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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 30.10.1907
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1907-10-30
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-19071030013
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-1907103001
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-1907103001
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Handelszeitung
- Jahr1907
- Monat1907-10
- Tag1907-10-30
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Morgen-Ausgabe 8. Bezug»-Preis Nr Lrtpzia «nd Boron« durch »usrrr Tkäg«r und Spediteur« i»I Haut -«bracht. Lut-ad« ä (»ur uwrarnt) oirrtrllthrllch S vt. monatlich t M.. Ant-ab« N (morarnt und adeud«) dirrtrl» jährlich «.SV M„ monatlich 1.S0 M. idur» dl« G»ft be,ogrn «2 mal tä-lich) innerhalb Deutschlandt und der deutichrn Kolonie, vikNeljährlich 5.25 M. monallich I.7S M »u«Ich! PoL drfteligeld iür O«stene>ch v L üi> d, Ungarn S li. vierteljährlich. Adonnement-Lnnabme. Lu-uftutvlatz 8, bei unseren Trä-rrn, Filialen, Spediteure» und Lnnabmcftellen sowie Postämtern und Briefträgeru. Die einzelne Rümmer kostet 1v Gsg. «edaktion m»d Gppedltto»! Jobannitgasje ii. relevbon Rr. 14SS2 Rr. I4«b Rr. I4SS4. Berliner Redaktion« Bureau: Berlin I4zV. 7 Prinz Louit Ferdinand- Strahe 1. Telephon I, Rr. S275. eVger.TagMM Handelszeitung. Amlsvlatt des Rates und -es Nolizeianrtes -er Lta-t Leipzig. 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Sitzungsbericht.) * Der ehemalige Reichstagsabgeordnete Krämer- Wetzlar in gestorben. sS. Dtschs. R.) * „Petit Paristen" macht über eine Begegnung, die 1904 zwischen Kaiser Wilhelm und Loubet stattfinden sollte, bemerkenswerte Mitteilungen. sS. Ausl.) * Die französische Kammer begann gestern die Beratung des Budgets. * „Tagsposten" schlägt, wie aus Drontheim gemeldet wird, die Bildung eines Michelsenfonds, dessen Zweck Michelsen selbst be stimmen soll, vor. * Der finnische Landtag nahm den Antrag des Verfassungs» ausschusses, betreffend Bewilligung von 20 Millionen aus finni schen Staatsmitteln an die russische Staatskasse, an. Die Sozialdemokraten nahmen an der endgültigen Abstimmung nicht teil. * Ter König und die Königin von Spanien sind gestern von Cherbourg aus in See gegangen. sS. Ausl.) * Ter Rechtsanwalt Graf Mattaroli ist gestern mit der Prinzessin Pia Monica von Florenz nach Deutschland abgereist. sS. Neues a. a. W.) * In Lindenau, Hebclstraße 17, fand gestern nachmittag eine Gasexplosion statt. Acht Personen sind verwundet. sS. Lpzg. Ang.) * Aus Brancaleone sKalabrienj wird gemeldet: Gestern gegen 6 Uhr obends ereignete sich ein starker Erdstoß, von dem die Ge meinden Monteleone, Sant Eufemia, Bagnara und Sinopoli betroffen wurden. Der Bevölkerung hat sich eine Panik bemächtigt. Der Prozeß. Bei dem Prozeß des Grafen v. Moltke gegen Harden hat sich ge zeigt, daß in sehr weiten Kreisen Partei gegen Harden genommen wird. Und dieses Gefühl, denn darum handelt es sich, ist, vergleichsweise, weit schärfer ausgeprägt als bei den meisten, die als Politiker den unmittel baren Eindruck der Verhandlung hatten. Die Erklärung hierfür liegt wahrscheinlich darin, daß das Publikum über dem Sensationellen das politisch Bedeutsame des Prozesses übersieht. Und ferner vermag eben auch die beste, das heißt in diesem Falle nach Kräften objektive und anschauliche, Schilderung der Vorgänge im Gerichtssaal nicht das lebendige Bild zu ersetzen. Für den Leser der Verhandlungen mag des halb die nun auch vom Gericht als tatsächlich vorhanden angenommene normwidrige Eigenart des Klägers noch zweifelhaft erschienen sein, was natürlich das Urteil beeinflussen mußte. Und schließlich ist es ganz sicher, daß die Aufrührung dieser Berge von Scheußlichkeiten, dies Wühlen in den allerintimsten Gefühlen und Beziehungen an sich ab» stoßend ist, und daß man zum mindesten einen Teil der Verantwortung dafür Harden zuschreibt. Es ist gar nicht zu verkennen, daß gerade zu diesem Empfinden des Abscheucs guter Grund vorhanden ist. Die Ver heerungen des Prozesses auf dem Gebiete der Sitte, des Taktes und des Geschmackes sind ungeheuerlich. Und wir stehen nicht an, die Verseuchung des ganzen Volkes mit diesen fressenden Gedanken von Perversität, Homosexualität und ähn lichen geschlechtlichen Themen für ein Unglück zu erklären. In dieser Be ziehung richtet der Prozeß vielleicht mehr Schaden an, als er aufgedeckt hat, denn es ist nicht zu viel gesagt, wenn man behauptet, daß das Ge schlechtsleben heute das Gesprächsthema von Deutschland ist. Man mag so frei über diese Dinge denken wie man will — ihr Ueberwiegen in der Gedankenwelt ist immer von Uebel. Und nun erst bei Unreifen uno sittlich nicht Gefestigten! Fragt sich nur, ob es berechtigt ist, obsolut einen Bock in die Wüste schicken zu wollen. Es ist doch immer daran festzuhalten, daß erst der Prozeß und nicht etwa Hardens Feder die Luft mit den widerlichen Düften erfüllt hat. Und den Prozeß hat nicht Harden angestrengt, son dern der Kläger. Um den Gegenstand der Klage hat sich eigentlich kaum jemand bekümmert. Die meisten in Betracht kommenden Sätze, die sich auf viele Monate verteilen, waren überhaupt nur für ganz wenige Menschen verständlich. Und was allgemein verständlich war, kann auch bei schärfster Beurteilung nicht als aufgebauscht bezeichnet werden. Es war auch keine Ausschlachtung, wie der journalistische tsrrninus lautet, sondern eine Serie verstreuter Andeutungen. Und doch kann man sehr wohl an der Hardenschen Art zu kämpfen Anstoß nehmen. Wir haben ihn immer genommen und haben das mehr als einmal deutlich gejagt. DaS ist Geschmacksache und für die Hardensche Schreibweise, so geistreich sie häufig ist, können wir unS nicht erwärmen. ES gibt aber immer noch Leute, denen die Klarheit über alles geht, die Klarheit und die Geradheit. Und an beiden hat es Harden auch in diesem Falle fehlen lassen, wie er es fast immer an ihnen fehlen läßt. Denn das ist gerade seine Stärke, daS Operieren mit vieldeutigen Bemerkungen im Gewände ver hältnismäßiger Harmlosigkeit. Kann man sich denken, daß Goethe, der sozusagen doch auch Schriftsteller war und einigen Geist hatte, je in den Verdacht der Verfasserschaft eines Hardenschen Artikels kommen könnte? Man kann eben auch anders schreiben als Harden, wobei eS freilich unvergleichlich viel schwerer ist, ähnliche Wirkungen zu erzielen. Wer kann einem Menschen inS Herz sehen? Und wer möchte des- halb behaupten, die Motive HardenS seien absolut verwerflich oder ab solut tadelfrei? Wer einige Menschenkenntnis besitzt, wird alle solche Aktionen überhaupt nicht so glatt moralisch rubrizieren wollen. Meistens sind eS doch Konglomerate von Gedanken und Gefühlen. Daß Harden tatsächlich auch politische Absichten bei seinem Feldzuge gehabt und über aus wertvolle politische Arbeit geleistet hat, ist ja gar nicht zu bestreiten. Der Liebenberger Einfluß ist für alle Zeiten gebrochen und mit der Kama rilla ist aufgeräumt. Harden selbst hat sich mit der ganzen Heftigkeit seines Temperaments im Prozeß dagegen gewehrt, etwa noch andere Motive, journalistische oder noch gröber materielle, gehabt zu haben. So ganz zweifelsohne will das nicht scheinen. Und wenn diese Triebe auch nur gewissermaßen im Unterbewußtsein deS AutorS geherrscht haben, so deuten doch auf ihre Existenz mancherlei Zeichen. Das ganze Wesen Hardens, seine überstarke Selbstschätzung, seine Lust an der Pose gibt dafür Anhaltepunkte. Für den persönlichen Beobachter kommt Weiteres in Betracht. Es war manchmal kein lieblicher Anblick, Harden als Triumphator hutschwenkend seinen Dank für das Gebrüll der ibn umdränaenden Menge beim Verlassen des Gerichtsgebäudes abstatten zu sehen. Theatralik ist im Leben nicht nach jedermanns Ge schmack. Auch im Prozeß selbst findet der politisch geschulte Beobachter manches, was ihn stutzig machen muß. Um zweierlei herauszugreifen: Muß man eigentlich immer und bei jeder Gelegenheit seine gräflichen und freiherrlichen Freundschaften betonen? Und kann man eS Harden, dem systematischen Bekämpfer des nachbismarckischen Regimes und seines obersten Repräsentanten, glauben, wenn er im Prozeß mit seiner kaiser- lichen Gesinnung operiert, wenn er sagt, man könne der Majestät auch als Warner dienen? Er hätte es bei nationaler Gesinnung bewenden lassen können. Aber jene Töne wirkten wie grelle Dissonanzen. Aber eine politische Tat bleibt es. Nur möge uns der Himmel vor einer Doublette bewahren! Sollte es, was zu befürchten, Mode werden, das Vaterland L 1» Harden retten zu wollen, so könnten wir nette Zustände erleben. Eins freilich ist heute schon sicher: Neue Prozesse gleichen Inhalts werden nicht wieder in aller Öffentlichkeit behandelt werden. Und man mag den Segen der Öffentlichkeit so hoch schätzen, wie man will, so wird man das billigen müssen. Auch der wütendste Demokrat kann nicht wünschen, daß um des schönen Prinzips willen das ganze Volk mit diesem Unrat belästigt wird. Denn darüber muß man sich klar sein: Werden einmal solche Dinge in öffentlicher Sitzung behandelt, so ist es ganz unmöglich, sie totzuschweigen. Die Presse ist dann völlig machtlos. Die Tatsachen zwingen sie, zu sprechen. Sie ist in solchem Falle nichts als die Sklavin der Verhältnisse. Wer das nicht sieht, kennt weder die Macht der Presse, noch die Grenzen ihrer Macht. Woyi aber ist mv^ich, vurck. Hus hluß der Öffentlichkeit viel Unheil zu verhüten. Und wenn schon in dem verstossenen Skandal prozeß diese Gesichtspunkte maßgebend gewesen wären, so würde uns das wahrlich nicht als Mangel erschienen sein. Der Ausgang des Prozesses gibt unserer Auffassung vom Wesen des gräflichen Klägers recht. Und wer den Szenen im Gerichtssaal hat mit Augen und Ohren folgen können, muß das Urteil als gerecht an erkennen. Der Kläger war von der Charakterisierung als homosexuell nicht zu retten, auch nicht davon, diese Eigenschaft anderen Personen be merkbar gemacht zu haben. Wir haben das schon früher begründet und brauchen deshalb nicht nochmals darauf einzugehen. Auch hat der Ge richtshof in Uebereinstimmung mit unserer Ansicht die Frage der Wahr haftigkeit des Klägers beantwortet, das heißt, er ist der Beweisführung Hardens und seines Verteidigers nicht gefolgt. Trotzdem ist das Urteil für den Kläger schrecklich hart. Es ist ihm das schlimmste passiert, was überhaupt passieren konnte: Dir Beleidigung ist als erwiesen und doch als straflos erachtet worden, weil nach Ansicht des Gerichts dem Ange klagten der Beweis der Wahrheit geglückt ist. Wäre der Freispruch er folgt, weil das Gericht überhaupt keine Beleidigung in den angezogenen Sätzen hätte finden können, so wäre das natürlich weit vorteilhafter für den Grasen gewesen. So aber ist der Unglückliche verdammt, als ge richtsnotorisch Abnormer den Rest seines Daseins zu verbringen, wenn nicht etwa eine höhere Instanz das Urteil ändert. Und das, ohne daß dem Opfer des Prozesses auch nur die geringste straffällige Betätigung seines Triebes nachgewiesen, ja ohne daß er ihrer auch nur verdächtig wäre. Im Gegenteil kann man sicher sein, daß die ganze Welt an das Ehrenwort des Grafen glaubt. Auch insofern ist diese Tragödie er schütternd, als gerade derjenige der Angegriffenen leiden muß, der sicher der am allerwenigsten Belastete, der überhaupt der Harmloseste, auch in politischer Beziehung, ist. Der Vorhang ist gefallen. War es ein Aktschluß, oder ist das Drama aus? * Die Frage der Beruf ung. Der Anwalt des Grafen Moltke, Justizrat Tr. v. Gordon, erklärte auf eine Anfrage, ob er Berufung einlegen werde: „Ich kann jetzt eine bestimmte Erklärung darüber noch nicht abgeben." Nach dem Gange der Verhandlung und der Haltung der klägerischen Partei ist aber kaum anzunehmen, daß sich Graf Moltke mit dem freisprechenden Urteil begnügen wird. Wie man von anderer zuverlässiger Seite hört, wird zurzeit die Frage erwogen, ob die Klage gegen Harden nunmehr von der Staatsanwaltschaft im öffentlichen Interesse weiter verfolgt werden soll, nachdem der Staatsanwalt in einem früheren Stadium bekanntlich eine solche Verfolgung abgelehnt batte. Nach 8 417 der Strafprozeßordnung ist der Staatsanwalt aber berechtigt, in jeder Lage der Sache bis zur Rechtskraft des Urteils die Verfolgung zu übernehmen. vsnr bayerischen Landtag. Ans München wird unS geschrieben: Der erste Monat der Session ist einem in der bayerischen Volks vertretung geheiligten Herkommen gemäß, fast ohne Taten verlaufen. Um so mehr wäre vom Reden zu erzählen. Acht Sitzungen Hal diesmal die Generaldebatte über daS Budget beansprucht, ihr größter Teil wurde durch Parteipvlemik auSgefüllt, der insbesondere der Zentrumslöwe Dr. Schädler eine dreistündige Rede von beispielloser Langweiligkeit widmete. Die Sensation der ganzen Debatte war das Auftreten Dr. Heims, der dem Zentrum wie ein Blitz aus heiterem Himmel erschienen sein möchte. Was und wie er sprach, läßt sich nicht schildern. Er polemisierte ja auch gegen die Liberalen, aber trotz der Kraft deS Ausdruckes konnte doch fraglich erscheinen, ob cs ihm diesmal damit recht Ernst war. Jedenfalls atmeten seine „politischen Freunde" dabei wie von einem Alp befreit auf, und ihre peinliche Verlegenheit konnte nun hinter stür mischem Beifall versteckt werden. Denn Dr. Heim hatte mit beißendem, blutigem Hohne den konservativ-aristokratischen Flügel des Zentrums, voran die adligen Mitglieder und seinen Antipoden Dr. Pichler, übergossen, wie es selbst dem rücksichtslosesten aller Parlamentarier bis her kaum noch zu Gebote stand. Und in sehr wichtigen Fragen bekanine er sich offen als im Gegensätze zur Zentrumspolitik. Um nur ein Bei spiel zu geben: Dr. Pichler, der allmächtige Verkehrsreferent, hatte, um zu beweisen, wie unnötig ein Gemeinschaftsverhältnis für Bayern sei, und um sich daneben oder vielleicht in erster Linie zu glorifizieren, den Stand der Eisenbahnrente in unglaublich glänzender und den Tat sachen leider nicht entsprechender Beleuchtung erscheinen lassen und aus den Verkehrsminister einen im Parlamente kaum noch gehörten Pan- egyrikus angestimmt. Dr. Heim meinte trocken, es bestehe keine Ver anlassung, vor dem Minister „das Weihrauchfaß zu schwingen" — Dr. Pichler ist im bürgerlichen Leben Domkapitular — er möchte wissen, wie ungeschickt ein Verkehrsminister sein müßte, um bei der gegen- wärtigen Konjunktur keine bessere Beute zu erzielen. Unterdessen hat Dr. Heim einen großen Sieg außerhalb des Par laments errungen. Sein neuester Plan, die Dienstboten und Ar beiter auf dem Lande zu organisieren, ein Plan, bei dem ihn zum größ- tcn Teile politische Ziele leiten — „macht es das Zentrum nicht, dann machen es die Sozialdemokraten" — ist in den Reihen des Zentrums, namentlich bei den adligen Gutsbesitzern, auf großen und begreif lichen Widerspruch gestoßen. Insbesondere hat sich aber auch der Bayerische Landwirtschastsrat dagegen ausgesprochen. Nun sprach Dr. Heim, wie schon kurz berichtet wurde, vor einigen Tagen über die Frage in einer Generalversammlung der oberbayerischen christlichen Bauernvereine und erntete stürmischen Beifall und die Auszeichnung, zum ersten Ehrenmitglieds ernannt zu werden. Die Versammlung schloß so meldeten die Berichte, mit einem Hoch auf Dr. Heim und dann auf den Prinzregenten. In dieser Versammlung hatte nun der Bauern- doktor wieder die schärfsten Angriffe gegen seine Gegner im Zentrum gerichtet, aber keiner hatte den Mut, ihm mit einem Worte entgegen- zutreten. Ja, im Gegenteile, der Abg. Frhr. v. Freyberg versicherte, mit ihm einverstanden zu sein, und da Dr. Heim die Drohung ausstieb, er werde der Partei den Rücken kehren, „ohne ein Neberläufer zu wer den", da wurde ihm sofort von dem gleichen Mgeordneten der sehnlichste Wunsch aller ausgesprochen, wieder die Versöhnung feiern zu können. Tas heißt, die Herren sahen, daß die Macht Dr. Heims bei Bauern und Landgeistlichen doch noch viel zu groß ist, als daß man ihm nicht ent- aegenkommen und seinen Zorn besänftigen müßte. Vielleicht spekuliert man dabei auf seinen Gesundheitszustand, den zu kräftigen sich der konservativ-aristokratische Flügel so große Mühe gibt. Doch zum Landtag und der Generaldebatte zurück. Selbstverständ lich wurde die Stellung Bayerns im Reiche hereingezogen und ebenso selbstverständlich von ultramontaner und sozioldem ckratischev Seite wieder daS bekannte Klagelied über den geschwundenen Einfluß Bayerns und die „Verpreußung" angestimmt. Nun gibt eS auch andere Leute, die da glauben, daß Stellung und Einfluß Bayern? unter dem Ministerium Podewils sich nicht auf der früheren Höbe behauptet haben, allein die auf blindem Hasse gegen Preußen beruhenden, durch nichts bewiesenen Anklagen konnte Frhr. von Podewils mit Leichtigkeit und gutem Rechte entkräften. Zur Zurückweisung schwer beleidigender Angriffe ans Preußen hatte er sich mehrere Tage Zeit gelassen. Der Ministerpräsident schwur auch wieder Stein und Bein, daß die Regierung in vollster Unabhängigkeit vom Zentrum, nur der Pflicht und dem eigenen Triebe gehorchend, ihres Amtes walte. Sämtlich? Exzellenzen bewahrten bei diesen Beteuerungen ibren Ernst, und das Zentrum spendete lebhaften Beifall. Warum sollte es auch nicht? Trifft doch die „in reiflicher Prüfung" gewonnene Ueberzeuaung der hayerischen Staatsregierung in merkwürdiger regelmäßiger Heber- einstimmung mit den Wünschen der herrschenden Partei zusammen. Wozu sollte sich da das Zentrum in Unkosten stürzen und etwa auch noch die Verantwortlichkeit für die Regierung übernehmen? Tut's doch diese für das Zentrum. Wie vorsichtig sie diese? behandeln muß. nm sich nicht der allerhöchsten Unzufriedenheit auszusetzen, dafür gab die Frage der Feuerbestattung ein treffliches Beispiel. Die Reaierung stützt sich, da die Ultramontanen nicht für das Verbrennen von Leichen sind, auf da? Polizeistrafgesetzbuch, in dem nur von „Beerdigen" ge sprochen wird — schier 40 Jahre ist es alt. So krampfhaft sie nun auch zunächst an dieser künstlichen Auslegung festhält, so konnte der ne'w Minister des Innern Brettreich, der in seinem Ressort sehr tüchtia ist, angesichts der großen Zunahme der Leicheneinäscherungen in aus- märligen Krematorien doch nicht verhehlen, daß man den bisberiocu Zustand nicht in alle Ewigkeit belassen könne. Da kam er bet Herrn Dr Schädler schön an. Eigentlich hat dieser aber trotz aller Schlau heit der Regierung, wenn es ihr Ernst wäre, den Weg geebnet. Denn auch er schloß sich der Meinung an, daß die Berufung ans das Polizei gesetz nnßlos sei, es bandle sich aber um eine geheiliate christliche Sitte. Die Regierung wird sich aber gewiß den Rüffel zu Herzen nehmen und so etwaS nicht mehr — sagen. Bezüglich der Betriebsmittel- und Wagengemeinschaft wiederholte der Verkehrsminister seine Mitteilungen. Es steht ja fest, daß Bayern auf die ihm gestellten Bedingungen nicht eingehen konnte, an denen nicht der preußische Eisenbahnnnnister, sondern sein Kollege von den Fi nanzen die Schuld trägt. Sollten doch, was Herr von Frauendorfer nicht sagte, sogar die in das Gemeinschaftsamt delegierten Beamten umer preußischer Disziplinargewalt stehen. Preußen, das auch in der für Bayern unendlich wichtigen Frage der Mainkanalisation sich durch aus nicht so bundcsfreundlich erweist, wie Frhr. von Podewils ver- sicherte, vergißt hier über dem finanziellen Interesse völlig seine natio nale Mission. Aber auf der anderen Seite kommt in Bayern diese Haltung gar nicht so unwillkommen. Das Zentrum will keine Gemein- schäft, in den obersten Regionen fürchtet man auch die Einbuße an ..Selbständigkeit'', und so muß der Verkehrsminister, der früher ein sehr eifriger Anhänger der Idee war, auch nicht wollen. Für Bayern aber rückt jetzt, wo Großherzog Friedrich von Baden, der ein ent schiedener Gegner einer Eisenbahngemeinschaft nach preußisch-hessischem Vorbilde war, die Augen geschlossen bat, die Gefahr der Isolierung in Süddeutschland immer näher. Ein sehr befriedigendes Resultat hat die Generaldebatte ergeben: die Aufbesserung der Beamten, Geistlichen, Lehrer und Arbeiter in Staatsbetrieben ist gesichert. Der Finanzminister nahm wegen der drei letztgenannten Kategorien daS Zentrum sehr geschickt beim Wort und sicherte zu dessen Ueberraschung die Einbringung von Vorlagen zu, für deren Durchführung eine Steuererhöhung nicht zu umgehen ist. In unsagbar perfider Weise sucht das Zentrum, daS selbst eine völlig un. bestimmte Haltung einnahm, die Liberalen der Gegnerschaft zu be schuldigen. Die abgelaufene Woche brachte noch eine Beratung über einen sozialdemokratischen Antrag, der die Verleidung des Bürgerrechts in den Gemeinden mit dem Erwerbe der selbständigen Heimat verknüpfen und für die Gemeindcwohl daS System des Proporze?, wie man in Württemberg so schön sagt, eingefübrt wissen will. Nur die Liberalen traten dafür ein. Vom Zentrum sprach jeder Redner nur für seine Person und jeder anders. ES möchte nämlich die Einrichtung nur in den größeren Städten, wo überall die Gemeindevertretungen sich in liberalen Händen befinden. Bemerkenswert war, daß sich der Minister des Innern für die, wenn auch nicht sofortige Einführung der Verhält niswahl anssprach und dabei die Verbindung mit der Wahlpflicht emp fahl. Ebenso erklärte er sich für einen liberalen Antrag, der den
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