Suche löschen...
02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 15.06.1904
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1904-06-15
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19040615025
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1904061502
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1904061502
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1904
- Monat1904-06
- Tag1904-06-15
- Monat1904-06
- Jahr1904
- Links
-
Downloads
- Einzelseite als Bild herunterladen (JPG)
-
Volltext Seite (XML)
Abend-Ausgabe npIMTagtblall Anzeiger. ÄmtsVkatt des Königlichen Land- «nd des Königlichen Amtsgerichtes Leipzig, des Aales und des Nolizeiamtes der Ktadt Leipzig. Bezugs-Preis di der HaaptqwedVtoa »da deren LuSgab»- fiellen a»geholt: vierteljährliches.—, bei zweimaliger täaltcha Zustellung in« Hau» e 8.7Ü. Durch die Post bezogen für Deutsch« land u. Oesterreich vierteljährlich e 4.50, für di« übrigen Länder laut ZettungSpreiSliste. NeSttMonr JohanuiSgaste 8. Sprechstuud«: 5—8 Uhr Nachm. Fernsprecher: 153 Gr-edttio«: JohanniSgafl« L Fernsprecher: L22. Filtulerpeptttone«: Alfred tzah n.Buchbaudlg., Uuiversitättstr.3 (Fernspr. Nr. 4046), L. Lösche, Katharinen« straßr 14 (Fernsprecher Nr 293b- n. KünigS« Platz 7 (Fernsprecher Nr. 7505). Haupt-Filiale Dresden: Martenstrabe 34 (Fernsprecher AmtINr. 1713). Haupt-Filiale Berlin: TarlDuncke r^Herzgl.Bayr.Hofbuchdaudla.. Lützowstraße lOlFernsprecherAmtVI Nr.4603.) Nr. 3A. Mittwoch den 15. Juni 1904. Anzeigen-PreiS die 6 gespaltene Petitzeile 2V Reklamen unter dem RedaktionSstrich (4gespaUen) 75 nach den Familiennach« richten (6 gespalten) bO Tabellarischer und Aifsernsatz entsprechend höher. — Gebühren für Nachweisungen und Ossertenannahine 2b Srtra-Veilagen (gesalzt), nur mit da Morgen.Ausgabe, ohne PostbefSrderung M.—, mit Postbesörderung 70.—. Annahmeschlutz sur Anietsen: Abend-AuSgabe: vormittags 10 Uhr. Morgen-Ausgabr: nachmittags 4 Uhr. Anzeigen sind stets au dir Expedition zu richten. Die Expedition ist wochrnragS ununterbrochen geöffnet von früh 8 bis abends 7 Uhr. Druck und Verlag von E. Pol» tu Leipzig (Inh. vr. B., R. L W. Kltukhardt). S8. Jahrgang. Var WMigrle vsm Lage. * Im Befinden des Königs ist keine Aenderung eingetreten. (S. Sachsen.) * Der Kaiser spendete 10 000 für See- mannshäuser der kaiserlichen Marine. Geplant ist der Bau eines vierten Seemannshauses in Apia auf der Samoa-Insel Upolo. * In Berlin scheint ein neuer Bäckcrstreik bevorzustehen. (S. Deutsches Reich.) * Ein Versuch mit einem Teil des Scherlschen Sparlottosystems ist in Glogau völlig in i ß - lungen. (S. Deutsches Reich.) Aadltteideit «n«l Aablbeeinlluttung. Der Prozeß gegen den Bergmann Krämer ist nun zum Abschluß gekommen, und Krämer ist zu einer Ge samtstrafe von drei Monaten Gefängnis verurteilt wor- den. Die Urteilsbegründung gibt aber zu, daß in dem Prozeß Einzelheiten zutage getreten sind, welche der Darstellung des Angeklagten eine gewisse Stütze bieten konnten, soweit sich diese Darstellung auf die politische Seite des Prozesses, die Unterdrückung der Arbeiterfrei- heit, bezog. Was zweitens das behauptete System der Ausbeutung zu Gunsten des Fiskus betreffe, so seien zwar die in den Flugblättern angegebenen Zahlen richtig, indessen stellten sich die Schlußfolgerungen als unwahre Behauptungen dar. Einige der vernommenen Pfarrer hätten zwar ausgesagt, daß dis Lebenshaltung eines Teiles der Arbeiter zu wünschen übrig lasse, der An geklagte aber habe behauptet, daß die Lohnverhältnisse im allgemeinen schlecht seien. In dieser Verall gemeinerung liege das Unerhörte und das Unvcrantwort- liche seiner Angriffe. Das ist es, was EnUüfim.u .«od Empörung hervorruft." Gegen diese Urteilsbegründung muß eingewandt werden, daß der 8 187, welchen das Gericht angezogen hat, denjenigen bestraft, der „wider besseres Wissen in Beziehung auf einen anderen eine unwahre Tatsache be- hauptct oder verbreitet, welche denselben verächtlich zu machen oder in der öffentlichen Meinung herabzuwür- digcn oder dessen Kredit zu gefährden geeignet ist". Da nun die Tatsachen, die der Angeklagte angeführt hat, als richtig anerkannt sind, so trifft dieser Paragraph hier nicht zu und kann unmöglich Anwendung finden. Daß die Schlußfolgerungen des Angeklagten, seine Urteile irrig sind,.ist möglich, aber nach dem 8 187 können Ur teile, die ja ganz subjektiv sind, nicht bestraft werden. Sic könnten nur dann, aber auf Grund des 8 185 be straft werden, wenn sie eine formale Beleidigung ent hielten. Wir nehmen an, daß das Reichsgericht auf Grund dieser Erwägungen das Urteil aufheben wird. Die Öffentlichkeit hat an dem materiellen Inhalt des Prozesses mehr Interesse als an den, Urteil. Es ist unbedingt sicher festgestellt, daß die Löhne sich nicht ent sprechend der Prosperierung der Gruben gehoben haben, und eine Reihe einwandfreier Zeugen hat erklärt, daß die materielle Lage der Bergleute kümmerlich sei. Es ist festgestellt worden, daß die Wahlen beobachtet und schon dadurch beeinflußt worden sind. Man hat den Eindruck, daß die politischen Rechte des einzelnen, die durch die Verfassung verbürgt sind, nach dem Satze „weß Brot ich esse, deß Lied ich singe" illusorisch gemacht worden sind. Die Lektüre der Arbeiter ist überwacht worden, gewisse Blätter sind direkt verboten worden und zwar handelt es sich nicht etwa um sozialdemokratische, sondern auch um Zentrumsblätter. Daß eine königliche Verwaltung den Sozialdemokraten gegenüber auf den: Standpunkt des offenen Kampfes steht, finden wir begreiflich. Denn, was mau auch sagen möge, die Sozialdemokratie ist der Todfeind des heutigen Staates und kann sich nicht wun dern, wenn der Staat daraus die Konsequenzen zieht. Wenn aber die Bergwerksdirektion auch klerikale Blätter einfach verbietet, so läßt sich ihr Verhalten in keiner Weise rechtfertigen. Auf diesem Wege ist es nur noch ein Schritt, den Arbeitern vorznschreiben, daß sie sämtlich bei Strafe der Entlassung dies oder jenes Blatt zu lesen haben. Der lursizch.japankcbe Krieg. Bericht -es Generals Lharkervitsch. * Petersburg, (4. Juni. Ein Telegramm des Generals Ch arte witsch an den Generalstab von gestern besagt: In der Nacht vom 11. zum 12. Juni griffen die Japaner südlich von der Station Wafandian und nördlich von der Linie Pitzewo — Pulandian eine russische Feldwache beim Dorfe Uviaden an, wurden aber mit Verlust zurückgeworsen. In derselben Nacht bemächtigte sich eine russische Abteilung nach einem Kampf, der vis zt.,.- . r vr nnd d-r Hüben beim Dorfe Lidiatun. Auf russischer Seite wurden in diesen Nachtgefechten 4 Mann getötet und 18 verwundet. Am 8. Juni wurde der Leutnant Lang mit seiner Abteilung bei einer Rekognoszierung in der Umgebung von Udaockedsy, 18 Werst nordöstlich von Ajaniamyn, von einer japanischen Abteilung überfallen, die 2 Kompagnien stark war. Es gelang ihm nach einem Handgemenge, sich durchzuschlagen. Wie gemeldet wird, rückt eine gegen 3000 Mann starke japanische Abteilung von Süden nach Chuaijensian vor. Bericht -es Generals Stackelberg. * Petersburg, 15. Juni. Ein Telegramm des General leutnants Baron Stackelberg an den Kaiser von gestern meldet: Heute mittag 12 Uhr wurden wir, 6 Werst südlich von der Station Wafangou, angegriffen. Der Gegner machte energische Versuche, unseren linken Flügel zu verdrängen. Die Angriffe des Gegners wurden zurückgeschlagen. Wir behaupteten unsere Stellung. Das erste Regiment, welches sich auf dem linken Flügel befand, erlitt ernste Verluste. Der Regiments-Kommandeur Oberst Chwastunow und der Regi ments-Adjutant wurden getötet. General Gerngroß wurde verwundet. Aus -er rNautschurei. mm. Köln, 15. Juni. (Eigene Drahtmeldung.) Aus Petersburg wird der „Köln. Ztg." gemeldet: Die Hitze begann. In der Mantschurei kann man kaum atmen. Die yffuffe krockuen aus, die Zeit der unerträglichen Hitze beginnt. Ihr solgt die furchtbare Regenzeit. Die Japaner verließen die Schanzen bei Wafangou und Wafan g d i a n. Beim Rückzüge sprengte der^ Feind an Zwei stellen mit Pyroxilinkapseln die SchienenAeleise. Gegenüber Kait schon erschienen zwölf japanische -schiffe und eröffneten das Feuer gegen zwei Dörfer. Die Bewegungen des Feindes sollen unsere Aufmerksamkeit von der Kwantung-Halbinsel ablenken. Lsrt Arthur. Petersburg, 15. Juni. (Ruff. Telegr.-Agentur.) Nach einer Meldung aus Mukden von gestern befindet sich die Port Arthur belagernde Armee auf der Linie Dintschentsze— Lounvantian. Zwischen den Vorposten finden täglich Schar mützel statt. Die Gerüchte über einen Sturm auf Port Arthur bestätigen sich nicht. * Tschts«, 14. Juni. (Meldung des Reuterschen BureauS.) Eine Flottille von Dschunken, die mit Mehl und Reis beladen und nach Port Arthur bestimmt war, ist hier heute von den Japanern beschlagnahmt worden, die sich bei dem Taotai darüber beschwerten, daß ausländische Kaufleute Waren nach Port Arthur verschiffen, und daß die Russen hier eine Empfangsstation für drahtlose Telegraphie errichtet hätten. Von einer solchen Station ist hier nichts zu bemerken. Japanische Tapferkeit. Ein russischer Offizier berichtet nach Moskau über die Tapferkeit japanischer Soldaten. Er schreibt: „Auf dem Wege von Föngwangtschöng wurde auf meine Kompagnie von drei japanischen Scharfschützen geschossen, die sich in einer Felsenhöhle verborgen hielten. Wir waren gezwungen, da sie unaufhörlich schossen, sie entweder zu vertreiben oder gefangen zu nehmen. Zehn Mann von uns näherten sich auf Händen und Füßen dem Eingänge der Höhle, während wir andern Feuer gaben. Es gelang uns aber zunächst nicht, die Gegner zu verwunden, denn ihre Köpfe waren nie länger als eine Sekunde sichtbar. Wir kamen nun näher an die Höhle heran und riefen ihnen zu, sich zu ergeben. Un aufhörliches Schießen war ihre einzige Antwort. Von unseren Soldaten waren schon vier getötet. Ihre kleine Festung wir r^gel'^ckt d,lagern. Zwei Japaner fielen, der Neberlebendc sprang nun aus der Höhle und kam unS, immer noch schießend, entgegen. Ungefähr 10 Kugeln hatten ihn schon getroffen, mit aller Kraft hielt er sich aufrecht. Da endlich fiel er. Mutiger habe ich nie kämpfen und sterben gesehen". komische Lsgerrcha«. * Leipzig, 15. Juni. Moral und Reichstagsschluh. Dec „Vorwärts" wendet ein großes Maß sittlicher Entrüstung an die Meldung einer parlamentarischen Korespondenz, der Reichskanzler beabsichtige, wenn die Kolonialgesetze in ungünstigem Sinne erledigt würden, den Reichstag nicht zu vertagen, sondern zu schließen. Das sozialdemokratische Zentralorgan erklärt es für die Pflicht des Reichskanzlers, dieser Meldung entgegenzu treten, denn es werde ihm durch die Nachricht ein ganz unwürdiges Verfahren unterstellt. „Unwürdig wäre es, die Entscheidung der Frage, ob Vertagung oder Schluß der Session eintreten soll, von dem Wohlver halten des Reichstags abhängig zu machen." Auch wir würden, wenn es zur Methode werden sollte, in dieser Weise auf die Entschließungen des Reichstags eine Pres sion auSzunben, prinzipiell damit nicht einverstanden sein können. In diesem Falle aber liegt die Sache doch ganz besonders. Es kommt nicht eben oft vor, daß eine Session des Reichstags sich so lange ausdehnt, wie diesmal, es kommt aber noch viel seltener vor, daß eine so lang hin gezogene Tagung eine so geringe positive Ausbeute liefert. Die Regierung hat dem Reichstage diesmal von vorn herein kein zn großes Arbeitsquantum zugemutet. Trotz- dem hat er den Etat viel später, als er hätte erledigt sein müssen, zur Erledigung gebracht, trotzdem hat er mehrere Gesetze, deren Verabschiedung wünschenswert ge- wesen wäre, bis zum nächsten Winter hinausgeschoben, und endlich ist dank der chronischen schlechten Besetzung des Reichstages noch die Gefahr vorhanden, daß eins der wenigen Gesetze, das bei guter Besetzung in positivem Sinne, d. h. in Uebereinstimmung zwischen Bundesrat und Reichstag erledigt worden wäre, nämlich das Gesetz über die Kaufmannsgerichte, zu Falle kommt. Unter diesen Umständen ist es wohl begreiflich, daß die Re gierung sich sagt, daß, wenn der Reichstag auch noch die Kolonialgesetze nicht in positivem Sinne erledigt, es gut sei, durch den S ch l u ß der Session die parlamentarische Unfruchtbarkeit vor dem Lande jenes Deckmantels zu be rauben, der in der Vertagung liegt, indem sich bei der Vertagung der Reichstag die teilweise durchberatenen Ge setze auf sein Arbeitskonto gutschreiben lassen kann. Tilly in der Walhalla! Ter Klerikalismus sorgt dafür, daß seinen ein schläfernden Friedens w o r t e n aufweckende Taten folgen, die den Wert jener Worte unzweideutig klarstellen. Zu solchen aufweckenden Taten gehört die Forderung des bayerischen Zentrumsabgeordneten Lerno, die Büste des bayerischen Feldherrn Tilly in der Walhalla (bei Regensburg) aufzustellen. Das offizielle Organ der bayerischen Zentrumspartei ist über diese Forderung un gemein glücklich. Es muß zwar selbst zugeben, daß Tilly in München bereits ein Denkmal hat, und daß die katho lischen Verehrer Tillys außerdem iu der Lage sind, in Altötting am letzten Nuhelager des bayerischen Feldherrn zu beten. Das könnte und müßte den bayerischen „Pa trioten" genügen. Aber die bekannte „kochende Volksseele" in Bayern verlangt nach einer imposanten Sühne für die scharfe Kritik, die vor Jahr und Tag ein alldeutscher Ge schichtsprofessor an Tilly geübt hat: daher das Verlangen nach der Aufstellung einer Tillybüste in der Walhalla. Wenn diese Ruhmeshalle zwei Menschenalter hindurch ohne eine Büste Tillys geblieben ist, so darf der Grund dafür als ein ganz natürlicher beurteilt werden. Es fehlt eben einem Tilly gegenüber der communis omnium c-ouseusus, der die Aufstellung der Büste deutscher Männer an der genannten Stätte rechtfertigt. Selbst- verständlich ist sich der Klerikalismus bewußt, daß die an geführte Voraussetzung der von ihm geforderten Tilly- Ehrung heute nicht weniger fehlt, als die verflossenen zwei Menschenalter hindurch, welche die Walhalla ohne Tilly- büste sahen. Aber das Zentrum fühlt sich als Trumpf und erhebt in diesem Gefühle seine Forderung. Das offi zielle Organ der bayerischen Zentrumspartci unterläßt auch nicht den Hinweis daraus, daß die bayerische Krone im vorliegenden Falle das Bestimmungsrecht habe, und appelliert an den Kultusminister, die Lernosche Anregung baldigst der Entscheidung des Prinz-Regenten zu unterbreiten. So möchten die bayerischen „Patrioten" Feuilleton. 2j Mein Manne. Eine Novelle von Eduard Engel (Berlin). Nachdruck verboten. Halt, was war das? Dort im Vorzimmer? — Himmeldonnerwetter, ist denn heute die ganze Hölle mit schreienden Ouarrhälsen gegen mich losgelasscn? Hatte ich sie nicht eben auf und davon laufen sehen, dort unten auf der Straße? Oder war dies nur noch ein nervöses Nachklingen im Ohr von vorhin? Aber nein, dazu war es doch zu lebendig: dasselbe jämmerliche Kindergeschrci, wie vor wenigen Minuten, drang schneidend und schmet ternd und quiekend durch die offene Tür aus dem Vor zimmer. „Da soll doch gleich ein —" rief ich und stürzte dem Geschrei nach, prallte aber dicht bei der Tür mit der sanften Lene zusammen, die von der Küche her auch das Geschrei gehört haben mußte. Hei, wie wunderbar ge- läufig es jetzt mit dem Zusammenhang von Denken und Sprechen bei ihr ging! Und wie ihre faselige Phantasie arbeitete. „Jetzt pack ich sofort meine Sachen und geh noch in dieser Stunde aus dem Hause." „Ich halte Sie ja nicht. Lene!" „Nein, wo solch ein verlassenes Frauenzimmer Ihnen Ihr Kind auf so 'ne Weise anfhängen muß, da bleib ich nickt eine Stunde länger. Das ist aber 'n Geschmack! Na, ich danke!" „Sie sind wohl reinweg verrückt geworden, Lene? Was gebt mich das Kind an?" „So! Jetzt wollen Sie wohl auch noch Ihr eigenes Kind verleugnen!" „Lene, schaffen Sie nur das Balg aus dem Hansel Heute haben Sic noch Ihren Dienst hier zn tun, und jetzt gehen Sie sogleich zum Revierleutnant und melden ihm, daß man ein Kind bei mir ausgesetzt hat." „Fällt mir im Traum nicht ein!" sagte die freche Per son. „Ich habe noch im Leben nichts mit der Polizei zu tun gehabt; gehen Sie doch selber hin, Sie sind ja der Nächste dazu!" Tas Kind lag in dem schwarzen Umschlagetuch auf dem schmalen alten Ledersofa meines Vorzimmers, auf daS ich meine Lexika zum Abstaubcn gelegt hatte. Es schrie, daß es kirschrot im Gesicht wurde, und ballte wie in einem heftigen Schmerz die Fäuste zusammen. Mit den Beinen strampelte cs ungeberdig um sich, und ein Band meines Böthlingschen Sanskritlexikons schwebte in Ge fahr, auf die Erde geschleudert zu werden. Wenn dies noch eine Weile so weiter ging, so hatte sich der Unhold selber über den Sofarand gestrampelt und stürzte zu Boden, den Kopf voran. Tas konnte ich unmöglich länger mit ansehen. „Lene," sagte ich so sanft und bittend, wie unter diesen Umständen möglich, , dem Kinde muß etwas fehlen, sehen Sie doch einmal nach. Sie verstehen sich doch besser darauf, als ich." Aber damit batte ich sie offenbar an ihrem empfind lichsten Punkt getroffen: „Was, ich soll mich besser auf Kinder verstehen, als Sie? Wieso? Ist das Ihr Kind oder meins? Ich bin ein anständiges Mädchen, Herr Professor, und Kinder sind nicht mein Fall!" „Ja doch, ja doch Lene; ich bitte Sie ja bloß, nachzu- sehen, damit der Bengel nicht so schreit!" „So, also ein Bengel. Also wissen Sie das doch wenigstens. Und dann werden Sie wohl auch das andere wissen," und sie wollte nach der Küche entwischen. „Lene, ick glaube, das Kind ist krank; wollen Sie ihm nicht ein bißchen helfen?" Lene drehte fick verächtlich ab. Ta hielt ich mich nicht länger. Ich war auf die Rabenmutter und auf den Männe und die ganze unerhörte Geschichte sicher min destens so wütend wie die Lene, und ich hatte wohl mehr Grund dazu als sie; aber am Ende war das Kind doch kein Stück Holz und kein junger Hund — ein lebendiges Wesen konnte man nicht so elend umkommen lassen. „Jetzt scheren Sie sich augenblicklich in Ihre Küche und dann schleunigst zum Hause hinaus! Mit einem Satan wie Sie, der ein armes, unschuldiges Wurm lieber sich tot schreien läßt, als einen Finger drum rühren, will ich nicht länger meine Wohnung teilen." „Ach du meine Güte, ich gehe ja schon. Sie können sich mit Ihrem Herrn Sohn ganz ungestört amüsieren." Und krachend schlug sie die Tür zur Küche ins Schloß. Ick war allein mit dem schreienden Kinde. Und dieses Ungeheuer, diese Cäcilie Wirzbinska, diese Rabenmutter, hatte sich bei mir vermieten wollen? Eine Verbrecherin! Kindesaussetzung! Darauf steht mindestens lebensläng liches Zuchthaus. Wenn ich ihr jetzt noch nachcile. In einer Droschke müßte ick sie noch einholen, und ich öffnete den Kleidersckrank, um den Ueberzieher —, aber das Kind schrie so herzzerreißend, daß ich es nicht fertig brachte, es mit der fürchterlichen Lene hier allein zu lassen. Eine Stunde früher oder später war ja gleichgültig; die Polizei mußte mir das Kind vom Halse schaffen. Für dergleichen gab es Waffenhäuser oder so etwas. Was für ein Inter esse hatte ich daran, ob die Mutter von der Justiz ge packt wurde oder nicht! Und es war gar nicht sicher, daß sie dumm genug gewesen war, den geraden Weg die Potsdamer Straße hinaufznlanfen. Wollte sie sich schnell in Sicherheit bringen, so brauchte sie nur in irgend eine Seitenstraße einzubiegen, dann wieder in eine und so fort, und dann konnte man sie suchen. Jetzt nur das Kind be- ruhigt und dann zum Polizeiamt damit. Im Vorzimmer war es kalt; vielleicht schrie das Kind nnr deshalb so arg. Ich nahm es behutsam in meine Arme mitsamt dem Tuch. Beinahe hätte ich es gleich fallen lassen; es war mir doch unheimlich, solch einen kleinen, lebendigen Menschen auf den Armen zu halten, zum ersten Male in meinem Leben. Ich wagte nicht, herzhaft znzngreifcn; auch zappelte es mit allein seinen Gliedmaßen. Dabei war es nun schon purpurn im Ge sicht geworden vom Schreien, das ihn: jetzt wie ein heiseres Röcheln und Wimmern aus dem schmerzverzerrten Mäul chen drang. Zwei obere Vorderzähnchen, wie blaßweiße Perlen, hatte der Bursche. Er mochte neun bis zehn Monate alt sein. Ich trug ihn in mein warmes Arbeitszimmer und legte ihn auf die in der Fensterecke stehende Chaiselongue, auf das große Tigerfell, den einzigen Schmuck meines Zimmers, das Geschenk eines Inders unter meinen Zu hörern. Der Junge schrie in einem fort. Was nur Kon- sistorialrats unter mir denken mochten? Ob ich mir nicht doch bei der Frau Rätin Rat holen sollte, was ich mit dem kleinen Racker anznstellen hätte? Tann aber sah ich mit meines Geistes Angen das Gesicht der frommen Dame, daß sie bei meinem, närrischen Anliegen anfstecken würde. Jetzt stand sie jedenfalls schon in ihrem steifseidenen schwarzen Sonntagsstaat mit dem Goldschnitt Gesangbuch unterni Arm, bereit zur Fahrt nach dem Tom, und war tete ungeduldig auf den säumigen Gemahl, der — trotz geistlichem Amt und konservativer Gesinnung — seine liberale „Vossische" las und Sonntag immer besonders spät damit fertig wurde. Nein, nur nicht zn ihr nm Rat. Hätte ich nur erst den Bengel still! Sei» sinnloses Schreien, auch jetzt in dein fast überwärmen Zinimer, brachte mich in Helle Verzweiflung. Ick tat ihm nichts, höchstens Liebes, und dennoch schrie er. Weshalb er nur schrie? Lime Grund schreit dock kein lebendes Wesen. Es muß ihm etlvas weh tun, aber >vas? In den „Flie genden Blättern" hatte ick mal eine urkomische Geschichte gelesen von einen« schreienden Bengel, just so einem, wie dieser, bei dem sich heransstellte, als man ihn aufwickelte, daß ibn eine spitzige Licktpntzschere kniff. In diesem Falle brauchte cS ja nickt gerade eine Licktputzichcre zn jein; eine Stecknadel tat es auch. Jene nichtswürdige Person,
- Aktuelle Seite (TXT)
- METS Datei (XML)
- IIIF Manifest (JSON)
- Doppelseitenansicht
- Vorschaubilder
Erste Seite
10 Seiten zurück
Vorherige Seite