36 Kurt Milde Die gute Form «M* MH . Bei der Überwindung des weitgehend inhaltlos gewordenen Historismus hat das Bemühen um die gute Form eine wesentliche Rolle gespielt. Es hatte einen ausgesprochen sozialen Hintergrund. Daher ist es eine interessante Frage, warum gerade Dresden dem Entstehen einer solchen Konzeption den notwendigen Boden bieten konnte, denn wer die Geschichte Dresdens im vorigen Jahrhundert kennt, weiß, daß es keine direkte Verbindung zwischen der entwicklungsträchtigen Zeit von 1830 bis 1848 und den großen Ausstellungen um 1900 gibt. Dresden war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts alles andere als ein Hort des Fortschritts. Und eben daraus ergibt sich die Frage, wieso Dresden so plötzlich ei nen bevorzugten Platz in der europäischen Kulturentwicklung einzunehmen vermochte? Die Lösung des Problems muß offenbar im gesellschaftlichen Strukturwandel gesucht wer den, der sich in den neunziger Jahren mit der rasch hintereinander vorgenommenen Einge meindung der rings um Dresden entstandenen Industriedörfer vollzogen hatte. Dieser Pro zeß führte dazu, daß der Unternehmer sowie alle von seiner Lebensweise geprägten Bevöl kerungsschichten nun politischen und kulturellen Einfluß in der bisherigen Beamten- und Pensionärstadt Dresden gewannen. Das Besondere an diesen neuen gesellschaftlichen Kräf ten war, daß sie nicht der Grundstoffindustrie, sondern der konsumbestimmten Industrie zugehörten, die sich damals sehr rasch in Dresden entwickelte und deren führenden Köpfe meist selbst aus unteren Schichten kamen. Als Beispiel für diesen Unternehmertyp sei der Zigarettenfabrikant Hugo Zietz genannt. 11 Er konnte sich 1907 ein neues Werksgebäude für seine 1886 gegründete „Orientalische Tabak- und Cigarettenfabrik Yenidze” durch den damals noch recht unbekannten Architek ten Martin Hammitzsch errichten lassen. Es hat heute für Dresden fast ebenso großen Symbolgehalt wie der Zwinger. Zietz hatte seiner zunächst bescheidenen Fabrik den Na men einer kleinen türkischen Ortschaft in einem der bekanntesten Tabakanbaugebiete ge geben, aus dem er unter anderem seinen Rohtabak bezog. Binnen kurzem vermochte er bei einer Gewinnspanne von 90 % (!) seine Produktion so zu steigern, daß er bereits um 1900 als Sieger aus dem Konkurrenzkampf mit 80 anderen Fabriken hervorgehen konnte. Die nach weiterem rasanten Aufschwung in Angriff genommene neue Zigarettenfabrik ist aber nicht nur wegen ihres orientalischen Äußeren erwähnenswert. Sie ist auch ein histo risch beachtlicher Stahlbetonbau, ja, wenn man der Literatur Glauben schenken darf, ist sie sogar der erste Industriebau in Deutschland, der durchgängig in Stahlbetonskelettbau weise errichtet worden ist. Diese Bauweise hat sich bewährt, denn in der Folgezeit konnte so ohne allen Aufwand den immer wieder nötigen technologischen Veränderungen entspro chen werden. Ebenso bemerkenswert ist aber auch der hohe soziale Standard dieser Fabrik. So befand sich im fünften Stockwerk eine Küche mit Speisesaal für 1 000 Arbeiter, der -