61 Karl Knietzsch Erinnerung an die Dresdner Kino-Szene in den sechziger Jahren o Nicht nur der Künstler hat seit jeher gern und in vollen Zügen aus jenem Krug getrun ken, in dem Legende wie Wahrheit auf so erquickende Weise schäumen, gelegentlich auch der Chronist. Die Legende nun hat es vergleichsweise einfach. Sie kommt daher mit dem träumerischen Staunen des kindlichen Gemütes. Die Geschichtsschreibung indes stapft schwerfällig heran, beladen mit der Last der Fakten. »Wenn die Wahrheit über die Legende herauskommt, drucken wir trotzdem die Legende!« sagt der Reporter zu -Senator James Stewart in John Fords Film »Der Mann, der Liberty Valance erschoß«, und er weiß recht gut, was er da sagt. Wie nun halten wir es mit dem Blick zurück auf jenes Dezen nium, von dem hier die Rede sein soll? Blick zurück mit aller Ambivalenz, versteht sich, Blick zurück mit allem Gespür für das — aus der Distanz — Legendäre, ebenso aber auch mit allem gebotenen Bemühen um die schon recht angegilbten Fakten. Focus on film also - Einstieg in die sechziger Jahre mit dem Grinsen ob der Legende um die »Glorreichen Sieben«, Kinoereignis des Jahres 1963, Publikumsrenner und - schon durchdringen einander Legende und Wahrheit auf reizvolle Weise - bald auf dem ideologischen Index. Randale habe es gegeben, ließ die Partei, die immer Recht hatte, flugs verbreiten, der Film habe zur Gewalt angestachelt, zu Aggressionen, und sei ideolo gisch sowieso suspekt. Dies die Legende — was die Randale angeht, so war innerhalb der drei Monate, die man dem Film in den ausschließlich großen Kinos zubilligte, irgendwo und irgendwann eine Glastür dem Andrang der Kinofans nicht gewachsen und zu Bruch gegangen. Den Kulturgartenzwergen wurde die Resonanz des Films wohl unheimlich, so etwas hatten sie noch nicht erlebt: in einem Freilicht-Kino kamen statt der erwarteten vierhundert Besucher dreitausend (!) zu einer Vorstellung, das ist verbürgt. John Sturges Klasse-Western war der - auch verbürgt - ökonomisch stärkste Film des Jahres 1963, lag bei den 124 Spielfilmen dieses Jahres (davon 16 DEFA-Produktionen, 27 aus der SU und 45 aus den anderen Ostblockstaaten, 5 aus dem westlichen Deutschland und 20 aus anderen westlichen Ländern) als einsamer Spitzenreiter vorn mit durchschnittlich 600 Zu schauern pro Vorstellung und hätte, als man ihn auf Weisung von »oben« am 4. Oktober des gleichen Jahres zurückzog, eigentlich noch neun Monate laufen müssen, um jedes Kino zu erreichen. Den Bezirksfilmdirektionen entstand dadurch die »kleine« Einbuße