02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 06.08.1904
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1904-08-06
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19040806026
- PURL
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- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1904080602
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1904
- Monat1904-08
- Tag1904-08-06
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Anzetgen-PretS die 6gespaltene Petitzeile 25 Reklamen unter dem Redaktionsstrich (4 gespalten) 75 nach den Familiennach- richtrn ltt gespalten) 50 Tabellarischer und Zissrrnsatz entsprechend höher. — Gebühren für Nachweisungen und Offertenannahme 25 /H. Anuahmeschlutz für Anzeigen: Abend-Ausgabe: vormittags 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: nachmittags 4 Uhr. Extra-Beilagen (gefalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbesörderung 60.—, mit Postbeförderung 70.—. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richten. Tie Expedition ist wochentags ununterbrochen geöffnet von früh 8 bis abends 7 Uhr. Truck und Verlag von E. Polz in Leipzig (Inh. vr. V.,R. L W. Klinkhardt). 88. Jahrgang. Var Wichtigste vom rage. * Eine abermalige Novelle zur Gewerbeordnung wird gegenwärtig vorbereitet. (S. Pol. Tagesschau.) * Der auf der MoSkau- Kursker Bahn verhaftete angebliche Japaner wies sich als Koreaner aus. Da ihm keine Vergeben zur Last gelegt werden konnten, wurde er auf freien Fuß gesetzt. * Aus Eriwan in russ. Armenien wird gemeldet, daß im Dorfe Jgdyr der Kreischef von Surmalin, Oberst leutnant von Boguslawski durch einen Schuß getötet worden sei. Der Täter sei noch nicht ermittelt. Vie Luirunlt cle; Larirmur. In einem Artikel über die Ermordung des Ministers vonPlehwe lesen wir in der „Bres lauer Zeitung" folgendes: „Es harren deshalb Rußlands große Diirge; die Kata strophe des Zarismus ist unvermeidlich. Och eine Reform» xolirik jetzt noch imstande wäre, die Bewegung in friedliche Sahnen zu lenken, erscheint problematisch. Denn ebenso plau sibel ist die entgegengesetzte Annahme, daß Zugeständnisse der Regierung der Bewegung erst Entwicklungsfrcihcit verleihen werden. Unter allen Umständen ist der Zarismus in den tiefsten Gegensatz mit allen politischen Interessen und morali schen Ueberzeugungen der russischen Nation geraten, so daß er überwunden werden muß. Die westeuropäischen Kulturvölker und Fortschrittsparteien dürfen aber den Zusammensturz des Zarismus nur noch begrüßen, denn dieser ist eine kulturwidrige, gemeingefährliche, die Entwickelung der Völker und den Welt frieden bedrohende Macht geworden, weil er jeden sittlichen Vchalres bar ist." Wir halten es für notwendig, gegen die in diesen Zeilen ausgesprochene Auffassung zu protestieren, und zwar vor allem deswegen, weil die „Breslauer Zeitung" mit dieser Ansicht keineswegs allein steht; vielmehr hat sich unter dem Eindruck der russischen Niederlagen und bei Betrachtung des revolutionären Wetterleuchtens, das den östlichen Himmel durchzuckt, fast in der ganzen deutschen Preise die Ansicht geltend gemacht, daß Rußland am Vorabend großer Ereignisse, tiefgreifender Umwälzungen stehe. Handelte es sich hier nur um eine akademische Erörterung, so wäre es vielleicht überflüssig, ausdrück lich gegen eine solche Ansicht Stellung zu nehmen, der man ja nach all den Vorgängen der neuesten Zeit eine ge wisse Berechtigung nicht absprechen kann. Es handelt sich aber um mehr als das. Wenn die gesamte öffentliche Meinung Deutschlands mit der unserer Ansicht nach irrigen Auffassung dnrchdringt, daß bei unserem östlichen Nachbarn der große „Kladderadatsch" unmittelbar bevor stehe, so muß dies auf unsere Politik und auf die Be ziehungen beider Länder zurückwirken. Wir glauben, daß der Gang der geschichtlichen Entwicklung weit eher im Tempo des berganklimmenden Wanderers als in dem des Automobils erfolgt. Tie geschichtliche Entwicklung vollzieht sich weit langsamer, als unsere Ungeduld zu glauben geneigt ist; ganz besonders aber gilt dies von Rußland, dem Lande der schier unendlichen Entfernungen, das räumlich und zeitlich mit ungeheueren Strecken rech net. Wir bezweifeln, daß trotz aller Attentate und trotz aller lokalen Putsche die nächsten Jahre eine Revolution in Rußland herbeiführen werden und am allerwenigsten glauben wir an eine „Katastrophe des Zarismus". Die Niederlage Rußlands im Kriege mit Japan ist noch immer nicht entschieden. Vortreffliche Kenner wie General von Hanneken, gebildete Militärs wie Hauptmann Tanera halten noch immer bei aller Anerkennung der japanischen Leistungen Rußlands endlichen Sieg für unausbleiblich. Wie Tolstoi in „Krieg und Frieden" den passiven Wider stand Suwarows über Napoleons dämonisches Genie siegen läßt, so wird vielleicht anch Kuropatkins Zauder taktik des Gegners Herr werden, weil zwei unbesiegbare Bundesgenossen ihm zur Seite stehen: Der Raum und die Zeit. Nach einem im Resultat nur einigermaßen er folgreichen Kriege aber wird Rußlands Prestige wieder ebenso rasch wachsen, wie es jetzt rasch geschwunden ist. Die Völker Europas werden sich dann plötzlich darauf be sinnen, daß Rußland ihre heiligsten Güter gewahrt habe und sie werden den zahlungsfähigen Kunden mit Be flissenheit umwerben. Die Regierung wird im Inneren wieder erstarken und das siegreiche Heer ist durch seine Er folge nur fester in sich zusammengeschlossen, agitatorischen Strömungen noch weniger als bisher zugänglich und eine Waffe gegen den inneren Feind. Die Regierung ist noch auf Jahre hinaus im stände, jede Erhebung niedcrzu- werfen und furchtbar zu strafen. Vor der Hand erscheint es uns also sehr verfrüht, von einer Katastrophe des Zarismus zu reden. Wir Deutsche haben jedenfalls nur ein Interesse, nämlich dies: gute Beziehungen zu Rußland aufrecht zu erhalten, soweit es mit unserer Würde als Nation vereinbar ist. Wir brauchen Rußland nicht in aufdringlicher Liebedienerei Bütteldienste zu leisteu, wir sollten uns aber auch ver- sagen, dem Zarismus jeden „sittlichen Gehalt" abzu sprechen. So in Bausch und Bogen über den Wert einer Dynastie zu urteilen, ist überhaupt vermessen und dec Ausländer findet für eine derartige Beurteilung beson ders schwer den richtigen Standpunkt. Es ist noch nicht lange her, daß Zar Nikolaus sein Friedensmanifest er ließ, das von allen guten Seelen Europas gerade wegen seines sittlichen Gehaltes in den Himmel erhoben wurde. In Rußland selbst wird unserer Meinung nach nur eine kleine Minorität unter den Gebildeten der Ansicht sein, daß der Zarismus überwunden werden, daß er Zusam menstürzen müsse. Im Interesse Deutschlands liegt ein solcher Zusammensturz in keinem Falle. Was wir wün schen können, ist nur dies: daß es gelinge, in Rußland eine im Tempo allmähliche, aber im Prinzip entschlossene Reform anzubahnen, die dem Zarenreiche eine friedliche Entwicklung verbürgt und uns die Aufrechterhaltung guter Beziehungen erleichtert, die jetzt bisweilen durch dte reaktionären Maßnahmen der russischen Negierung in sofern gefährdet wird, als natürlich die Sympathien des westlichen Europa sich mehr und mehr von einem Regime abwenden, daß den Forderungen der Zeit in so starrer Hülflosigkeit gegenübersteht. politische Lsgrsschau. Leipzig, 6. August. Zwiespalt innerhalb der Sozialdemokratie. Wie bei den Resolutionen, die in sozialdemokratischen Versammlungen für den B r e m e r P a r t e it a g gefaßt werden, ein vollständiger Zwiespalt obwaltet, so herrscht dieser selbe Zwiespalt auch bei den Resolutionen für den Internationalen Am st erdamerKongreß. Zu gleicher Zeit tagten in Berlin zwei große sozialdemo kratische Versammlungen, die sich mit der Frage der Mai- feier und mit der Vertretung dieser Frage auf dem Amsterdamer Kongreß beschäftigten. In der einen, von 3000 Personen besuchten Versammlung wurde ein- st i m m i g beschlossen, daß am 1. Mai eines jeden Jahres die Arbeit zu ruh en habe. Hier hält man also die bedingungslose Durchführung der Maifeier für angebracht. In der zweiten Versammlung wurde eine Resolution angenommen, daß am 1. Mai für den Acht stundentag und andere Forderungen der Sozialdemo kratie demonstriert werde und daß die Arbeitsruhe als würdigste Form dieser Demonstration anzusehen sei; sie solle indessen nur überall dort stattfinden, wo es ohne Schädigung der Arbeiterinteressen mög lich sei. In beiden Versammlungen wurden die nach Amsterdam zu sendenden Delegierten beauftragt, im Sinne der betreffenden Resolution zu wirken und zu sprechen. Man braucht kaum auf den fundamentalen Unterschied zwischen beiden Resolutionen hinzuweisen: Tie eine wirft den Arbeitgebern den Fehdehandschuh hin, gegen die andere kann man auch in den bürgerlichen Kreisen kaum etwas einwenden. Der vorjährige Zank in Dresden hat ja schon ein recht erbauliches Schauspiel ab- gegeben, wenn aber gar erst Delegierte der deutschen Reichshauptstadt bei einem internationalen Kongresse in fremdem Lande einander in die Haare geraten sollten, so würde man im Auslande einen rechten Respekt vor der „Brüderlichkeit" der deutschen Sozialdemokratie bekom men. Ein weiterer Beweis des Zwiespalts in der Sozial- demokratie ist es auch, daß die Versammlung, in der die „schneidige" Resolution angenommen wurde, derart scharfe Angriffe gegen die sozialdemokratische Partei leitung und selbst gegen Herrn Bebel gerichtet wurden, daß ein anwesender Anarchist dem Referenten die Ehre antat, ihnen seine allerhöchste Zufriedenheit auszu- sprechen. ——. So 'n bißchen Französisch ist doch wnnderschön. Die „Kreuzztg." gibt einer Berichtigung des Berliner Korrespondenten des „Figaro" Raum, in der sich Herr Bonnesou dagegen wehrt, unfreundliche tendenziöse Be richte über Deutschland an sein Blatt gesandt zu haben. Es ist natürlich nichts dagegen einzuwenden, daß Herrn Bonnefou Gelegenheit gegeben wird, sich zu rechtfertigen, aber einigermaßen eigentümlich muß es berühren, daß das Blatt mit dem eisernen Kreuz an der Spitze in französischer Sprache diese Berichtigung wiedergibt, weil Herr Bonnefou es so wünscht. Wenn der Korrespondent eines deutschen Blattes in Paris an den „Temps" oder den „Figaro" oder welches Blatt auch immer das Ersuchen richten würde, eine Berichtigung in deutscher Sprache aufzunehmen, so würde rhm das Blatt wahrscheinlich antworten, daß es dazu zwar nicht in der Lage, aber gern bereit wäre, ihm eine Frei stelle in Ehareton (dem Stötteritz von Paris) zu ver schaffen. Welche Notwendigkeit liegt denn für die Ver öffentlichung der Bonnefouschen Berichtigung in fran zösischer Sprache vor? Wir müssen annehmen, daß dieser Herr der deutschen Sprache durchaus mächtig ist, sonst wäre er ja als Berliner Korrespondent nicht zu brauchen, und wir müssen ebenso annehmen, daß auch die „Kreuzztg." nur von Leuten gelesen wird, die die deutsche Sprache beherrschen. Für Herrn Bonnefou kann also nur die Absicht maßgebend gewesen sein, zu zeigen, was ein Franzose alles bei einer deutschen Zeitung durchsetzen kann. Und weshalb willfahrte die „Kreuzztg." dem Wunsche? Nun, der schlaue Franzose schmuggelt in seine Bitte die Schmeichelei hinein „en vous cksinanckLnt 6s I'ünpriinsr en kranssis cksns la „Xrerw-Tslinns" cr n notrs InnFne sst inisnxooinpi'iss gu'aillsnrs." Tas heißt in ehrliches Deutsch übersetzt — Herr Bonnefou möge entschuldigen, aber wie sein ehrenwerter Lands- mann Riccaut oe la Marlinöre bei Lessing sagt „Die deutsche Sprak ist ein plomp Sprak" — „die Leser der anderen deutschen Zeitungen sind ja unwissende Leute, die Französisch nicht verstehen, aber bei den Kreuz zeitungslesern, da steckt die wahre Bildung." Ja, so 'n bißchen Französisch ist doch wunderschön — für eme solche Schmeichelei aus französischem Munde kann man ruhig eine Portion deutscher Selbstachtung daran geben. Tie Gewerbeordnung. ist seit der Wiedererrichtung des Deutschen Reiches mehr als ein dutzendmal Aenderungen, und mitunter recht einschneiden den und umfassenden, unterzogen worden. Trotzdem wird sie für die Zukunft kein unabänderliches Gesetz darstellen, sie wird vielmehr ihrer ganzen Natur nach von Zeit zu Zeit sich gewisse Umgestaltungen weiter gefallen lassen müssen, schon weil die in ihr behandelten verschiedenartigen gewerblichen Verhält nisse sich im Laufe der Zeit ändern, und diesen Aenderungen die Gesetzgebung ansiepaßt werden muß. Es ist deshalb auch völlig verkehrt, darüber zu spotten, daß die Gewerbeordnung verhältnismäßig oft Aenderungen und Ergänzungen erfahren hat. Auch gegenwärtig ist eine Novelle zur Gewerbeordnung in Arbeit. Die betreffenden Vorbereitungen dazu sind schon vor längerer Zeit in Angriff genommen. Veranlassung dazu gaben namentlich die Ver hältnisse bei der Zulassung zu Gastwirtschaften. Indessen sind auch andere Fragen bei einem Ausbau der Gewerbe ordnung in Erwägung zu ziehen. So die, ob Arbeiter, die gegen iyre Mitarbeiter tätlich geworden sind, sofort entlasten werden können. Bekanntlich ist die Forderung einer Er gänzung der Gewerbeordnung in der angedeuteten Richtung von verschiedenen Seiten erhoben worden. Im Laufe einiger Jahre sammelt sich überhaupt für eine Novelle zur Gewerbe ordnung recht mannigfaltiger Stoff an, der seiner Erledigung bei den verschiedensten Stellen des Gesetzes harrt. Ob jedoch die Arbeiten auf diesem Gebiete sich so werden gestalten lassen, daß schon in dem nächsten Tagungsabschnitte dem Reichstage ein entsprechender Gesetzentwurf wird unter breitet werden können, steht dahin, ebenso wie es nicht ge wiß ist, ob nicht, selbst wenn die Gewerbeordnungsnovelle fertig würde, der dringlichere Gesetzgebungsstoff schon so Feuilleton. Der Fall Lelotli. Roman von Woldemar Urban. Nachdruck verboten. Die öffentliche Meinung hatte sich also wieder beruhigt und der „Fall Belotti" war vollständig aus und zu Ende. Es fehlte sogar nicht an einem kleinen tragikomischen Nachspiel. Als nämlich Frau Doktor Villenc^rve an: näch sten Frühmarkt ihre kleinen Küchenbedürfnisse des Tages einkauste, fand sie aus leicht begreiflichen Gründen alles zu teuer. „Was?" entrüstete sie sich gegenüber einer Gemüse- bökcriu, „acht Sous für die Paar Artischocken? Tas kann ich nicht bezahlen, so lange ich nicht mein Geld vorn Herrn Belotti erhalte." „Ach, meine liebe Madame", erwiderte die Hökerin, Herr Belotti ist tot und zahlt in dieser Welt nichts mehr." „Ter tot?! Er denkt nicht dran! fuhr Frau Toktor Villeneuve redselig fort. Solche Geschichten kennen wir. Nichts als lauter Schwindel. Ta war eine Frau in Per pignan, deren Mann wanderte aus nach Südamerika und starb dort am Fieber. Nach drei Jahren heiratete dis Frau wieder und als sie kaum sechs Wochen mit ihrem zweiten Mann zusammen lebte, kam ihr erster zurück und sie hatte nun zwei. Er war eben nicht am gelben Fieber gestorben. Es war alles Schwindel und die Frau wurde bestraft, weil sie gesagt hatte, ihr erster Manu sei tot. Alles Schwindel. Der tot? Ha, er denkt nicht dran!" Die Leute amüsierten sich über die Frau Toktor Ville- neuve. Man kannte sie ja wohl, und alle wußten, daß sie nicht recht richtig im Kopfe war. Aber gleichwohl hörten die Hökerinnen und wer sonst noch dabei tvar, gern, wenn die alte Tarne so querfeldein, init immer sprungbereiter Phantasie und ohne jeden Zusammenhang und Verstand schwatzte. Hatte man nicht den toten Belotti auf dem Kai Voltaire liegen sehen? Hatte ihn die Polizei nicht rekog nosziert? War er nicht begraben und eingesegnet dazu? Wie kam denn die Frau Toktor Villeneuve dazu, zu be haupten, er sei nicht tot? Aber man ließ sie schwatzen, weil man wußte, daß sie nicht recht richtig im Kopfe war. „Ta war ein kleines Kind, ich weiß nicht wo und wann, aber es war noch ein ganz kleines Kind von sechs Tagen, das noch nicht einmal ein ordentlicher Mensch war " begann die redselige Frau Doktor Villeneuve wieder von neuem, als sie von Saintinc unter brochen wurde, die dabei stand, und der solche Scenen un- säglich peinlich waren, weil sie immer glaubte, man mache sich über ihre arme alte Mama lustig. „Komm, Mama, sagte Saintinc, wir wollen weiter. Nein, sage nichts mehr und komm. Was hat das alles mit den teuren Artischocken zu tun?" „Nun, meinetwegen, niein Kind, erwiderte ihre Mutter im Weitergehen, so komm. Aber die Geschichte von dem kleinen Kinde von sechs Tagen " „Aber Mama, es interessiert sich ja niemand für die Geschichte von dem kleinen Kind. Es gehört nicht zur Sache. Niemand will davon wissen. Bitte, beruhige dich, liebe Mama." „Nun gut Ich sage nichts mehr. Wozu auch? Die Welt ist ja doch verrückt und die Menschen dazu. Komm, mein Kind. Ich sage kein Wort mehr." Immerhin war die Behauptung der Frau Toktor Villeneuve, daß sie nicht an den Tod des Herrn Belotti glaube, so auffallend, so sehr mit den Tatsachen und Fest- stellnngen im Widerspruch, daß Saintinc ihrem Bräuti. gam davon erzählte und dieser wieder erzählte die Ge schichte weiter an Herrn Lejeune. Ter Rechtsanwalt saß gerade an seinem Arbeitstisch, hatte eine Unmenge Sachen zu erledigen und war darüber etwas schlechter Laune. Nun kam auch noch die verrückte Geschichte der Madame Villeneuve. Einen Augenblick lang sah er über seinen Arbeitstisch hinweg, zum Fenster hinaus, dann sagte er wohlmeinend und erfahren: „Mein lieber Meunier, Sie sollten doch daran denken, daß für die arme Fran Toktor Villeneuve einmal etwas Ordentliches getan wird. Es kann ja sein, daß ihre Wahnvorstellungen harmloser Natur sind, aber man kann nie wissen, was aus solchen nervösen Zuständen sich ent wickelt. Sie sollten doch bei Zeiten einmal etwas für die arme Frau tun." Damit war die Angelegenheit für Herrn Lejeune er ledigt und er wandte sich mit erhöhtem Eifer seinen Ob liegenheiten zu. Es dauerte aber gar nicht lange, so wurde er wieder gestört. „8aer6 nom ck'un uom cl'uv vom, cl'uv nona, was ist denn schon wieder los", fuhr er etwas nervös auf. Bescheiden, die Mütze in der Hand, wie es einem armen Familienvater mit sieben Kindern ratsam ist, trat Herr Sellier vor den Massenverwalter hin. Er erschrak, als ihn dieser so barsch anfuhr, und die paar Worte, die er sich vielleicht mit großer Mühe für den Augenblick aus gedacht, verflogen rasch wieder. Nur ein kurzes, verlege- ned: „Monsieur" kam aus dem Gehege seiner Zähne. Herr Lejeune sah ihn ungeduldig an. „Sie sind der Portier aus dem Hause der Belottischen Bank?" fragte er rasch. Herr Sellier bejahte. „Nun also vorwärts. Was wollen Sie? Ich habe nicht so viel Zeit wie Sie. Zulage kann ich ihnen, nicht bewilligen. Das hängt von der Gläubigerversammlung ab und Ihre zukünftige Stellung ist Sache des zukünf- tigen Besitzers des Hauses. Was also wollen Sie von mir?" „Ich wollte fragen, Herr Herr Konkursverwalter hier, hier ist es. Ich wollte fragen, Herr Herr — — Weiter kam Herr Sellier nicht, langte aber bei diesen Worten einen Geldbrief aus seiner Bluse und reichte ihn Herrn Lejeune hin. „Na, so geben Sie her. Was hilft die Stotterei! Was ist denn das?" fragte der Rechtsanwalt und besah das Couvert. „Das, das ist gekommen", sagte Herr Sellier. „So! An Sie?" „Ja." „Na, io seien Sie doch froh. Was geht das mich an? Dreihundert Francs! Die werden Sie doch wohl brauchen können?" Nun kam aber die schwierige Aufgabe für Herrn Sellier. Wenn er durch Redensarten hätte selig werden sollen, so konnte sich der Teufel auf seine Seele freuen. „Ich ich wollte fragen, Herr Herr Rechts- anwalt, ob ich das behalten darf", brachte er im Schweiße seines Angesichts endlich heraus. „Warum sollen Sie es denn nicht behalten dürfen?" „Es — es liegt ein Zettel darin." Nun machte sich Herr Lejeune erst daran, sich den Geldbrief, den er noch immer in der Hand hielt, ordent lich zu besehen. Es war ein großes Couvert, wie man es gewöhnlich zu Geldsendungen benutzt, mit fünf Siegeln auf der Rückseite und vorn die Adresse des Herrn Sellier. Der Brief war mit dreihundert Francs deklariert und diese Summe lag auch in drei Hundert-Francs-Billetten der Bangue de la France in dem Couvert. Daneben lag aber auch der fürchterliche Zettel, der Herrn Sellier solche Gewissensbisse gemacht. Auch diesen besah Herr Lejeune. Es war ein einfaches Stück Papier, vielleicht ein sog. Respektblatt, wie es sparsame Leute von ihren Briefen abreißen, wenn es unbeschrieben, um es als Notizenpapiec zu verwenden. Darauf stand in sehr undeutlichen und vielleicht absichtlich verzerrten Buchstaben: „Für die Zwillinge!" Darunter tvar noch ein Haken, ein Krikel- krakel, was alles Mögliche bedeuten konnte.
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