75 Paul Kaiser »Kultur-Assis« Eine progressive Unterschicht in der DDR In der Honecker-Ära entstanden informelle Netzwerke und kulturelle Gegenszenen, deren erklärtes Ziel es war, eine Alternative zur verregelten und verriegelten »Norma litätsgesellschaft« zu schaffen. Dieser Impuls kann allgemein unterstellt werden, auch wenn der gelebte Dissens mit der Majoritätsgesellschaft selbst für viele Gutmeinenden oft nur als »arrogante Gammelei« 1 durchging, ganz abgesehen von den pejorativen Zuschreibungen in breiten Teilen der Bevölkerung, welche in den Akteuren der Subkul turen in der Regel nur gescheiterte Existenzen erkennen wollte und diese als »Assis« (DDR-Slang für Asoziale) kennzeichnete. Andererseits ist der offensive Gebrauch dieser Abwertungsformeln auch in den subkulturellen Kreisen selber nachweisbar - entweder durch die Aufnahme der Sterotype in das Repertoire der Selbststilisierung oder als ästhe tisch thematisierte Wahrnehmung der eigenen gesellschaftlichen Randlage. Jene Umdeutung findet sich etwa beim Performer und Dichter »Matthias« Baader Holst, der seine appellative Lebensmaxime in der Losung »be asozial« zum Ausdruck brachte und sich ganz bewusst als »Asozialer, Terrorist, Punk und plakativer Selbstzerstörer« 2 positio nierte. Auch der Ethnologe Thomas Kochan liefert ein solches Beispiel, wenn er von einem (von der Staatssicherheit in den 80er Jahren verhinderten) Fußballspiel zwischen zwei Mannschaften berichtet, deren Mitglieder aus der ostdeutschen Blueser- und Hip pieszene stammten und die sich in provokant-ironischer Manier schlicht »Assi Gera« und »Schlampi Chemnitz« nannten. 3 Selbst wenn der inszenatorische Charakter einer solchen Stilisierung - man denke nur an die bekannte Autostigmatisierung des Malers A.R. Penck: »Ich bin Dreck und will Dreck blei ben« 4 -die soziale Dimension der ausgestellten Normabweichung bisweilen überblendet, so zeigt sich doch, dass der »Weg zum Ich« in der DDR-Gesellschaft oft nur über die »Ein übung der Außenspur« (Andreas Reimann), d.h. über den Verzicht auf Teilhabe an der Macht sowie die Akzeptanz eines Lebens in sozialen Randlagen zu erlangen war. Der The aterregisseur Frank Castorf, eine der Leitfiguren der künstlerischen Subkultur in den 80er Jahren, begriff die progressive Bedeutung dieser »staatssozialistischen Unterschicht« wie folgt: »Diese Dekadenz war, wenn man die Zerstörung der DDR innenpolitisch betrachtet, entscheidend, weil keiner mehr eine Motivation hatte. Jeder Soziologe hat doch lieber irgendwelche schmiedeeisernen Lampen angefertigt, weil man damit etwas rumtricksen, sich freier bewegen konnte. Die große Initiative war doch verloren. Dieser Ausstieg aus der Gesellschaft war massenhaft. Ich meine, der Narzissmus, der individuelle Anarchismus und die Asozialität waren natürlich auch etwas, was die DDR umgebracht hat.« 5