Johann Sebastian Bach. Johann Gottfried Walther und die Musik von Giovanni Pierluigi da Palestrina Von Daniel R. Melamed (Bloomington, Indiana) Johann Sebastian Bachs Beschäftigung mit der Polyphonie alten Stils ist schon seit einiger Zeit ein aktuelles Thema, dessen vorläufiger Befund wie folgt zusammengefaßt werden kann: 1 Zwar hat Bach bekanntermaßen Ab schriften von verschiedenen Werken im Stile antico besessen; bei diesen han delt es sich jedoch - mit einer Ausnahme - durchweg um im 17. Jahrhundert entstandene Nachahmungen des älteren Stils, darunter Kompositionen von Giovanni Battista Bassani. Giuseppe Peranda und anderen. Als das einzige Werk aus dem 16. Jahrhundert, mit dem Bach sich nachgewiesenermaßen unmittelbar und gründlich auseinandergesetzt hat, galt Giovanni Pierluigi da Palestrinas sechsstimmige Missa Sine nomine, von deren Kyrie und Gloria Bach und einer seiner Kopisten um 1742 einen Stimmensatz ausschrieben. Dieses Werk, das Bach um einen Basso continuo und eine colla parte geführte Bläsergruppe (Cometto und Trombona 1-3) ergänzte, repräsentiert mit seiner Betonung von kurzen, sich überschneidenden Motiven, seinem komplexen Satzgewebe und seinen antiphonalen Effekten nur einen kleinen Ausschnitt der Bandbreite von Palestrinas Kompositionsstil. Barbara Wiermann hat in einem im Bach-Jahrbuch 2002 erschienenen Artikel drei bedeutende neue Quellen identifiziert und damit vielversprechende neue Forschungsansätze zu Bachs Pflege von Palestrinas Musik eröffnet: (1) Bachs unvollständigen Stimmensatz der Missa Ecce sacerdos magnus, der unter Beständen der Sing-Akademie zu Berlin auftauchte, (2) eine handschriftliche Partitur aus Bachs Besitz, die sie ben Messen Palestrinas enthält (teils in Auszügen, teils vollständig), und (3) die Partitur der vollständigen Missa Ad coenam agni providi, eines der sieben in der umfangreichen Handschrift enthaltenen Werke, von der Hand Johann Gottfried Walthers, der offensichtlich ebenfalls Zugang zu der unter (2) ge nannten umfangreichen Partitur hatte (siehe Tabelle l). 2 1 Siehe speziell K.G. Feilerer. J.S. Bachs Bearbeitung der Missa sine nomine von Palestrina. BJ 1927, S. 123-132; und Wolff Stile antico, passim. 2 B. Wiermann, Bach und Palestrina: Neue Quellen aus Johann Sebastian Bachs Notenbibliothek, BJ 2002, S. 9-28. Zu Bachs praktischer Verwendung dieses Mate rials siehe D R. Melamed. Bach und Palestrina - Einige praktische Probleme 1, BJ 2003, S. 221-224. und B. Wiermann, Bach und Palestrina - Einige praktische Prob leme II, BJ 2003. S. 225-227.