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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 03.09.1904
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1904-09-03
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19040903023
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1904090302
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1904090302
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1904
- Monat1904-09
- Tag1904-09-03
- Monat1904-09
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Unnahmrschluh für Anreise«: Abend-Ausgabe: vormittag« 10 Uhr. Morgen-Au«gabr: nachmittag« 4 Uhr. Extra-Veilssen (gefalzt), nur mit der Morgrn-AuSaabe, ohne Postbeförderung 60.—, mrt Postbrsörderung 70.—. Anzeigen sind stet« an die Expedition zu richten. Die Expedition ist Wochentag« ununterbrochen geöffnet von früh 8 bi« abends 7 Uhr. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig (Inh. I)r. V., R. L W, Kltuthardt). Anzeigen-Preis die 6 gespaltene Petitzeile 2ü Reklamen unter dem Redaktion«strich («gespalten) 7b nach den Famtlteuuach- richten (6 gespalten) bO Tabellarischer und Ziffernsatz entsprechend höher. — Gebühren für Nachweisungen und Ofsertenannahme 2b -H. Nr. 45V Sonnabend den 3. September 1904. 98. Jahrgang. Var Wchtigrte vom rage. * Die Vorlage wegen Aenderung des Vereinszollgesetzes und der Bestimmungen des Veredelungsverkehrs wird die gesetzgebenden Körper schaften voraussichtlich noch nicht im nächsten Winter, sondern erst später beschäftigen. Bis jetzt sind die einzelstaatlichen Gutachter, die um Einsendung ihrer Wünsche gebeten wurden, noch sehr im Rückstände. * Der Rücktritt des Ober st en Leutwein als Gouverneur von Südwestafrika wird an bestunter richteter Stelle als in der Tat bevor st ehcnü an gesehen. * Oberhofmeister Freiherr v. Mirbach ist er krankt und wird von dem Vize-Oberceremonien- meister v. d. Knesebeck vertreten. (S. Tagesschau.) * Die angekündigte Aussperrung der Bau arbeiterin Pe st tritt heute abend in Kraft. * Nach einer halbamtlichen Mitteilung hat die russische Regierung bis, jetzt an Kriegs kosten nur 113,75 Millionen Mark ausgegeben. vrr rebmakre Mann. Unsere Politik wird jetzt gemacht, als ob Deutschland eine große Kinderstube wäre. Manchmal sind die Kleinen unartig — bald wollen die Jungliberalen kein Schul kompromiß, bald will die Großindustrie keine Verstaat- lichung — und dann tritt plötzlich aus dem offiziösen Kalbdunkel der Freiherr Oktavio v. Zedlitz als schwarzer Mann hervor und ermahnt die ungeberdigen Rangen, ja artig zu sein, denn sie würden erstens den in Aussicht ge stellten Kuchen nicht kriegen, zweitens aber vielleicht gar die Rute bekommen. Oder, ins Politische übersetzt, die Konservativen würden sich mit dem Zentrum über die Schulpolitik einigen, wenn der kompromißliche Antrag verworfen werden sollte, und die Regierung würde ein Gesetz wider die Syndikate einbringen, wenn die Groß industrie sich allzu widerspenstig zeige. Knecht Ruprecht hat für Erwachsene keine Schrecken. Wir werden und können ruhig abwarten, was die Kon servativen und das Zentrum uns für ein Tränklein brauen werden. Kerr v. Zedlitz täuscht sich, im <lo, ut cko« -eS parlamentarischen Kleinbetriebes befangen, über das Maß der deutschen Geduld. Der Versuch, den Staat unter das Joch der Kirche zu zwingen, wird am Willen -er protestantischen Bevölkerung scheitern, die diese Be- vormundung des Einzelnen verwirft und dem Staate geben will, was des Staates ist. Mag sich auch eine kon- servativ-klerikale Mehrheit zu reaktionären Machenschaf ten zusammentun, die Regierung kann die Stimmung weiter gebildeter patriotischer werteschaffender Kreise nicht als belanglos ignorieren. Auch den Konservativen selbst würden ernste Bedenken kommen: sie würden sich doch fragen, ob nicht am Ende der Löwenanteil bei einer solchen Vereinbarung den Ultramontanen zufallen müsse, und ob es ratsam sei, diese Macht noch ohne dringende Nöti gung zu stärken. Kurz, es erscheint uns noch sehr fraglich, ob wirklich die beiden großen Brüder, die Konservativen und die Klerikalen, den Kuchen verspeisen würden und der Liberalismus kavieren müßte. Sonderbar un-maitig — um das stärkere Wort zu vermeiden — müßten die Jungliberalen sein, wenn sie sich durch die Perspektiven des Herrn v. Zedlitz einschüchtern ließen. Wir sind davon überzeugt, daß der schwarze Mann sich als das harmlose Menschenkind entpuppen wird, Las er in Wirklichkeit ist, daß Preußen ein Schulunterhaltungsgesetz bekommen wird, ohne daß der Liberalismus ein Bollwerk aufzugeben braucht, und daß der verwünscht gescheite Gedanke, die Lehrer durch die Luftspiegelung der Gehaltsaufbesserung für eine Schulverschlechterung zu gewinnen, überall als herzlich Lumm entlarvt werden wird — wie das in Halle a. S. bereits geschehen. Den Großindustriellen kommt Herr v. Zedlitz noch ganz anders, ihnen droht er ganz energisch mit der Rute, wenngleich er immer wieder väterlich-liebevoll an ihre Einsicht appelliert. Die „Berl. Pol. Nachr." unterstützen ihn mit häufigen „Darlegungen" nach dem alten päda- gogischen Motto: „Wer nicht hören will, muß fühlen". Wenn die Großindustrie den wohlwollenden Plänen der Regierung kein Verständnis entgegenbrtngt, so muß eben ein Syndikatsgcsetz, richtiger ein Antisyndikatsgesetz, sie gefügig machen. Die ganze Argumentation ist höchst merkwürdig. Will Herr Möller, weil ihm sein „Coup" mißlungen ist, eine der tiefgreifendsten Entscheidungen wie ein Impromptu behandeln? Die Frage, ob ein Syn dikatsgesetz überhaupt notwendig ist, ob es nützlich sein würde, ist noch nicht autoritativ bejaht worden. Der letzte Juristentag, der im September 1902 stattfand, gelangte in seiner Diskussion über die Frage „Welche Maßnahmen empfehlen sich für die rechtliche Behandlung der Ringe und Kartelle?" zu einem noa iiquet. Jetzt liegen für den demnächst stattfindenden Innsbrucker Juristentag wiederum drei vorbereitende Gutachten vor, die alle drei von verschiedenen Gesichtspunkten aus dem gesetzgebe rischen Eingriff widerraten. Or. Scharlach-Berlin ist der Ansicht, daß die Verwaltung den Uebclständen, die mit dieser Tendenz der wirtschaftlichen Entwickelung ver bunden seien, völlig ausreichend zu begegnen vermöge. Landgerichtsrat a. D. Dove weist darauf hin, daß es sich hier um internationale Verhältnisse handle, und daß die vertragsmäßige Verständigung das einzige Erfolg ver sprechende Verfahren sei und Oberlandesgerichtsrat Schneider warnt vor „nervöser Gesetzmacherei". Gerade dieser Ausdruck kennzeichnet treffender die Lage, als der Sachverständige bei Abfassung seines Gut- achtens ahnen konnte. Ein Syndikatsgcsetz wäre zur Zeit ein Gelegenheits- und Verlegenheits gesetz, und darüber werden gewiß alle Parteien einig sein, daß eine so überaus schwierige Materie der gründ lichsten Verhandlung bedarf. Vestitriu torreot. Die Schicksale des Börsengesetzes können uns vor übereilten Eingriffen in den überaus empfindlichen Organismus der nationalen Wirtschaft warnen. Jeder andere Stand- punkt wäre einfach frivol. Die Regierung kann zunächst noch gar nicht daran denken, mit einem derartigen Trutz gesetz herauszutreten, wenn sein koerzitiver Charakter nicht allzu deutlich werden soll. Sind doch die Hymnen der Herren Rheinbaben und Möller zum Preis der Kar telle kaum verklungen! Also fort mit den Popanzen und Vogelscheuchen, die niemand erschrecken, und an Stelle dessen eine sachliche Erwägung der Lage. ver ftuktanä Ser Herero. Neue Beraubung deutscher Farmer. Laut einer Depesche des „L.-A." aus Keetmannshop hat der Hererobastard Morengo, der mit seiner Räuberbande jüngst verschiedenen weißen Ansiedlern, meist Buren, die Waffen abnahm und dadurch weiteren Zulauf erhielt, jetzt die Farm Groendorn des Deutschen Müller von Berneck, sowie die Farmen von Hannemann und Ulrich ausge plündert. Ein Teil der Abteilung des Majors Lengerke ist bereits unterwegs, um Morengo aufzuheben. Vie Haltung Setz Ovambs. In den vielfachen Erörterungen über die Lage in Süd westafrika und unsere nächsten Aufgaben dort spielt die sogenannte Ovambogefahr eine regelmäßige Rolle. Durch diese Bezeichnung wird nach der „Dtsch. Tagesztst." eine nicht zutreffende Anschauung erweckt. An den zuständigen amt lichen Stellen ist der Entschluß gefaßt worden, nach Unter- drückung der Unruhen im mittleren Schutzgebiete nach Norden vorzurücken und dort mit der Einfüh rung der deutschen Verwaltung den Anfang zu machen. Wenn man sich dabei auch auf einigen Widerstand gefaßt machen muß, so ist doch keine feindliche Erhebung des Ovambovolkes zu erwarten. Dieses Volk ist überhaupt nach keiner Richtung hin für einen solchen Kampf organi siert und vorbereitet. Zunächst zerfällt es in viele getrennte Stämme, die zum größten Teile auf portugiesischem Gebiete ihren Sitz haben. Das Gefühl der Zusammen gehörigkeit ist bei ihnen auch noch nicht recht ausge bildet. Sie sind Landbauer und lieben die Ruhe, wie daraus hervorgeht, daß sie die Annäherungsversuche der Herero zurückgewiesen haben. Der bedeutendste Ovambohäupt- ling auf unserem Gebiete Kambonde ist nicht nur ruhig geblieben, sondern hat auch erkennen lassen, daß er den Deutschen nicht unbedingt feindlich ist und ihre Macht anerkennt. Sein Bruder Nechale hat allerdings einen Ueber- fall auf einen deutschen Posten gemacht, und wird dafür bestraft werden; er ist aber schon lange als eine exzentrische Natur bekannt, der auf die große Masse der Ovambo keinen Einfluß hat. Die Festsetzung deutscher Macht im Ovambo- lande ist vor allem deshalb notwendig, weil im Grenz gebiete allerhand Ueberfälle mit Ermordung und Be raubungen von Weißen vorkamen. Betschuanen, Koranna u. a. machten das Land unsicher. Dort namentlich, wo deutsches, englisches und portugiesisches Gebiet zusammenstoßen, werden einige feste Plätze mit ständigen Besatzungen errichtet werden müssen. Ob daraus eine Erhebung der Ovambo und ein allgemeiner Kampf mit ihnen entsteht, muß sehr bezweifelt werden. Bei dem Festsetzen im Ovambolande liegt die Hauptgefahr darin, daß dort tropisches Klima herrscht und die Malaria zu Hause ist. Als 1897 wegen der Rinderpest dahin eine Truppe gesandt wurde, starben einige Leute an der Malaria. Für Ovamboland müßte eine Eingeborenen truppe gebildet werden. Ver angebliche Rücktritt Lentrvein». Entgegen den Gerüchten von einem Rücktritt des Gouverneurs Leutwein erfährt der „B. B.-C.", daß unter den gegenwärtigen Verhältnissen ein Personenwechsel auf dem Gouverneurposten nicht bevorstehe. Die dies bezüglichen Nachrichten seien, soweit sie den Oberst Leutwein betreffen, mindestens verfrüht, und die Frage nach seinem Nachfolger keineswegs aktuell. Daher fei auch die Person des Herrn v. Lindeqnist nur eine naheliegende Kombination. Auch dem „Reichsboten" erscheinen die Meldungen, daß Leutwein demnächst zurücklreten werde, mindestens verfrüht. Soviel sei ja sicher, daß Leutwein kaum noch lange auf feinem Posten bleiben werde, aber so lange die gegen wärtige Krisis in Südwestafrika dauere, werde man ihn nicht entbehren können. Daß er als Soldat keinen Fehler be gangen habe, werde jetzt auch an maßgebender Stelle aner kannt, und so liege eigentlich für Lentwein kein Grund vor, seinen Abschied zu wünschen. Die Nachrichten über das Ge fängniswesen würden freilich, wenn sie wahr seien, recht Unangenehm für sein Ansehen werden. Der rurrirch.japanirede Krieg. Friebcna«»fichten. Ein hervorragender russischer Staatsmann hat an den Herausgeber der „Dtsch. Revue" einen Brief ge richtet, der uns vom Verlage dieser Zeitschrift zur Ver- fügung gestellt ist und einige sehr bemerkenswerte Stellen enthält. Er zeigt tue Entschlossenheit der leitenden Kreise Rußlands, den Krieg bis aufs äußerste fortzusctzen und den Gegner uni jeden Preis niederzu werfen. Ob Rußland dies gelingen wird, ist freilich eine andere Frage. Auch sonst weist dass Schreiben eine Reihe neuer Gedankengänge auf, die mit der kühlen Auffassung, wie sie bei uns, einem nicht am Kriege be teiligten Volke herrscht, allerdings nicht vereinbar sind. Wir geben gleichwohl einige besonders charakteristische Stellen aus dem Briefe wieder. Es heißt darin u. a.: Die ganze Welt weiß, daß Japan, nicht Rußland, den jetzigen Krieg vom Zaune gerissen hat. Aus dieser unwiderleglichen Tatsache folgt, daß, wenn Japan den Krieg angefangen hat, es ihn auch be endigen muß. Mit anderen Worten, Japan muß den Frieden wünschen und die ersten Schritte für seine Erreichung tun. Daß Rußland nicht zuerst Friedens anträge machen wird, das garantiert die ganze Ge schichte dieses Landes, und dafür steht seine Ver- gangenheit wie seine Zukunft. (Diese „Logik" ist schon falsch. Es ist durchaus nicht gesagt, daß stets der Friedensbrecher auch den Frieden wieder herbei führen muß, sondern um Frieden sucht nach, wer ein weiteres Ringen für zwecklos hält. Das braucht aber nicht immer der Angreifer zu sein. Aus diesem Grunde paßt auch der folgende Vergleich mit dem deutsch-französischen Kriege nicht. Red. d. L. T.) Ebenso wie Deutschland, 1870 von Frankreich an- gegriffen, von ihm die ersten Schritte zur Wiederher stellung das Friedens erwartete, so wird auch Ruß land im jetzigen Kriege bis zu dem Momente kämpfen, wo sein Feind um Frieden bitten wird. Sie können es mir glauben, wenn ich Ihnen absolut be stimmt versichere, daß Sie in Rußland unter 140 Millionen nicht einen Andersgläubigen finden werden. Diese unumstößliche, allgemein vorherrschende Ueberzeugung in allen Schichten der Bevölkerung, vom Throne bis zur Hütte, wird Ihnen erklären Feuilleton. si „Durchyerungen." Roman von JosephineSiebe. Nachdruck Verbote«. 3. Kapitel. Nun war er fort! — Elisabeth Ekkardt meinte, ihr müsse das Herz brechen, als ihr Vater Abschied genommen und sie nun so ganz allein in der fremden Stadt stand. Tränenumflorten Auges sah sie dem Zuge nach, der sich wie eine dicke, unförinige Schlange aus dem Bahnhof wand und bald ihren Blicken entschwunden war. Ta stand sie allein, und an ihr Ohr klang das Brausen des Großstadtlebens, wie das Tosen der heimischen Weichsel, wenn sie im Frühling die Eisschollen treibt. — Aengstlich verfolgte Elisabeth denselben Weg zurück, den sie herge kommen, um ja nicht die Straße zu verfehlen, in der ihre Pension lag, sie kam sich so verlassen vor, wie noch zu keiner Stunde ihres Lebens. — Hier an dieser Straßen ecke war sie vorbeigegangen, dort an jenem großen Fabrikgebäude ebenfalls, und nun mußte sie da einbiegen, nein dort da stand sie plötzlich in einer Straße, die ihr völlig fremd schien, sie ging wieder zurück, fand aber nicht mehr die Merkmale ihres WegeS, zuletzt ging sie tapfer weiter, immer weiter, und immer fremder wurden ihr die Straßen, und schließlich wußte sie nicht aus, nicht ein in diesem Labyrinthe. Sie blieb stehen. So hülfloS, so verlassen kam sie sich vor und langsam rollten ihr die Tränen aus den Augen, wohin nur, wohin? „Na Madamchen, warum heulen Sie denn?" Elisabeth sab erschrocken um sich und sah in daS un endlich gutmütige Gesicht eines ältlichen Mannes. So viel Frau Marie Ekkardt ihre Tochter auch vor den Gs- fahren der großen Stadt gewarnt, diesem weißhaarigen Mann gegenüber, mit den freundlichen Zwtnkeraugen in dem roten Gesicht, hielten diese Warnungen nicht stand, und Elisabeth erzählte in ihrer Herzensnot, daß sie hier fremd sei und habe sich verirrt. „Jh du meine Güte, Fräuleinchen, da heulen Sie man nicht, ich renne n' Stückchen mit darum und helfe Ihnen auf die Beine." Und wirklich, der freundliche Helfer stapfte neben dem Mädchen her, und diese, froh in ihrer einsamen Ver lassenheit, jemanden gefunden zu haben, erzählte treu herzig, wer sie sei und waS sie in Leipzig wolle. „Eine von der Kunst, ach, was sind Sie glücklich", rief ihr Begleiter enthusiastisch aus, und nun begann er zu erzählen, und das Mädchen staunte, wie gut der alte Mann Bescheid wußte, er sprach von Musik, schwärmte für Richard Wagner und kramte eine solche Fülle be kannter Namen von Künstlern und ihren Werken vor ihr aus, daß sie ganz ehrfurchtsvoll auf den Alten sah. „Ja gucken Sie nur, ich bin auch einer von der Kunst, ich habe lange Jahre im Orchester die Flöte gespielt, jetzt habe ich'S schon etliche Jahre aufgeben müssen, ich kriegte ein böses Asthma, und da war's aus, ich mußte fort, so schwer es mir wurde. „Na, wie Gott will", sagt mein Riekchcn, meine Frau, man muß eben alles er tragen. Aber erzählen könnte ich Ihnen Bände voll, mein Vater selig war auch bei der Musik, auch Flötist, früher da war die Flöte ein viel vornehmeres Instru ment, ein königliches war es sogar, hat es doch der alte Fritz mit Vorliebe gespielt. Ja, was ich sagen wollte, mein Vater selig hat noch unter unserem Mendelssohn gespielt und nieme Mutter hat immer, als ich klein war, gesagt: „Der Sebastian wird noch mal ein großer Meister". Darum hat sie mich auch Sebastian genannt, Sebastian Müller heiß ich, Fräuleinchen, sehen Sie, meine Mutter war eine fromme Frau, und unserem alten Sebastian Bach seine Musik war für sic die aller- schonste, als kleinen Jungen hat sic mich schon init in unsere alte Thomaskirche genommen, und wenn da die Thomaner sangen, dann hat sie allemal gesagt: „Se bastian, wenn ich dich mal da oben als.Kantor sehen könnte, das wäre mein größtes Glück. Mein Riekchcn sagt, dazu hätte ich auch das Zeug, Wenins man nicht so kläglich gegangen wäre und ich schließlich meinen Gott gedankt hätte, im Orchester bescheiden die Flöte spielen zu können. Mein Enkelsohn, ja der Junge hat es von Anfang an besser gehabt, Riekchcn meint auch." Hier brach die Unterhaltung ab, denn Elisabeth ent deckte plötzlich, daß sie vor dem Hause standen, in dem sich die Pension Hermann befand, sicher hätte sie sonst noch mehr von der Mutter, von Riekchen, dem Enkelsohn und vielleicht noch von manch anderem erfahren, aber die Zeit drängte, da sie nicht gleich am ersten Tage die Tisch stunde versäumen wollte. Ter alte Mann sah ordentlich betrübt aus, als ihn: das Mädchen dankend die Hand hinstreckte, er war gerade mit seiner Rede so schön im Zug gewesen. „Nu nee, Fräuleinchen, wirklich da sind mir ja, danken wollen Sie mir? Lieber gar, für mich war das recht plaisierlich, aber, Fräuleinchen, nichts für ungut. Sie sind jung und hübsch, künftig gehen Sie lieber nicht mit dem ersten Besten, cs könnte mal übel ausfallen. Nu behüte Sic Gott, lernen Sie brav und halten Sie die liebe Musik allezeit in Ehren, „sie ist ein Stück Himmelsgnade,für uns Erdenkinder", so hat einmal ein alter Musikus' gesagt, Gott hab' ihn selig, er ruht schon lange draußen auf dem Johannisfriedhof." Der Alte drückte kräftig Elisabeths Hand und ging von dannen, das junge Mädchen sah ihm sinnend nach ihr hatte die schlichte freundliche Art wohlgetan und das gute AbschiedSwort nahm sie in ihrem Kerzen auf. Sic hatte gerade noch Zeit, ihre Toilette etwas in Orb- nung zu bringen, als sie zu Tisch gerufen wurde. Be fangen saß sie in dem fremden Kreise, diese Menschen ver- schicden.r Nationen, verschiedener Berufe kamen ihr so weit über ihr stehend vor, sic verstand nichts von den Dingen, über die jene sprachen, cs wurde über die Auf führung eines neuen Dramas gesprochen, und sie war in ihrem ganzen Leben noch nicht im Theater gewesen. Ihr gegenüber saßen zwei Amerikanerinnen, Schwe stern, von denen die eine Musik studierte, während die an dere Vorlesungen an der Universität hörte. Mary und Grace Gordon waren eckte Vertreterinnen des freien Amerikas, ungeniert, selbstbewußt, rücksichtslos in ihrem Auftreten, fehlte ihnen jede befangene mädchenhafte Scheu, aber sie waren klug, liebenswürdig hübsch, ele gant und imponierten Elisabeth gewaltig durch ihre ruhige Sicherheit. Ihnen gegenüber kam sie sich so plump, so unbeholfen vor, und beinahe erfreut blickte sie mitunter auf ein junges Mädchen, das dick, blond, rot- bäckig neben ihr saß und sie in ihrem Wesen etwas an einen Jagdhund erinnerte. — Grete Schulte war aus ihrer westfälischen Heimat nach Leipzig gekommen, um hier ein Jahr Bildung zu lernen, wie sie sagte, und weil ihr ländliches Vaterhaus ihr durch den Einzug einer Stiefmutter fremd geworden war. Ihre westfälische Ur wüchsigkeit hatte in den wenigen Wochen, oie sie in Leipzig weilte, noch nicht durch den internationalen Ton der Pension Hermann gelitten, ebenso wenig ihr guter westfälischer Appetit. Sie vertraute Elisabeth gleich an, daß sie zweimal monatlich von Hause eine Kiste bekäme, und zählte alle die kulinarischen Herrlichkeiten auf, dis diese enthielt, und Elisabeths Augen weiteten sich vor Staunen, wenn sie den Appetit bei Tisch und die Vorräte der Kiste zusammcnrechnctc. Neben ihr auf der anderen Seite saß eine Russin, die man ihr als Uv. Vera Strogonow vorgestellt hatte. Da Elisabeth schon einige Male von ihrer Heimat aus die kurze Fahrt nach Rußland hinüber unternommen hatte, so war sie der Aerztin gegenüber nicht ganz so befangen und ging auf eine Unterhaltung mit ihr ein. Nv. Vera Strogonow war entschieden häßlich, das dunkle Haar war kurz geschnitten und aus der niedrigen Stirn gestrichen, die stark hervortretcnden Backenknochen,
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