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Dresdner Journal : 31.12.1901
- Erscheinungsdatum
- 1901-12-31
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id480674442-190112316
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id480674442-19011231
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-480674442-19011231
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungDresdner Journal
- Jahr1901
- Monat1901-12
- Tag1901-12-31
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- Dresdner Journal : 31.12.1901
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< < r t > i " ' ' --' —- ^..255« Schon i« Borjahre hatten sich Erscheinungen be merkbar gemacht, aus denen man schließen konnte, daß der großartige wirtschaftliche Aufschwung feinen Höhepunkt überschritten hatte. Gleichwohl fuhren gewisse großfinanzielle Kreise fort, die Industrie durch Darbietung reichen Kredit» zu Betrieb-erweiterurgen und Neugründungen zu veranlassen. ES war kein Wunder, daß nach Fertigstellung dieser Erweiter ungen und nach deren Inbetriebsetzung Ueberproduk- tion eintrat, zumal der heimische Markt infolge der üblen Lage der Landwirtschaft und der wachsenden Wettbewerbs der ausländischen Industrie, die eben falls leistungsfähiger geworden war, erheblich an Aufnahmefähigkeit eingebüßt hatte. Verschärft wurde die Krisis noch durch verschiedene Bankbrüche, die von ungetreuen Leitern großer Aktienunternehm ungen verschuldet wurden, und die zu einem all gemeinen Mißtrauen der Kapitalisten führten, also auch da- reelle Unternehmertum in Mitleiden schaft zogen. E» wird nun Aufgabe der zuständigen Stellen sein, alle- aufzubieten, um die wirtschaftliche Krise zu überwinden. In erster Linie wrrd die Fertigstellung der Zolltarifresorm und der Abschluß neuer Handelsverträge auf deren Grundlage zu diesem Ziele führen. Bedauerlicherweise ist eS auch bei dieser wirtschaftlichen Kalamität die Ar beiterschaft, der die trüben Folgen am fühlbarsten werden. Von Staats und kommunalwegen sowie auch von Privaten wird indessen nichts versäumt, um den bedrängten Arbeitern Hilfe zu leisten. Er schwert wird diese- Werk aber wieder von der Sozialdemokratie, die nur ein Ziel kennt, nämlich diese-: die partielle Arbeitslosigkeit hetzerisch aus- zubeuten. Nur darum hat die sozialdemokratische Partei in verschiedenen Landtagen ArbeitSlosen- debatten provoziert und demonstrative Arbeitslosen versammlungen veranstaltet. In dem zu Ende gehenden Jahre hat der Tod unter hervorragenden Persönlichkeiten eine reiche Ernte gehalten. Schon in den ersten Januartagen entschlief Se. Königl. Hoheit der Großherzog Karl Alexander von Sachsen-Weimar; ihm folgten nach einigen Monaten zunächst Ihre Majestät die Königin von England und darauf Ihre Majestät die Kaiserin Friedrich, die erhabene Großmutter und Mutter Sr. Majestät des Kaisers. An weiteren schweren Verlusten sei der Heimgang des dritten Reichs kanzlers Fürsten zu Hohenlohe und der des hoch verdienten preußischen Finanzministers vr. v. Miquel verzeichnet. Die Ermordung des Präsidenten der nordamerikanischen Union Mac Kinley durch einen Anarchisten warf seine Schatten bis in unser Land, zumal auch das Leben Sr. Majestät des Kaisers in Bremen durch das Attentat eines Geisteskranken in schwerer Ge fahr war. So ist das zu Ende gehende Jahr reich an Sorgen und Trübsal gewesen; allein darum soll und darf die Zuversicht auf eine günstige Ent wickelung unserer Zustände, sowie der Entschluß eines jeden, das Seinige zu thun, um den unserem Baterlande drohenden Gefahren abzuwehren, nicht erschüttert werden. Bleibt in unserem Volke der alte innige Glaube, die alte deutsche Treue, die unverbrüchliche monarchische Gesinnung rege, so wird eS in aller Zukunft mit Gottes Hilfe den Gefahren durch innere und äußere Feinde zu trotzen ver mögen. Die auswärtige Politik des Jahres 1901. Die durch die Landesteile China und Südafrika näher bezeichneten Ereignisse, die dem Jahre 1900 kriegerisches Gepräge gegeben hatten, zogen ihre Spuren weiter in den Zeitraum, an dessen Schlüsse wir heute stehen. Konnten wir aber in unserer vorigen Jahresbetrachtung betonen, daß der erste Schritt zum Frieden in Ostasien geschehen sei, so sahen wir, wie das Jahr 1901 mit verstärkten Friedenserwägungen betreffs der chinesischen Wirren begann, wie die Bemühungen der in Peking thätigen Diplomaten, bei denen Deutschland mit seinem aufrichtigen Friedenswunsche in erster Reihe stand, mehr und mehr sich zu greifbaren Ergebnissen verdichteten, wie zwar der Schwierigkeiten mancherlei erstanden, eine besonnene Politik jedoch der Hinder. nisse allmählich Herr wurde. Die deutsche Politik verließ hierbei die Bahnen nicht, die der Reichs kanzler Graf v. Bülow in seiner ReichStagSrede vom 15. März klar gezeichnet hatte; und das Bestreben Deutschlands, eS im Konzert der in Peking ver tretenen Mächte zu keiner Störung kommeu zu lassen, wenn ander- nicht die Herbeiführung des Frieden»- zustandtS ins Ungewisse hinauSgeschoben werden sollte, sah sich erfolgreich. Im Mai erkannte China seine Schuldnerschaft für die von den Mächten berechnete Gesamtsumme der Entschädigung an, und nach einem Sommer eifriger und mühe voller Verhandlungen konnte die Unterzeichnung des Pekinger Protokolls geschehen, dessen amtliche Ver öffentlichung um Mitte Oktober erfolgte. Inzwischen war auch mit dem Erscheinen des Prinzen Tschun am Kaiserlichen Hoslager der von uns geforderte Sühneakt für den Mord des deutschen Gesandten in Peking vollzogen worden. Jedenfalls dürfen wir heute feststellen, daß die Gesamtentwickelung der ostasiatischen Angelegenheiten während des Jahres 1901 unsere an dieser Stelle zum Ausdrucke gekommene Betrachtungsweise durch aus gerechtfertigt hat. Wir sind immer von einem gemäßigten Optimismus ausgegangen und haben unS nicht durch die zahllosen düsteren und sensationellen Meldungen beirren lassen, die im Verlaufe der Be gebenheiten immer wieder aus trüben Quellen auf tauchten. Keine dieser mehr oder minder böswilligen Tendenznachrichten traf zu, und die Elemente, die ihren Gewinn von der Zwietracht der in Peking vertretenen Mächte erhofften, fanden sich stets von neuem mattgesetzt. Insbesondere mochte das Trachten dieser Kreise dahin gehen, Feindschaft zwischen D utschland und Rußland zu stiften, wozu als Schwungbrett mit Vorliebe die Mandschurei benutzt wurde. Aber unsere Beziehungen zu Rußland sind durch den Gang der chinesischen Ereignisse nicht nur nicht verschlechtert worden, sondern wir befinden uns am Jahresschlüsse in einem Verhältnisse zum Zaren reiche, das vielleicht noch um etliche Nuancen wärmer und freundschaftlicher ist, als zu Beginn des Cyina- feldzugeS. Die deutsche Politik hat ein solches Ver hältnis während des ganzen Verlaufes der ost asiatischen Dinge bewußt angestrebt und die er wünschte Frucht erreicht. Jedes Mißtrauen Ruß lands in die deutsche Politik, das zu nähren unsere allzeit geschäftigen Feinde nicht aufhörten, schwand dahin; und das russische Einschwenken nach der deutschen Seite hin war als vollendet anzusehen, wo feststand, daß Deutschland in der Mandschurei keine besonderen Interessen sucht, daß wir an der mandschurischen Frage ganz unbeteiligt sind. Je mehr unsere An näherung an Rußland klar ward, um so weniger fehlte eS an Vorwürfen, daß wir gegenüber England eine Politik der Unaufrichtigkeit und Doppelzüngigkeit spielten. Sofern indessen auch die englischen Staats männer diese von den Londoner Preßbureaus ver breitete Anschauung hegten, wurde sie durch die Ge schehnisse Schritt um Schritt zerstreut. Es kam als Rechtfertigung für die Loyalität der Haltung Deutschlands in Ostasien das Nangtse-Abkommen mit England zu stände. Die leitenden Stellen Eng lands wurden, wie sich aus den Erklärungen der britischen Diplomaten ergab, davon überzeugt, daß der deutsche Reichskanzler in London oder Peking niemals etwas vorgespiegelt habe, woraus geschlossen werden könnte, daß Deutschland in Ostasien für britische Interessen zu haben sei. Mithin mußte auch der Vorwurf in sich zusammenfallen, als ob ein Näherrücken Deutschlands nach Rußland hin etwa ein Verletzen deutscher Versprechungen, noch gar deutscher Verpflichtungen gegenüber England be deutete. Die Teilnahme des deutschen ReichkoberhaupteS und weiter Kreise Deutschlands an den Geschicken Englands hatte dieser Reich Gelegenheit zu er kennen, als im Januar der Tod die greise und edle Königin Viktoria dahinraffle. Durch dieses schmerzliche Ereignis sah sich Großbritannien der jenigen hochragenden Persönlichkeit beraubt, in der sich der Gedanke des modernen England auf da» vollkommenste und leuchtendste verkörpert hatte. Ein Gefühl der Verwaisung ergriff da» britische Volk, von dem eS sich heute noch nicht recht hat befreien können, zumal der südafrikanische Krieg am Ende wie am Anfang de» Jahre» seine blutige Spur weitcrfurcht und die Londoner Staatsmänner kein Mittel finden, um das Unheil zu beschwören. Die Staat?kunst weder Salisburys noch Chamberlains ist im stände gewesen, die Lücke füllen zu helfen, die der Engländer scit dem Heim gang der Königin Viktoria empfindet. Zwar erschien gegen Ende deS JahreS Lord Rosebery auf dem politischen Plan, um sich selbst als den Mann zu empfehlen, der das Haupt des britischen Löwen wieder zur altgewohnten Kühnheit zu erheben ver möge; allein sein Ruf hat nicht das erhoffte Echo in der englischen Nation gefunden. Noch steht die Nische leer, wo der Staatsmann Platz zu finden hat, der berufen sein soll, England aus seinen gegen wärtigen Schwierigkeiten herauszuführen. Der Krieg in Südafrika, der da» ganze Jahr hindurch ein un ablässige» Auf und Ab darstellte, ist jedenfalls nicht als eine solche Schwierigkeit aufzufassen, die eine besondere Partei oder neue Parteigruppierung im Handumdrehen beseitigen könnte. Und auch kein verständiger Engländer, ob Tory oder Whig, ob Konservativer oder Liberaler, denkt daran, den Krieg zu einer Parteisache zu machen. Wie die Dinge sich im Laufe des JahreS gestaltet haben, so mag es den britischen Streitkräften langsam gelingen, die zerstreut kämpfenden Burenkommandos eins nach dem andern zu vernichten. Noch aber scheint man diesem Ziele fern. Das Blockhaus- und Drahtzaun system dürfte zwar die burischen Bewegungen hie und da gehemmt, aber sicher nicht völlig gelähmt oder gar beseitigt haben. Immer wieder gelingt es einer Burenabteilung, den englischen Streitkräften mehr oder minder empfindliche Niederlagen bei- zubringen; und das Weihnachtsfest hat den britischen Waffen eine besonders peinliche Schlappe gebracht. So geht der Krieg in das neue Jahr hinüber, wie ihn das alte empfing, und nicht minder unverändert bleibt der durch die strenge Neutralität der Groß mächte gekennzeichnete diplomatische Stand der süd afrikanischen Angelegenheit. Hat nun unsere Aufmerksamkeit Europa im engeren zu gelten, so sehen wir an der Jahres wende, daß die Bemühungen der geschworenen Feinde Deutschlands und damit des Friedens auf dem alten Erdteil das Deutsche Reich um jeden Preis zu schädigen, es aus allen Verbindungen loSzureißen und in seiner Vereinsamung den Anfang vom Ende Germaniens zu schaffen, sich wie ein roter Faden durch die politischen Konstellationen des Jahres ziehen. Aber immer wieder erweist sich die Wühlarbeit als fruchtlos. Bewährte Bündnisse stehen unerschüttert, und der Dreibund beweist durch etwelche unzweideutige Kundgebungen, sei eS, daß diese in Freundschaftsaustauschen der Monarchen, sei cs, daß sie in großzügigen Reden der leitenden auswärtigen Minister zu Wien, Pest und Rom be- steden, daß er der nicht wankende Hort des euro- pälschcn Friedens bleibt. Ist die Trennung Oester reich-Ungarns von Deutschland in erster Reihe für das tschechische Slawentum und sür den im preußi schen Osten wie in Rußland und Galizien wühlen den Polonismus das Ziel „aufs innigste zu wün schen", so vernehmen wir aus der Pariser Publi zistik die Klänge des Werbens um Italien. Die letzte Weise wird gewissermaßen zu einem politischen Leitmotiv des ganzen Jahres. Bald stärker, bald schwächer, meist aber im auffallenden Forte, als der Be such des italienischen Geschwader- in Toulon in Sicht steht. Zwar halten sich die Feste von Tou lon eng im Rahmen von HöflichkeitSakten, und der italienische Geschwaderchef Herzog Thomas von Genua beobachtete in seinen Aeußerungen sehr ge nau die Grenzlinie zwischen Herzlichkeit und Artig keit, zwischen politischem und ceremoniellem Handeln. Alles indessen hindert die Politiker an der Seine nicht, der „lateinischen Schwesternation" stets von neuem die Vorteile und Annehmlichkeiten der fran zösischen Umarmung zu Gemüt zu führen. Zuletzt hat man die bekannte Tripolis-Rede de» Hrn. Prinetti zu französischen Werten umgeprägt. Die Consulta in Rom ließ alsbald Verwahrungen da gegen laut werden, daß Prinetti dreibundfeindlich und franzosenfreundlich gesprochen hätte. Kein Mensch in Deutschland hatte eine Note letztgedachter Art aus den Pnuettischen Worten herau-gehört, we-halb eS sehr erwünscht gewesen wäre, wenn die offiziösen römischen Notizen ihre Spitzen deutlicher und schärfer, als eS in der That geschehen, nach Paris gerichtet hätten. Am Schluß deS Jahre» stellt sich die Rechnung immerhin so dar, daß die Ereignisse in allen Phasen hinter den Wünschen der Pariser Presse zurückgeblieben sind. Das italienische Volk, in einem langsamen wirtschaftlichen Hinauf be griffen, weiß in seinen besonnenen Teilen sehr wohl, daß französische Freundschaft — Geld kostet und daß Frankreich dasselbe Italien, daS eS heute liebevoll als „Schwester" anspricht, wie eine dienende Magd behandeln würde, wenn Italien einmal erst in fran zösischen Fesseln wäre. In dem inneren Haushalt der Zweibundes hat es die Festtage von Compiögne und Reim- gegeben, nachdem einige kleinere Unordnungen durch die Reifen des französischen GeneralstabSchefS und später des Ministers deS Auswärtigen, Delcassch nach St Petersburg offenbar zur Zufriedenheit de» russischen Verbündeten Frankreichs beglichen worden waren. Jedoch sind die Tage von Cvmpiögne und Reims denen von Danzig gefolgt. Sie vermochten nichts daran zu ändern, daß in der Danziger Bucht eine Bestätigung und Besiegelung der Freundschaft zwischen dem Zaren Nikolaus und Sr Majestät dem Kaiser stattfand, jenes von allem Mißtrauen freien guten deutsch-russischen Verhält nisses, das, wie wir oben angedeutet daben, seine glückliche Wirkung auch während des Verlaufs der Chinawirren äußerte. Die Frucht der Zarenfeste in Frankreich selbst ist jedenfalls nicht am Baume der Revanchelust gereift. Ter französische Chauvinismus, welcher Parteifarbe er auch sein mag, hat vielmehr erkennen müsfin, daß Zar Nikolaus von Rußland in keiner Weise für die Dienste der chauvinistischen Revanchards in Frankreich zu haben ist. Alle Kund gebungen von Compivgne und Reims blieben frei von Tönen, die dahin hätten gedeutet werden können, als ob der Zar eines Tages für eine Reoidierung de? Frankfurter Friedens eintreten würde. Der gestalt hat der diesjährige Zarenbesuch auf fran zösischem Boden eher eine Abkühlung der Revanche lust als die Erfüllung umgekehrter Hoffnungen gebracht. Die deutsche Politik nimmt hiervon gern Kenntnis, ohne darum ihre altgewohnte Wachsamkeit gegenüber dem westlichen Nachbar aufzugeben, noch einem vertrauensseligen Optimismus anheimzufallen. Friedfertige Meinungsäußerungen wie die des De putierten Massabuau haben wir gern gebucht, aber auch nicht die Veröffentlichung der Briefe de» Generale Voyron an den Grafen Walderfie vergessen und nicht die mancherlei Leistungen der Pariser öffentlichen Meinung übersehen, die jeden Anlaß ausnützten, der etwa eine dem Deutschen Reiche feindliche Mächtegruppierung in Europa herbeizu führen geeignet schien. Und nicht allein der in den Spalten der Zeit ungen gemachten Politik, sondern auch gewissen, so zusagen die Kriegsfackel schwingenden Handlungen gegenüber ist die allgemeineFriedensneigung in Europa Siegerin geblieben. Das zeigt sich vor allem an der Fahrt französischer Kriegsschiffe nach der Insel Mytilene, um den Sultan durch Kanonen und Schwertstreich zum Nachgeben in dem bekannten Kai-Streite zu zwingen. Diese Exkursion blieb ein Amoklaufen Frankreichs, bei dem eS die Unterstützung keiner anderen Macht fand, da die Kabinette wohl erkannten, wie leicht hier der allgemeine Kriegsbrand entfacht werden konnte. Kaum ankert Admiral Caillard vor Mytilene, als bereits die Ordre zur Rückkehr eintrifft, weil die Türkei mit dem gelassenen Worte: „Wozu der Lärm?" alsbald erllärt, die französischen Wünsche erfüllen zu wollen. Und etliche Wochen später erscheint Hr. Constans wieder am Goldenen Horn, um zu freundschaftlicher Zwiesprache Reiches erfreuen und unseren Platz an der Sonne haben, könnte doch wohl auch unsere musikalische Kunst den Glanz und die Wärme der letzteren aufsuchen. Statt dessen haben wir nach wie vor ein Abwenden von ge fühl-warmer Gläubigkeit, von gemüttinnigem Em pfinden, und die zeitgenössischen Produkte der Tonkunst in Kirche, Konzertsaal und Opernhaus verkünden zumeist alle» andere eher, al« da» Dank- und Freudegesühl, zu dem unser Volk nach seinen Errungenschaften wohl be rechtigt wäre Die verhängnisvolle Mitgift de» Romantizismus, die übertriebene Bewertung des Jchs, trägt jetzt ihre Früchte. Egoistisch einem persönlichen Glücke nach jagend, übersieht der neuzeitliche Künstler seine vor nehmste Aufgabe, in seinem Schaffen in zusammen- aedrängter Form ein Bild von dem Gesamtleben seine» Volke« oder seine» Zeitalter» zu geben. Von seinem Werte vollständig überzeugt, kommt e» ihm in erster Linie darauf an, anderen da» Ueberzeugtsein von dem letzteren zu suggerieren Kurz, die Anschauungen, die Wackenroder und Tieck im Jahre 1797 in ihren „HerzenSergießungen eine» kunstliebenden Kloster bruder»" entwickelten, sind wieder lebendig geworden Die großen Künstler sind „auSerwählte nnd gott begnadet« Heilige", denen gegenüber uns „die Bewunder ung eine» anbetenden Kindes" zukommt Mit anderen Worten: Bayreuth ist für die musikalische Welt zu einer Art Wallfahrtsort erhoben worden. Die wissenschaftlich- vernünftige Begründung seiner Kunst sucht der Musiker in den Traumthrorien eine» Schopenhauer Die Wirklichkeit geht dabei unter den Füßen verloren Wie aber die Wege finden zu einer Wandlung? Zweifello» wird sich der Blick zunächst rückwärts wenden müssen, wie denn die Geschichte die beste Lehrmeisterin ist Sie aber wird vor allem klar machen, daß nie ein Mensch allein die Kunst besaß Die allgemeine Bar barei, die, wie ein Hiller verkündet», Hereinbrechen müsse, wenn jemal« Haffes Opern nicht mehr gefielen, kam nicht über die Welt, al« sie sich neuen Idealen zu- wandt« Die heutige Generation klammer« sich deshalb nicht an den Einen an, der gegenwärtig noch unum schränkter Herrscher ist Sie suche nach anderen Vor bildern, und da, wo sie Meister findet, deren Wirken ihr im Innerste» verwandte Saiten onklingrn läßt, mache sie Halt. Abseits von den be tretenen Pfaden muß der Künstler wandeln, der sein eignes Ich finden will Aber das Suchen muß er zum Leitstern erheben, nicht daS Träumen! Die Musikforschung ist mit Zielbewußtsein daran, vergeßene Schätze zu heben, sie nutzbringend für die Gegenwart zu gestalten. Wende sich die Jugend nicht hochmütig von dem Alten ab! Sehe sie nicht nur Schlemmsand, den die Zeit weggespült hat, in den Ausgrabungen! Kein Zufall ist e», der die Gegenwart so beflissen und ertragreich auf dem Gebiete dieser Forschungen macht. Mehr und mehr fördern sie die Erkenntnis zu Tage, daß die alten Meister immer danach trachteten, eigene Wege zu wandeln, daß sie eher durch Pflege gewisser Nebenbegabungen und Neigungen Anregung zu gewinnen suchten — man denke an Glucks littrrarische Studien, seine Schwärmerei für Klopstock —, al» sich in die un mittelbare Gefolgschaft einer andern Größe zu stellen Mit diesem Anempf-Hlen des Studiums älterer Meister ist natürlich nicht ein „Nacharbeiten" gemeint, auch kein schmerzvolles Sich-Versenken in die Werke der selben. E» handelt sich vornehmlich um die Impondera bilien, die geistigen und seelischen Werte, die unsere nationale Kunst im Kampfe mit dem Welschtum er starken ließen und die unserer Zeit abhanden gekommcn sind, denen man nachspüren soll, als Frohmut und Heiterkeit, echtes Krastbewußtsein und verstandesklare Wissenschaftlichkeit Bevor sie nicht wieder unsere Kunst durchdringen, werden wir vergeblich Aus schau halten nach Gebilden von fester Gestalt und Körperlichkeit, wie von schönhrüsooller, glücklicher Thatsächlichkeit Wir werden der Künstler entbehren, die festhalten, und nur solche besitzen, wie heute, die alles begehren! Hungern und dürsten wird unser Gemüt, während diese sich darin verzehren, eine Lebenskraft zu ersehnen und zu erträumen, die der eines ganzen Ge- schlecht», und eine Intelligenz, die der zahlloser Einzel wesen entspricht. — Statt sich in die Abgründe de» Seelenleben» zu verlieren, da» große Mysterium der Liebe im ungezügelten Genüsse zu suchen, muß der Künstler wieder sittlich zu erstarken trachten Statt die bewunderte neuzeitliche Schärfe de» Geiste» zu erstreben, die doch nur der alle» verbrennender Säuren gleicht, muß er nach einer gefestigten Lebens- und Welt anschauung ringen. Erkennen muß er wieder, daß auch für ihn das wahre Glück auf Erden auf der nämlichen Grundlage ruht wie für seine Mitmenschen, nämlich darin, daß er in allen seinen Verhältnissen, dem Staate und der Familie gegenüber als ein Pflichtgetreucr be funden werde Mit anderen Worten: Mitarbeiten muß er an der sittlichen Erziehung des Menschengeschlecht» Diese hehrste und heiligste Mission der Kunst aber helfen wir miterfüllen und fördern, wenn wir den egoistischen GlückseligkeitStheorien der Romantiker cnt- lagen und ihrem Flüchten aus der Welt der Wirklich keit in da« Wunderland der Träume und Sagen und danach streben, daß das Ideal einer warmen und wahren Menschlichkeit und mit ihr die Achtung vor der Unbeugsamkeit des ewigen Sittengesetzes in der Kunst wieder zur Herrschaft gelange. -ä. Novellen- und Romaulitteratur. Im Karl Krabbeschen Verlage in Stuttgart er scheinen seit Jahren illustrierte Ausgaben von Werken deutscher Erzähler Unter den diesjährigen Erscheinungen dieser Art begegnen wir u. a zwei Bänden de« Meister« der deutschen Novelle Paul Heyse. Die eine, „Medea", ist wohl allgemein so bekannt, daß wir zu ihrer Empfehlung nicht« Neue« zu sagen brauchen und uns darauf beschränken könne», zu bemerken, daß sie von dem bekannten Münchner Maler Renä Reinicke mit zahl reichen reizvollen, die dichterische Darstellung voll er fassenden Abbildungen geschmückt worden ist; die andern beiden, in einem Bande vereinigten, die den Titel „Tantal»«" und „Mutter und Kind" tragen, zeigen, wie die Gestaltungskraft des nunmehr mehr als siebzig jährigen Dichter» allen Anstürmen de» Alter« zum Trotz die junge, unvermindert« bleibt In einer Zeit wie der heutigen, die so unerschöpflich ist in der Erzeugung höchst problematischer poetischer Gaben, so armselig hin gegen in der Hervorbringung bleibender Dichtungen, verdient ein Heysesche« Buch die doppelte und dreifache Beachtung aller Gebildeten Von Friedrich Epielhagen hat di« Verlag»- Handlung diesmal die Erzählung „In zwölfter Stunde" hrrau«gegebrn, Richard Voß ist mit einem Bande italienischer Novellen, die den Titel „Der Adoni» vom Molarathai und Andere»" tragen, vertreten, und von den Arbeiten Ernst v. Wolzogen« sind auf- neue die bekannte „Gloriahose" und der Band Münchner FaschingSnovellen unter dem Titel „Ein königliche» Weib" erschien«» Alle düse Dichtungen haben bereit» zahlreiche Freunde gefunden und werden sich rrrnscllcs noch viele neue Leser gewinn«« Au« dem Verlage von Albert Langen liegen un« sieben neue litterarische Erscheinungen vor. An erster Stelle nennen wir den Roman „Riccardo Joanna« Leben und Abenteuer" der vielgelesenen italienischen Schriftstellerin Mathilde Serao Er schildert die Schicksale eine» Journalisten, nicht wie Gustav Frey tag in heiterem, humorvollem Lichte, sondern von bitterer Satire sich steigernd zu gewaltiger Tragik Die Charakteristik der gezeichneten Gestalten ist scharf und treffend, die Handlung entwickelt sich flott und in wirk samer Steigerung. — Von Sven Lange, den man nicht mit Unrecht den „Ibsen der Novelle" nennt, liegt der spannende Roman „Hertha Juncker" vor, der di« Geschichte zweier junger Menschen, Hertha Juncker« und ihre» Bruders, schildert In diese Schilderung verflochten ist die scharfe Darstellung de» litterarischen Kopenhagen. Ein alter vielbewunderter Dichter, der in der Erzählung «ine Rolle spielt, wird unschwer al« Henrik Ibsen er kannt werden Doch ist natürlich davon keine Rede, daß Ibsen, wie e« jüngst in einer Besprechung hieß, in di«sem Roman verspottet werden soll Verspottet werden im Gegenteil nur die kleinen Geister, die au» persönlicher Eitelkeit einen einsamen Riesen mit Gewalt zu dem Ihren machen wollen und endlich sehen müssen, wie die« doch nicht gelingt. Die Heldin ist mit großer psychologischer Feinheit geschildert; di« stark« und leben«- warme Darstellungskunst Sven Lange« kommt in ihr zu vortrefflichem Ausdruck — Bernt Lie, jener Er zähler, der in Deutschland immer festeren Fuß faßt, ist in der Sammlung mit einer Novelle „Zauber" ver treten Geschildert ist in ihr di« Lieb« rineS ver« heirat«t«n Manne« zu einem jungen Mädchen — ein paar glückdurchleuchtete Tage, die genug sind, um ri» ganze« lange« graue« Leben zu vergolden Al« der Mann au« seinem kurzen Lirbe«traume erwacht, al« er in sein Hau«, zu seinem Weibe zurückkehrt, da schütteln ihn zunächst Verzweiflung über da« Verloren«, Reu»
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