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Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 11.02.1910
- Erscheinungsdatum
- 1910-02-11
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-191002110
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- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-19100211
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- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-19100211
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- LDP: Zeitungen
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- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Handelszeitung
- Jahr1910
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Währung einer Unterstützung dem Antrag der vierten Deputation gemäß auf sich beruhen. Unter Punkt v endlich zeigt Sammerbrrr v. Schönberg namens der vierten Deputation an, daß Vt« Beschwerde de« Uhrmachermeister» K. F. Pt. Schwarze In Auerbach 1. V., eia« Privatktagrlache betreffend, und die Petition des E. W. Wüituer in Freiberg um Vermittelung einer Unterstützung für unzulässig zu erklären sind. Nächste Sitzung: Freitag, 1i. Februar, '/«12 Uhr. Tagesordnung: Etatkapitrlr 3 Kalkwerke, ü Hofapothek«, 109 Bewilligungen an Invaliden, Li« Titel de- außerordentlichen Etat-, Umbauten der Bahnhöfe Tharandt, Äroltau, Hera, Oelsnitz t. B„ Weipert, di« Kapitel des RechenichastS- berichts aus dem Ressort des Finanzministerium-, Petitionen. Hreufzisches Abgeordnetenhaus. Berlin, 10. Februar. (Tel.) Am Mintstertische v. Bethmann Hollweg, v. Moltke, Beseler und die anderen Minister. Das HauS ist gut besucht, die Tribünen übervoll. Auf der Tagesordnung steht die WahlrechtSvorlage. Nachdem Straffer (Kons.) rin« seiner Aeußerungen der letzten Tage über Frau v. Schönebeck richtig gestellt batte, erhebt sich Ministervräsibeat v. Bethmann Hollweg. Aus den Reihen der Sozialdemokraten ertönen Pfuiruf«, die vom Vizepräsidenten gerügt und von der Rechten mit den Rufe«: „Raus! Raus!" beantwortet werden. Ministerpräsident v. Bethme Postweg: Meine Herren! In Uebecein- stimmung der Ankündigung der " .rede will das Wahlgesetz das Wahlrecht zum Hause der Abgeordneten a' de ergebenen Grundlagen organisch fort- entwickcln. Die LtaatSregier >,at es ab, diese Grundlagen auszugeben und laßt sich bei diesem Gut, n auch nicht durch die Kritik wankend machen, die schon vorweg an die, Gesetzentwurf geübt wurde. Sie hat den Entwurf eingebracht, keiner P> tei zuliebe ober zuleide. (Bravo rechts, Lachen bei den Sozialdemokraten.) Die Sucht nach Popularität wird keinen Schritt der Regierung bestimmen. Man hat es so dargestellt, als brächte die Staatsregirrung diese Vorlage nur ein, weil sie durch jenen Passus der Thronrede in eine Zwangs- und Notlage versetzt worden sei. Man hat einen inneren Widerspruch zwischen den Worten der Thronrede und der wahren WtllenSmeinung der Staalsregierung, >a des Königs konstruiert. Daran ist kern Wort wahr. Was die Thronrede ankünbigt, das ist die WtllenSmeinung des Königs, und für diese WtllenSmeinung tritt Vie Staatsregierung geschlossen mit ihrer Verantwortung ein. Strömungen in der Oeffentlichkrit, die die Um gestaltung Les Wahlrechts fordern, machen sich laut genug geltend. Um so rybiger muß man sich darüber klar werden, was hinter diesen steht. Daß die Sozialdemokratie das preußische Wahlrecht und >ede, nicht mindestens auf La- Reichslagswaulrecht binaustommende Reform in Grund und Boden ver dammt, ist nicht verwunderlich. Bet den Herren spricht der nackte Witte zur Macht feine Sprache und die pflegt deutlich zu sein (Zurufe der Sozlaldemo- lraten). Sie hassen mit einem Wahlrecht aus breitester Grundlage da« Gefüge ces preußischen Slaatsrechts zu lockern (Sehr richtig!), und erblickten darin eine Etappe aus ihrem Wege zur allmählichen Unterminierung des monarchi- fchen Staats (Lebhaftes Sehr richtig! Zurufe bei Len Sozialdemokraten. Ministerpräsident Bethmann Hollweg: Aus diesem Wege werben wir den Herren nicht folgen, und deshalb bleibt die Agitation und jeder Zwischenruf, der von ihnen erfolgt, auf die Entschlüsse der Regierung wirkungslos (Unruhe links, Zurule,. Bet den übrigen Herren LeS ReichstagSwahlrechts, beim Zentrum und den Freisinnigen, scheint niehr die Sucht nach Selbstherrschaft, als ethische und theoretische Motive, maßgebend zu sein. DaS Zentrum hat bisher seine Sitze sicher gehabt, mochte nach Reichstagswahlrecht oder nach Dreiklassenwahlrecht gewählt werden. ES würde kaum an Stärke gewinnen, wenn wir in Preußen Las Reichstagswahlrecht einsührten. Nur die Persönlichkeiten würden vielleicht wechseln, und das würde ich bedauern. Den Freisinnigen wir» niemand vorwersen dürfen, daß ihr Wünsche eigennützig wären. (Lehr gut l in der Mitte.) Bei dem Rennen um die Gunst der Massen würden ste immer hinter den Sozialdemokraten um mehrere Pferdelängen zurückbleiben. (Lebhaftes Sehr richtig! rechts.) Sie haben stumpfere Sporen. Sie müßten dann wie der linke Flügel ter bürgerlich demokratischen Presse Töne anschlagen, die für Vertreter des fortgeschrittenen Bürgertums nicht mehr passen. Geben sie diese Position aber erst einmal auf, bann verlieren sie ihre Selb ständigkeit und die Bedeutung, die die Fortichrittrpartei für unser staatliches und politisches Leben hat (Unruhe links). Sie würde dem demokratijchen Gedanken Geltung verschaffen und den koajervatioen schwächen, aber lachender Erbe wäre ein Dritter. > ?( ' Mit pem Zentrum halten sie nur das gleiche Wahlrecht für menschenwürdig. In diesem Streit hierüber werden wir uns nie einigen; es ist Sache der Ueberzeugung auf beiden Seiten. Sie sind der Ansicht, daß der großen Masse die Herrschaft ausgeliefert werben muu, wenn sich der Staat glücklich jortentwickrln soll. Ich bin ber Ueberzeugung, daß die nackte Zahj ter bequemste, aber keineswegs alleinige Wertmesser sür die lebendige Kraft des Volkes ist. Sie halten mit theoretischer Zähigkeit an einer Forderung seit, unbekümmert um alle praktischen Erfahrungen, unbekümmert um die gewaltigen Verschiebungen, die im preußischen StaalSleben dadurch ein getreten sind, daß die Kompetenzen zwischen Reich und Einzelslaaten geteilt worden sind, und daß wir in Preußen selbst umfangreichste Staatsgeschäfte vom Ltaat auf die kommunalen Verbände übertragen haben. Aber auch in den Krei'en desjenigen Liberalismus, der sür Preußen das ReichstagSwahlrecht ablehnt, ist die Bewegung, die noch Reform des bestehenden verlangt, beinahe ebenso lebhaft. Es ist falsch, diese Bewegung auf SUminungsmache -urückzusüyren. Die WahlrechtSfragr ist für len gemäßigten Liberalismus tatsächlich zu einer sehr ernsten Frage geworden. Ich frage mich jedoch, ob es wirk lich die Mängel des bestehenden Wahlrechts und die Vorzüge der angestrebten Reformen sind, welche der Frage zu ibrer aktuellen Bekeutung verhalfen haben. Mir scheint vielmehr, daß die Wablrechtssrage allmählich die Formel ge worden ist, in der alles, was an politischer Unzufrieden« beit uud Mißstimmung irgendwelcher Art besteht, zu- i ammengefaßt wird. Realtion, Polizeiwillkür, Bureaukratismus, Fenoalsiaat, agrarisches Iunkerregiment, das sind so etwa in (erber Sprache die Dinge, die mit der Reform des Wahlrechts bekämpft und beseitigt werden sollen. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Lte handgreiflichen Uebertreibungen, welche darin liegen, werden in ruhiger Diskussion wohl allgemein abgelehnt werden; aber man verlangt die Modernisierung eines Wahlsystems, las den ländlichen Grund besitz und damit einem einseitigen Konservatismus zum Herr« der Situation mache, während doch andere Faktoren, nämlich Handel, Industrie, Arbeiterschaft, die in der Bildung repräsentierten Volkskräfre usw. längst in eine gleichberechtigte Stellung ein gerückt seien. Luft und Licht sür aller Tas ist fchlieftlich -er Grundton -er Bewegung. Vielfach wird sür die Dinge, die al- Mißstände empfunden werden uud die Mißstände sind, -as preuhische Wahlrecht verantwortlich gemacht und von dieser Reform der allgemeine Wandel erwartet. Tarin liegt die Täuschung. Es würde sich hören lassen, wenn man die politischen Kräfte cer Nation ziffernmäßig gegen einander abwägen und dann in diesem Ver hältnis im Parlament zujammensassrn könnte; aber da» sind Utopien und wichtiger al» dir Theorie ist auch hier die Praxis. Unrichtig ist jeden falls, daß da- preußische Wahlrecht ursprünglich auf agrarische, feudale Zu stände zugeschnitteu gewesen sei. Das Abgeordnetenhaus ist von fortschrittlichen zu natioualliberalen uud dann zu konservativen Maioritäten übergegangrn. (Lehr richtig recht-.) Und trifft es denn zu, daß die Fehler; dir mau dem preußisch«« Wahl recht nachsagt, die sogenannt« Entrechtung der Volk-massen, die einseitige Bevorzugung des reaktionären Großgrundbesitz«!»»:«-, sein Pluto- kratischer Tharaller, die Arbeit und Politik des Abgeordnetenhauses in einseitig agrarischer plutokratifchrr, die niederen Stände bedrückender Richtung geführt hätte? Ich freue mich schon im Vorau- auf di« schmeichelhafte Kritik, die mir zu Teil werde» wird, weil ich diese Frage überhaupt gestellt habe. Die preußischen Finanzen sind oufgebaut aus den staatlichen Betriebs verwaltungen und den direkten Steuern. Kein Mensch kann unserer Ein kommen« und Vermögenssteuer vorwerfrn, daß sie die Reichen bevorzugt und noch lese Novelle hat die Tendenz, Wohlhabende noch stärker zu belasten. (Sehr richtig.) ^ehr demokratisch regierte Länder kämpfen bisher vergeblich um «ine ähnliche Gesetzgebung. (Lebhafte Zustimmung recht-.) Ich habe auch bisher eigentlich nick t gemerkt. Laß die preußischen Volk-massen unter dieser, vom Dreiklassen- oarlament gemachten Steuergesetzgebung seufzten. Dafür wird al- unsozial, al» arbeiterfeindlich, al- agrarisch, dir Steuergesetzgebung gebrand- narkt, die der mit dem »allgemeinen, gleichen nnd geheimen Wahlrecht ausgerüstete Reich - tag gemacht hat. (Bewegung.) Ich halte diese Vorwürfe sür ungerecht, aber sie werde» erhoben. Nu« zum Kapitel „Polizeiliche Willkür". Ich kenn« keine Gesetzgebung, welckr gleich der preußischen den Recht-staat in der minutiösesten Weile an-zubilden gesucht und fast jede Polizei verfügung mit dem Schutzzaun dreier Instanzen umgeben hätte. Ich glaube aber nicht, daß der gemäßigt« Liberalismus Preußens Gesetzgebung, an der er selbst durchgehend mitgearbeitet hat, al- so rück- lchrittlich verwirft. Wat» Ei« meinten, da- ist, daß di« prenßtfche Regierung in der Verwaltung und in der Anwendung de- GesetzeS -ie Konservativen (Sehr richtig, link-.) Sie werden schon hören, was in Wahrheit richtig ist, und daß Sie da- tun oder tun müssen unter dem Drucke der durch da» Dreiklassenwahlrecht übermächtig gewordenen konservativen Partei. (Lebhaftes Sehr richtig, links.) Um diesen Druck zu brechen, soll daS Wahlrecht geändert werden. Das berührt das Verhältnis der Regierung zu den Parteien. Ich habe böse Dinar darüber zu hören bekommen, daß ich im Reichstage gesagt habe: „In Deutschland könne die Regierung keine Parteirrgierung sein. Man müßte im Reiche doch erst den BundeSrat beseitigen, wenn man zu Parteiregirrungen komme» wollte." Aber ich will hier von Preußen sprechen. M. H.l Eine preußische Regierung, di« sich als Parteiregternng in dem Sinne etablieren wollte, daß sie einseitig die Geschäfte einer bestimmten Partei triebe, würde dem geschichtlichen Preußen sein Ende bereiten; und eine Partei, die e- darauf nbsähe, die es versuchte, eine Regierung so in ihre» Bann zu bringen, würde ven Totengräber dabei spielen. (Vielfache Zustimmung.) Preußen läßt sich nicht in -as Fahrwasser -es parlamentarischrn Regimes verschleppen, solange die Macht seines Königtum- ungebrochen bleibt, und an die Macht dieses Königtums, das immer eine Tradition darin gefunden bat, ein Königtum für alle zu sein, wir» nicht gerührt werden. (Lebh. Bravo.) Auch Sie, meine Herren von der konservativen Partei, wollen und müßen Ihre Selbständigkeit und Unabhängigkeit behalten. (Heiterkeit link-.) Je mehr Sie Ihre Stärke allein auf die eigene Arbeit und die eigene Ueberzeugung Ihrer Anhänger stützen, um so besser wird es nicht nur sür Staat und die Regierung, sonder» auch für Sie leibst sein. Aber dieselbe Unabhängigkeit werbe ich auch der Regierung Ihnen gegenüber wahren. Sie meine Herren von der liberalen Partei klagen darüber, daß die politischen Beamten, insonderheit die Landräte, nicht nur den Kon servativen Handlangerdienste leisteten (Lebh. Sehr richtig! links, sondern auch die anderen Parteien schikan irrten und an freier Entscheidung hinderten. (Lebh. Sehr richtig! linls.) Die Beamten sind Diener deS Staates, aber nicht Diener irgend einer Partei. Wie die politischen Beamten die Regierungs politik zu vertreten haben — gegenüber allen Parteien zn vertreten haben —, darüber haben wie feststehende und allgemein anrrkannte Grundsätze. (Zurufe bei den Soz.) Jede Lockerung dieser Grundsätze wäre ein beginnender Verfall des StaatSorganismuS. Jede Verfehmnng Andersdenkender rächt sich. Preußen und Deutschland wissen davon rin trübes Lied zu singen, wenn sie sich der bleiernen Schwere erinnern, die in den zwanziger und dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts auf dem Lande lastete; wo rin solcher Mißbrauch statlfände, mißbillige ich ihn aufs entschiedenste. (Lachen b. d. Soz.) Lachen Sie nicht so; wenn Sie nichts anderes entgegnen können, dann schweigen Sie doch lieber. Ebenso wie Sie verurteile ich mancherlei Schikane, wie Saalabtrribungen und Aehnliches, dagegen protestiere ich, daß man unseren politischen Beamten Tendenzen in ihrer Amtsführung nachsagt, wie (ch sie soeben geschildert und gerügt habe; das ist eine Verdrehung nnd Verzerrung -er Wirklichkeit. Die preußischen Landräte in ihrer Allgemeinheit sind so mit den wirtschaft lichen Interessen ihrer Kreise verwachsen, gehen so in der Arbeit für diese Interessen auf, erfreuen sich auch in ihrer überwiegenden Mehrzahl so Les Ver trauens ihrer Kreiseingesessrnen, daß es ein Unrecht ist, Ausnahmen, die immer und überall vorkommen, der Gesamtheit zur Last zn legen und von Fehlgriffen und Mißbräuchen einzelner auf den Geist schließen zu wollen, in dem die Verwaltung im ganzen geführt wird. (Bravo rechts.) Der Vor wurf, daß unser gesamtes Beamtentum von verknöchertem, kon- servativem Geiste erfüllt sei, ist eins der A g i ta ti o n S mittel, mit denen man hausieren geht. (Zurufe b. d. Soz.) Meine Herren! Der Geist, der in einem Beamtentum, wie es im preußischen herrscht, ist nichts Will kürliches. Er ist gewachsen und groß geworden mit dem Staat, bet dessen Entwickelung der preußische Beamte keine so ganz unrühmliche Rolle gespielt bat; nicht nur die Standeseigenart, sondern die ganze Geschichte Preußen-, die Notwendigkeit, sich in zähem Ringen um die staatliche und die wirtschaftliche Existenz durchzusrtzen und zu behaupten, haben den Typus des preußischen Beamten geschaffen. DaS hat er seiner ganzen Art, dem strengen, vielfach barschen und obwrisendtn, aus die Behauptung des Errungenen bedachten Charakter ausgeprägt, den Sie konservativ nennen mögen. Rückschrittlich, reaktionär ist er nicht geworden, denn mit ihm, nicht trotz ihm ist Prentzen der führende Staat Deutschlands geworden. (Lebhafte Zustimmung rechts.) Gewiß hat der Geist des preußischen Beamten« umS nickt immer Stich gehalten, gerade seine besten Eigen'chasten können auch die Quellen großer Fehler werden. So ist er nach großem Aufschwung bei dem Steiuichen Reformwerke lpäter zu dem von Stein jo bitter beklagten „Burali-muS" erkrankt, wie er den BureankratismuS nannte. Wir können auf die Taner den konservativen Organismus PrentzenS nnr erhalten, wenn er von freiem nnd vorurteilslosem «Seifte erfüllt ist. (Sehr richtig rechts, Lachen bei den Soz.). Ich habe diese Fragen kurz ge streift, nicht um r!n Lobredner der Gegenwart zu sein, ich habe im Gegenteil auf Mängel und Gefahren hingedrutet, die zu ihrem Teil an dem Unmut Ichuld sind, der weite Kreise LeS Volkes erfüllt. Aber dieser Unmut reicht doch viel weiter, denn hinter allem steht das dumpfe und unbehagliche Gefühl, daß wir unS bei allem wirtschaftlichen Aufschwung politisch und kulturell in einer Periode der Stagnation befinden, namentlich auch kulturell. Die Sorge darum, ob wir mit der höheren wiffeuschastlicheu Erzietmng und Heranbildung unserer Jugend noch auf dem richtigen Wege sind, bedrückt weite Kreise der Nation. Der Drang nach innerlich vertieftem, religiösem Leben, der immer ein Grundpfeiler Les deut chen Wesens sein wird, empfindet eS vielfach schmerzlich, nicht immer volle Genüge zu finden. M. H.l Man muß aus all diese unzählig«« Quellen zurückgeheu, um es zu erkennen, we-halb unsere Zeit von solcher Mißstimmung erfüllt ist, und nun explodiert diese Mißstimmung in dem Schrei nach einer Reform unseres Wahlrechts. Man wiegt sich in der Hoffnung, daß der Anfang zu allem Guten gesunden sein werde, wenn nur erst das Dreiklassenwahlrecht abgeschatft wäre. Ich muß immer wieder betone», daß dos der gleiche Fehl griff wenigstens sür alle diejenigen ist, welche von der allgemeinen Demokrati sierung unseres SlaatSlebens nickt Las große Heil erwarten. Man vermengt die Fragen der politischen Kultur, der politischen Erziehung mit den formellen Fragep des Wahlsystems. Soweit sie aber mit dem Wahlsystem zusammenhängeu, behaupte ich, daß die politische Kultur und Erziehung nicht gefördert werden, sondern leiden, je demokratischer das Wahlrecht gestaltet wird. (Sehr wahr! recht».) ES hat eine Zeit gegeben, wo die politische Erziehung de» Volke- in seiner Masse vom Parlament an-gtng. Mir scheint diese Zeit vorüber zu sein. Was einer unserer bedeutenden lebenden Geschichts schreiber (Prof. Lamprecht-Leipzig. D. Red.) die „Politisier» ug der Ge sellschaft" genannt hat, kann nur noch von den unteren Gliederungen LeS Staate- und Volkes ausgehen. Dort vollzieht sich vor allem die Erziehung zu dem staatlichen Ver- antwortlichkeltSgrsühl, da- die Grundlage aller politischen Kultur ist. Vergleichen Sie damit die Wirkung, die die politische Tätigkeit der Paria- rneute in der Gegenwart auf die politische Bildung LeS Volkes ausübt. Ich spreche nicht von den Fragen, wo die Entscheidung über Lebensfragen der Nation da» Volk bi» in seine Tiefen aufrührt, da» ist nicht da- tägliche Brot und soll nicht da- tägliche Brot fein. Welchen Anteil aber nimmt da- Volk an der laufenden, schlichten Arbeit unserer Parlamente? Die Presse briugt Sttmmnng-btlder, bei denen man häufig den Eindruck nicht abhalten kann, al» handele rS sich um Theatervorstellungen (Heiterkeit). Verläuft die Sitzung sachlich, und mag «S sich um die wichtigsten Gegenstände handeln, dann heißt es, daß öde Langeweile über dem Hause brütete (Heiterkeit). Aber wenn «S ein sogenannter großer Tag ist, dann wird geschrieben, welche Krawatte oder welche Weste der Minister anhatke; wa» er fachlich sagt, wird von oben herunter schnell abgetan, und lustig wird e» dann genannt, wenn man berichten kann, daß der Abgeordnete soundsoviel temperamentvolle Angriffe gegen Leu Minister richtete, wobei er kräftige und energische Töne sand, und wo möglich einen Ordnungsruf erhielt. (Lebhafte Heiterkeit.) Sie lachen darüber, ich halte e- für eine sehr ernste Sache, so wird die große Masse de» zeitung lesende« Publikums allmählich dazu geführt, die Sensation al» Kernpunkt -e- politische« Lebens anzusehen. Ich üb« damit selbstverständlich keine Kritik au unseren Parlamente», aber ich muß mich Loch frage», ob die Behauptung noch zu rechtfertigeu ist, daß unsere Parlamente da- Zentrum seien, von dem politische Kultur und poli tische Erziehung aus die Maste de- Volke- au-strahleu, und ob nicht umgekehrt die demokratische Entwickelung de- Parlamentarismus znr verflacht,«« und Verrohung des politischen Sinne» fühich alfo gerade deu Entwickelung-prozeß hemmt, den wir brauchen, uud der von einer demokratischen Reform Le- Wahlrechte- erwartet wird. M. H.l: Ich bin in meinen bi-hrrigen Ausführungen der Ueberschätzung der Wahlrecht-srage in ihren Gründen und in Ihren Wirkungen entgegengetreten. Lasten Sie mich letzt noch in kurzen Worten über die allgemeine Richtlinie der Reform sprechen, dl« wir Ihnen Vorschlägen. Mir ist mehrfach der Gedanke entgegen- gebracht worden, die Regierung möge eine gründlich liberalisierend« Reform Vorschlag«», sonst würde un- die rote Flut verschlinge«. Dieser Vorschlag leidet au zwei Fehl«»: Erst«« ist Furcht immer der schlechteste Ratgeber und sodann: glaubt man etwa, daß der Sozialdemokratie mit irgendeinem Wahlrecht gedient wäre, da- ihr nicht zur Herrschaft verhülfe? (Sehr richtig! ' rechts.) Wenn wir aber wirklich schon so weit sein sollten, daß bürgerliche Parteien oder ihre Wähler sich grundsätzlich der Sozialdemokratie znwenven, weil ihnen di« gebrachte Wahlreform ungenügend ist, dann ist nicht dir Wahl reform daran schuld, sondern der mangelnde staatlich« Ein» der liebe» läuser. (Lebhafte Zustimmung.) Die Regierung kann Ihnen nur eine Reform Vorschlages, welche in Au- kuüpfung an da- Gegeben« die Bestimmungen beseitigt, di« ihre innere Berechtigung verloren habe«, und welch« gleich neue Vorschriften ein führt, die es verhindern, Laß da- Vorhandene sich zu schädlichen Formen auSwächst. Sie tut daS und muß es tun, weil der Staat Ueberlebtes nickt konservieren soll. Für unS liegt es, wenn wir Ihnen eine Reform des Wahlrecht» Vorschlägen, gar nicht so, daß wir zu fragen hätten, wir und nach welchem System können wir sür Preußen «In ideales Wahlrecht schaffen. Ein solches gibt es überhaupt nicht, sondern wir hoben zu fragen, welch« Be- stimmung,n de- bestehenden Wahlrecht« haben wir zu ändern, um eS für die Zwecke de» Staate- brauchbar zu erhalten. Der Entwurf hält a« der öffentlichen Wahl fest. Viele Preßerörterungeu hielten ihn um deswillen sür unbrauchbar. Man hat ihn als unanilänbig bezeichnet. Tas ist ja das moderne Wort, mit dem man jetzt dem Staatsbürger staatliche Institutionen zu verleiden sucht. Auch die Frage der öffentlichen oder der geheimen Stimmabgabe ist in vielen Be ziehungen eine Frage ber Ueberzeugung, über die zu kämpfen unfruchtbar ist. Die Geheimheit der Wahl soll eS verbürgen, so meint man, daß der Wähler in voller Unabhängigkeit seiner politischen Ueberzeugung Ausdruck geben kann. Man übertreibe doch nicht immer dies« Unabhängigkeit. Die Abhängigkeiten, di« des Lebens Notdurft schafft — gottgegrbrn hat Bismarck sie genannt — die Abhängigkeiten, die der Kampf der Parteien nicht zufällig mit sich bringt, sondern sich ausdrücklich zum Ziele setzt, begleiten den Wähler auch in die Isolierzelle des Wahlraumes. Es ist der dringende und heiße Wunsch jeder Parteileitung, daß sich ihre Angehörigen bet der Abgabe de» Stimmzettels dieser Abhänigkeitrn recht lebhaft erinnern mögen. (Zuruke links.) Gewiß kann die geheime Wahl dem Wühler erleichtern, ^sich von Rücksichten auf seine wirtschaftlichen, sozialen «nd religiösen AbhängigkettSvrrhältntffe frei zn halte» und Politischen llrberzeugungen zu folgen, Es ist aber falsch, zu behaupten, daß diese Adbängigkritsverhältnisse heute stärker seien als zu der Zeit, da unser Wahlrecht eingeführt wurde. Die Heimlich keit der Wahl hilft ganz unleugbar dazu, alle innerlich oder geistig schwächeren Wähler unfrei zu machen gegenüber den Antrieben, materielle Instinkte, persönliche Vertrimmung und den Hang zu allgemeiner Unzufriedenheit walten zu lassen. (Lehr wahr! rechts.) Deshalb hat die Sozialdemokratie bei der geheimen Wahl weit mehr Mitläufer als bet der öffentlichen, und sie, die doch sonst den Fanatismus der Oeffentlichkeit hat, ist eine so unbedingte Anhängerin des geheimen Wahlrechts! Sie, die daran gewöhnt ist, praktische Realpolitik zu treiben, schätzt also den Sukkurs, der rhr bei geheimer Wahl aus den Mitläufern erwächst, höher ein, als die Vorteile, die sie bet öffentlicher Wahl durch den Terrorismus erzielt. Daß solcher Terrorismus von ihr geübt wird, und zwar in weit stärkerem Maße als von irgend einer anderen bürgerlichen Partei, Las ist ja in diesem hohen Hause urkundlich festgestellt worden. (Lebhafte Zustimmung, Pfuirufe bei den Sozialdemokraten, Glocke LeS Präsidenten.) Erster Vizepräsident Dr. Porsck ruft erst Len Abgeordneten Borgmann (Soz.), dann diesen Ordnungsruf zurücknchmend den Abgeordneten Liebknecht (Soz.) zur Ordnung.) Rechnet sie richtig — uud ich bin überzeugt, daß sie eS tut — so ergibt sich die Gegenrcchnung für alle bürgerlichen Parteien von selbst. Sie verlieren in ihrer Gesamtheit an Stimmen nnd zwar nicht dadurch, daß sich politische Ueberzeugung frei betätigt, sondern dadurch, daß das mangelnde Verantwortlichkeitsgesühl im Schleier des Geheimnisses staats feindlichen Einflüssen folgt, zu denen es sich öffentlich nicht bekennen mag. (Sehr wahr! rechts.) Dte königliche StaatSregternng hält aus alle« diesen Gründen an der überlieferten Oeffentlichkeit der Wahl fest. Formell ist die Angelegenheit lediglich eine preußische, und ich darf der Zustimmung der großen Mehrbeit dieses hohen Hauses gewiß sein, wenn ich die Stimmen ganz entschieden zurnckweise, welche dem Reiche eine Kontrolle über das »indizieren, was wir hier beraten und beschließen. «Lebhaftes Bravo!). Materiell ist eS vollkommen berechtigt, wenn man im Reiche mit größter Aufmerksamkeit verfolgt, wie sich im führenden Bundesstaate die Staats- uud verfassungsrechtlichen Verhältnisse gestalten. Dabei tst^ für manche Kreise gewiß der rein praktische Wunsch bestimmend, Preuften möchte durch et« modernes Wahlrecht so demokratisiert werden, daß ein im letzten Ende auch demokratisierter Bundesrat di« Geschicke des Reichs bestimmen müsse. Dos ist eine Entwicklungslinie, der wir widerstreben müffeo. Wenn eS dem Wese« des deutschen Volkes entspräche, daß dem Norden und Süden die gleiche politische Form paßte, so hätte sich im Laufe der tausendjährigen Geschichte Deutschlands längst der zentralistische Staat entwickelt. Daß es nicht geschehen ist, liegt in einem tirsen Zug des deutschen Wesens, der mit dem Reichtum unserer Kultur und mit dem Besten, was Deutschland geschaffen hat, eng zujammenhängt. Meine Herren! Wir können und wollen die Eigenart der bayrischen, der schwäbischen, der sächsischen Volksstämme, und wie sie auch heißen mögen, nickt missen. Aber man toll uns auch unsere preußische Eigenart nicht ver- lümmern, man soll uns nicht mit billigen Schlagworten als feudal, agrarisch und reaktionär in Verruf bringen. Tas dient nicht Deutschlands Einigkeit, denn Preußen und preußische Eigenart haben nicht an letzter Stelle an der Wiedererflehung deS Deutschen Reiches mit gearbeitet. (Lebhaftes Bravo!) Wenn Sie, meine Herren, und damit will ich schließen, bei der Betrach tung ber Wahlrechtsfrage neben dem agitatorischen Beiwerk auch solche Gesichts. Punkte, wie ich sie anzugeben mir erlaubt habe, zu ihrem Rechte kommen lassen, dann werden Sie, davon bin ich überzeugt, Beschlüsse finden, die dem Wohle nicht nur des preußischen Staates, sondern auch des Deutschen Reiches dienen. (Lebhaftes Bravo l rechts und in der Mitte, Zischen bei den Sozialdemokraten.) Nack der Rede Bethmann Hollwegs erklärte der Minister des Innern v. Moltke: Ta die Vorlage eine Verfassungsänderung enthält, so muß die Behandlung der Vorlage in den Formen einer VersassungSänderung geführt werben. Abg. Freiherr v. Richthofen (Kons.) Die Aeußerungen, mit denen der Vertreter der staatsreaierung zu Beginn der Sitzung von ven Mitgliedern des Hauses begrüßt wurde; muß ich als unerhört bezeichnen. Wir wollen keine Stagnation, wir sind leine reaktionäre Partei. Wir wollen einen gesunden Fortschritt, aber keineswegs eine einseitige Politik eine Politik sür bas platte Land. Die Wahlrechlsvorlage haben wir ohne Rücksicht auf die anderen Bundesstaaten nach unserer eigenen Ueberzeugung zu regeln. Wir haben ernste, schwerwiegende Bedenken gegen dte Borlage und beantragen dte Ueberwetsung an eine Kommission von 28 Mit gliedern. Wir werden der Vorlage nnr dann zustimmen können, wenn wir die Ueberzeugung gewinnen, daß sie Preußen zum Modle gereicht. Dte öffentliche Wahl entspricht dem deutschen Volkscharakter. Gefährlicher als die Sozialdemokraten selbst sind diejenigen, die mit ihnen kokettieren. (Sehr richtig! rechts.) Wir wollen ein Parlament, das die idealen Grundlagen des Preußentums bewahrt. In diesem Sinne werden wir in die Beratung Herangehen, denn es handelt sich hier nicht allein um die WahlrechtSpflege, sondern auch um große Ideale de» Volkes. (Lebhaftes Bravo recht». Zücken links.) Abg. Träger (Frs. Vpt ): Diese Vorlage ist für uns unaunehmbar. An der Kommijsionsberatung werben wir uns beteilige«. Alle liberalen An- iprüche laufen la der Frage Les Wahlrechts zusammen. Keine Regierung ist so stark, dah ste gegen den ausgesprochenen Willen der Mehr heit des Volkes regieren kann. Die Regierung ist das au-sührente Organ der Mehrheit deS Volkes. Die Vorlage genügt uns schon darum nicht, weil sie so tut, als ob die preußische Gesetzgebung die übrige Welt gar nichts anginge. Man verstötzt damit gegen de» RetchSgedanken. (Sehr richtig l links.) Tic Vorlage hat im übrigen Deutsch- land al- et« reaktion-rer vorstotz üblen Eindruck gemacht. Sie erfüllt auch die Zusage der Thronrede nicht. Wir hoffen jedoch zu einem vernünftigen Wahlrecht zu kommen. (Bravo! links.) Abg. Schiffer (Natl.): Wir lehnen nach wie vor da- Reichs tag-Wahlrecht für Preußen ab, wollen aber anderseits das Reichstag-Wahlrecht im Reich keineswegs antasten. Wir treten sür die Be seitigung der indirekten Wahl, der plutokrotischen Starrheit der Wahlrecht», abstusung, -er öffentlichen Stimmabgabe, sowie für ein« Revision der Wahl- krri-einteilung ein. Die Vorlage hat un ¬ eilte schwere Enttäuschung bereitet. Wenn e- gelingt, die gesunden Gesichtspunkt« d«S Pluralwahl rechts zur Durchsühruna zu bringen, so haben wir kagegen nicht- rinzuwenden. Dagegen liegt in dem Aufrücken in höhere Abteilungen aus «rund be sonderer Examina eine ungerechte Bevorzugung Ser Beamten. Die üfseullich« Stimmabgabe ist nur geeignet, den Lerrori-mu- zn fördern. Die Wablrechtsfrage bleibt eine brennend«, auch wenn die Vorlage abgelrhnt wird. cSedr richtig! links.) Wir werben alles tun, um die Entwickelung ter Wahlrecht-frage zum baldigen Abschluß zu bringen. (Lebh. Beifall link-.) Hierauf wird die Aeitrrberalung auf morgen vormittag 1l llhr vertagt.
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