TRÄUME NACH WAHL Von NIKOLAS KNOBEL H errn B. F. Nuckel verdankt die Welt die epochemachende Erfindung, die es Schläfern und Schläferinnen ermöglichte, eine ihnen erwünschte Traum; art zu träumen. Wie ein leinenes, seidenes, buntes oder weißes Nachtgewand, so zog man gleichsam auch seine Träume nach Wahl an und sicherte sich also schon am Abend den geheimen Verbleib und Umtrieb seiner Seele bei Nacht. Den Interviewern, die den großen Erfinder bestürmten, gab er in koketter Nachlässigkeit etwa folgende Darstellung: „Ich hörte einmal — vor Jahren — einer Traumanalyse zu. Da wimmelte es nur so von Komplexen, Wunschmotiven und verdrängter Kindheit . . . Aber ich wußte den eigentlichen Grund. Er hieß: Gänsebraten mit Rotkohl, am späten Abend genossen. Gänsebraten mit Rotkohl, zehn Uhr abends, ist nicht gerade ein Schlafmittel. Schläft man aber dennoch, so träumt man eben von rasenden Dampfwalzen oder Versteinerung bei lebendigem Leibe. Also (sagte ich mir): Hätte ich Lust nach solchen Träumen, was ein abwegiger Gedanke ist, so brauchte ich nur entspre; chend zu nachtmahlen. Und ich folgerte weiter: wünsche ich andere Traumbilder, brauch ich ein anderes Menü. Und ich schloß: Träume nach Wahl und Wunsch werden von der Speisekarte ermöglicht. Und ich beschloß: das muß in ein System gebracht werden! „Die Menschheit hat sich seit Jahrtausenden zwar eindringlich, aber aus; schließlich damit abgegeben, einen Traum B aus dem Grund A zu erklären. Eine rein passive' Haltung, unseres aktiven Zeitalters unwürdig! Ich will als tätiger Forscher den umgekehrten Weg gehen und sage: Hier stelle ich den Grund A künstlich her, und es muß sich der Traum B ergeben. Unsere einzige Aufgabe und meine freilich schwierige Arbeit gilt nur dem Ziele, verschiedenartigste Wirkungen einzufangen und eine Traumapotheke zu schaffen mit Hunderten von Mitteln, die genau funktionieren.“ So anspruchsvoll sprach er erst später, als er seine Erfindung schon zu prak; tischer Verwendung technisch herangebildet hatte. Längst nicht mehr stellte er zwecks Traumgewinnung ganze Menüs zusammen. Schweinebraten und grüne Klöße erreichen nur ungefähre und primitive Wirkungen und wirken als Ver; Ordnung „Zum Einnehmen“ auch unsachlich und umständlich. Herr Nuckel hatte Pillen; und Pulverformen gefunden, die er nach unzähligen Mixturen und Versuchen auf die gleiche und auf reichere Wirkung brachte. Unvergeßlich wird in der Geschichte dieses Menschheitsfortschritts sein erster Erfolg mit dem Pulver G bleiben. Das Pulver G sollte — daher seine Bezeichnung — Geister; und Gespenster; träume ergeben, Erscheinungen aus einer Mischung von bleich, grau, hohläugig, bandartig verlängerten Gliedern, sausendem Wind und düstrer Gruftstimme. Gegenüber: Passage de Clichy, Paris (Phot. Paul Morand) 543