74 DIE SÄULENANATHEME trommel, darauf der scharfkannelierte Schaft in starker Verjüngung, endlich das altertümliche ionische Kapitell, über einem schmalen, mit ionischem Kyma geschmückten Echinus mächtig ausladende Voluten, die für das Standbild eine sichere Grundlage bildeten. Dieses, die Sphinx, ruht auf einer niedrigen Standplatte, wie ein Hund hockend auf die Vorderpranken gestützt (Abb. 32). Ein mage rer Löwenkörper, sichelförmig stilisierte Flügel, der Kopf einer Jungfrau, vielmehr ein Kopf ganz ähnlich einem archaiischen Apollokopf mit weitgeöffneten Augen und einem geheimnisvollen Lächeln um die schmalen Lippen, das schönfrisierte Haar in Flech ten auf die Schultern fallend. Ein Federnpanzer, an die Flügel sich anschließend, verhüllt die Brust und verdeckt die Stelle, wo die drei Körper zusammenstoßen. Augen, Lippen, Haare, Flügel waren gemalt, ebenso wie das Kapitell der Säule, das Ganze das wirkungs vollste archaiische Denkmal, das wir kennen. Säule und Sphinx sind aus grobkörnigem Marmor, der wahrschein lich von Naxos stammt, eine Inschrift auf der Säulentrommel der Basis, aus dem Jahre 332 v. Chr., bestätigt den Naxiern das alte Vorrecht der Promanteia, darnach ist kein Zweifel, daß die Sphinx ein Anathem der Naxier war. Weniger sicher ist die Zeit der Er richtung, doch weist der Stil des Säulenkapitells und der Figur auf die Mitte des 6. Jahrhunderts. Freilich, den Anlaß der Stiftung kennen wir nicht. Die Sphinx, dieses asiatisch-ägyptische Fabel wesen, ist ein Todesdämon, oft ähnlich dargestellt auf Grabstelen, und so hat man vermutet, daß es ein Sühne- und Dankgeschenk der Naxier war, gestiftet, als sie sich gewaltsam von der Herrschaft der Oligarchen befreit hatten, „der Todesdämon, der die Aristokraten hinwürgte“. Wahrscheinlicher ist, daß die Sphinx, hier im alten Orakelheiligtum der Gaia, in der Nähe des Sibyllenfelsens aufge stellt, nach spezifisch griechischer Auffassung als das rätsel- und orakelsingende Wesen gedacht ist, wie wir es aus dem „Ödipus“ des Sophokles kennen, und daß die Naxier, aus was für einem Anlaß nur immer, mit diesem Bilde des Orakelwesens dem Orakelgotte hul digten. In nächster Nähe, einige Meter östlich, stand die fast gleich hohe Nike der Messenier, das Bronzeoriginal des Paionios, während in Olympia wohl einige Jahre später eine Marmorkopie aufgestellt wurde. Der Zufall hat es gewollt, daß in Olympia die Figur, in Delphi