kllg.lli'MM.
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