DAS SEIFERSDORFER TAL n der Gemäldesammlung des Schlosses Pillnitz hängen einige Bildnisse von Anton Graff. Graff, ein gebürtiger Schweizer, war 1766 an die Dresdner Akademie berufen worden und hatte sich in kurzer Zeit einen solchen Ruf als Porträtmaler erworben, daß sich alle Welt, Adlige wie Bürger, von ihm konterfeien ließ. Seine Porträts stehen in einem auch für Laien auffälligen Gegensatz zu jenen, denen man nur wenige Räume und wenige Jahrzehnte zuvor begegnet ist. Nur um eine Generation sind die Dargestellten voneinander getrennt. Dort waren Beispiele von höfischer Porträtmalerei aus der ersten Hälfte und Mitte des 18. Jahrhunderts zu sehen gewesen, die eine glänzende Technik, aber eine so glatte Auffassung verrieten, daß es allein schon schwerfiel, die Gesichter der Dargestellten auseinanderzuhalten. Nicht einmal die nahen Augen des Malers hatten unter der Puderschicht den Menschen entdecken können und — dürfen. Graffs Bildnisse dagegen haben einen völlig anderen Charakter. Sie sind von einer starken psycho logischen Durchdringung gekennzeichnet, wie sie nur von einer tiefen Wandlung des Denkens und Fühlens innerhalb der Kultur des 18. Jahrhunderts herrühren konnte. Aber nicht eigentlich von Graff sollte die Rede sein, sondern von einem seiner hier hängenden Bilder. Auch die Gräfin Christiane Brühl hatte sich von ihm malen lassen. Tina Brühl, wie sie sich von ihrer geliebten Umgebung von Dichtern und Denkern gern nennen ließ, war arm und bürgerlich im Elsaß zur Welt gekommen, aber die Schwiegertochter des unheilvollen sächsischen Ministers Graf Brühl geworden. In Seifersdorf, im Nordosten außerhalb Dresdens hinter dem Gebiet der Dresdner Heide, lag eine der Besitzungen der Brühls, und dort schuf Tina Brühl zwischen 1781 und 1792 einen Park der Empfindsamkeit. Sie war, was man dem unbestechlichen Anton Graff glauben darf, noch mit vierzig Jahren eine jugendliche Frau. Ihre klugen Augen sind auf den Beschauer gerichtet, haben aber einen eher nach innen gerichteten Blick. Ein violettes Stirnband im braunen, gelockerten Haar, das weit geöffnete weiße Kleid von einer blauen Schärpe gehalten, ein Saiteninstrument in der Hand, so hatte sie dem Maler gegenübergesessen. Und mehr noch als das Kostüm ihrer Zeit verrät der seelenvolle Gesichts ausdruck, daß sie in einer ganz anderen Sphäre gelebt hat als ihre schönen, götzenhaften Vor gängerinnen an den Museumswänden. Welcher Gegensatz! Welche Veränderungen hatten sich innerhalb zweier aufeinanderfolgender Generationen vollzogen, deren eine sich in dem unindivi duellen, gefühlsfeindlichen Bezirk der absolutistischen Etikette bewegen mußte, während die andere ein von Gefühlen bestimmtes Dasein leben durfte, gelöst aus der alten, strengen Form.