Wieviel jahrlange Übung gehört dazu, die Gesetze ihrer Bewegung und Dehnung zu studieren. Man mißtraue also allen reinen Theoretikern der Stimmbildung! Die Alt meister der Belcantoschule, Manuel de Garcia, Giuseppe Concone, Hey, Julius Stockhausen, Rosa Papier, Lilli Lehmann (um nur einige zu nennen) waren selbst einmal hervorragende Sänger oder verstanden doch wenigstens zu singen. Es ist bezeichnend, daß gerade in Deutschland, also in einem Lande ohne eigentliche sängerische Kultur, die theoretischen Lehrer zu Dutzenden herumlaufen, dicke Bücher schreiben und ohne eigentlich praktische Erfolge doch erheblichen Zulauf haben. In Italien würde man sich einen Maestro di musica, der selbst nicht gut singt, keine zehn Minuten lang gefallen lassen. Und nur in Deutschland konnte jene absurde Lehre Anhänger finden, die — um die Wende des 19. Jahrhunderts — über den Leichnam der Naturstimme zum Belcanto Vor dringen wollte, jene Lehre, die mit der gewalt samen Herbeiführung von Stimmkrisen die Kehlköpfe bedroht. Man begegnet häufig der Ansicht, die wahre Kunst des Belcanto sei schon seit einigen Jahrzehnten rettungslos verloren ge gangen; was heut gemacht werde, reiche nicht entfernt an die Leistungen der Sänger im 19., 18. und 17. Jahrhundert heran. Wenn man bei Rousseau von dem Tenor Baldassare Ferri liest, der angeblich eine Triller kette von zwei Oktaven chromatisch mit absoluter Ton reinheit in einem Atem durchsingen konnte, möchte man zustimmen. Selbst Caruso, frag los der größte Kunstsänger der letzten 50 Jahre, kann sich mit den Erfolgen seines Kollegen Farinelli im 18. Jahrhundert nicht messen. Denn der siegte nicht nur im Wett streit mit einem Trompeter, sondern wurde sogar vom spanischen König engagiert, zehn Jahre lang jeden Abend dieselben vier Arien vorzusingen; dafür erhielt er die damals horrende Jahresgage von 2000 Pfund und obendrein Einfluß auf die Staatsgeschäfte. Aber es ist sehr fraglich, ob solche Stimm- akrobaten heute überhaupt gefallen würden. Vielleicht sind wir technisch anspruchsloser geworden. Mir persönlich genügt es, wenn einer durch drei Oktaven im Piano und Forte □ Kurt Weinhold Nachtrag zum Kirchenkonzert. Dem gestrigen Bericht über die Aufführung der Bachkantaten sei noch nachgetragen, daß die Ausführung der Trompeterstimme durch Herrn Musikdirektor Frank be sonderer Erwähnung wert ist. Gewiß sind heute die Trompeter selten, die eine der art hoch und schwierig geführte Stimme in der Sauberkeit zu blasen verstehen, wie der Calwer Musikdirektor Frank. Diese Feststellung soll billigerweise nicht unterbleiben. Calwer Tagblatt. 102 gleich rein und ohne Tremolo singen kann.