IO Ulrich Siegele die Verhandlungen über die Wiederbesetzung des Kantorats an der Thomas schule. Aber sie sind nicht die einzige Quelle. Die beiden Parteien des Leipziger Rats betrachteten die Kandidaten vornehm lich als Funktion ihrer jeweiligen Zielvorstellung, inwiefern sie sie verkörper ten und zu ihrer Durchsetzung beitragen konnten. Die Kandidaten dagegen betrachteten die Bewerbung um die Stelle als Funktion ihrer persönlichen Situa tion. Das Interesse der Partei, die einen bestimmten Kandidaten unterstützte, und das Interesse dieses Kandidaten konnten, selbst wo er sich mit der Ziel vorstellung der Partei identifizierte, nie völlig ineinander aufgehen. Die per sönliche Situation der Kandidaten war zwar auch, aber doch zum wenigsten privat bestimmt. Denn sie standen in anderen Dienstverhältnissen, und ihre derzeitigen Dienstherren hatten und vertraten ebenfalls eigene Interessen. Diese Interessen der derzeitigen Dienstherren gingen weder in den Interessen der Bewerber um das Leipziger Amt noch gar in den Interessen des Leipziger Rats und einer seiner Parteien auf, widersprachen ihnen eher. So verändert sich die Perspektive auf denselben Vorgang je nachdem, ob er vom Leipziger Rat und dort von der einen oder der anderen Partei, ob er vom Kandidaten oder vom derzeitigen Dienstherrn des Kandidaten betrachtet wird. Das Urteil über ein und denselben Vorgang variiert - gemäß den verschiedenen Interes sen - je nachdem, ob man, soweit vorhanden oder zugänglich, die Akten des Leipziger Rats, die Selbstzeugnisse der Kandidaten oder die Akten ihrer je weiligen Dienstherren benützt. Der Wechsel der Perspektive ist also durch die Tatsache, daß es um Verhandlungen geht, gegeben. Außer den unmittelbar handelnden Personen und Institutionen gab es noch eine Größe, deren Interesse, oder zumindest Möglichkeit, wenn auch vielleicht nicht ausschließlich, so doch hauptsächlich darin bestand, über das, was da verhan delt wurde, informiert zu werden: die Öffentlichkeit. Dieses Interesse wurde durch Zeitungen befriedigt und bezog sich vorzüglich auf die Personen und ihr Auftreten in dieser Öffentlichkeit, also auf ihr Eintreffen in Leipzig, die Pro ben und das Ergebnis der Wahl: Das ist der Inhalt der Meldungen. 9 Öffent lichkeit ist aber zugleich auch öffentliche Meinung. Die Meldungen dienten nicht stets der bloßen Information der Öffentlichkeit über den tatsächlichen Stand der Verhandlungen, sondern sollten bisweilen eine öffentliche Meinung bilden, um so den Gang der Verhandlungen zu beeinflussen. Das Metier einer solchen Öffentlichkeitsarbeit, einer solchen Informationspolitik hat die Kapell meisterpartei, auch darin ein Kind der neuen Zeit, beherrscht und ausgeübt. 9 H. Becker, Die frühe Hamburgische Tagespresse als musikgeschichtliche Quelle, in: H. Husmann (Hrsg.), Beiträge zur Hamburgischen Musikgeschichte, Hamburg 1956, S. 22-4;, hier 38-41. Von den 14 Meldungen, die über die Ereignisse von Kuhnaus Tod bis zu Bachs Antrittsmusik unterrichten, sind 12 im Hollsteinischen Correspondenten, 2 im Hamburger Relations-Courier erschienen. Die Frist zwischen Datum der Meldung und Datum des Erscheinens beträgt meist 6 oder 7, einmal 8 Tage; eine Ausnahme wird später diskutiert. Ich gebe stets das Datum der Meldung; denn es ist anzunehmen, daß eine Meldung, die der Leipziger Korrespondent einer Hamburger Zeitung machen konnte, am selben Tag auch in Leipzig bekannt war. Vgl. Dok II/124, 131, 138 und 140 (Zitate hier durchgehend nach Becker).