02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 15.06.1899
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1899-06-15
- Sprache
- German
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18990615025
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1899061502
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1899061502
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1899
- Monat1899-06
- Tag1899-06-15
- Monat1899-06
- Jahr1899
-
-
-
4716
-
4717
-
4718
-
4719
-
4720
-
4721
-
4722
- Links
-
Downloads
- Download single page (JPG)
-
Fulltext page (XML)
Die Morgen-Au-gabe erscheint «m '/,? Uhr. di« Abend-Ausgabe Wochentags um 5 Uhr. Filialen: Dtt» Slemm'S Lo.tim. (Alfred Hahn). Universitätsstraße 3 (Paulinum-. L»»is Lösche, Latharinrustr. 14, pari. und KöotgSplatz 7. Nedaction und Expedition: JohanniSgasie 8. Die Expedition ist Wochentags ununterbrochen geöffnet von früh 8 bis Abends 7 Uhr. Bezugs-Preis t» der Hauptexpedition oder den im Stadt bezirk und den Vororten errichteten Aus gabestellen abgeholt: vierteljährlich^4.50, bei zweimaliger täglicher Zustellung in- Haus 5.50. Durch die Post bezogen für Deutschland und Oesterreich- vierteljährlich 6.—. Direkte tägliche Üreuzoandiendung in- Ausland: monatlich 7.50. Abend-Ausgabe. WpMer TliMlÄ Anzeiger. Amtsblatt des Königlichen Land- «nd Amtsgerichtes Leipzig, des Rathes «nd Polizei-Amtes der Ltadt Leipzig. Anzeigen-Prei- die 6 gespaltene Petitzeile 20 Pfg. Reklamen unter dem Redactionsstrich (4ge- spalten) 50/H, vor den Familieunachnchtea (6 gespalten) 40^. Größere Schriften laut unserem PreiS- verzeichniß. Tabellarischer und Ziffernsatz nach höherem Tarif. Extra-Beilagen (gefalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbeförderung 60.—, mrt Postbeförderung 70.—. Annahmeschluß für Anzeigen: Abend-Ausgabe: Vormittag- 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittags 4Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stunde früher. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richten. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig 39«. Donnerstag den 15. Juni 1899. 93. Jahrgang. Politische Tagesschau. * Leipzig, 15. Juni. Die nationalliberale Fraktion des Reichstags hat, wie wir bereits im heutigen Morgenblatte mittheilen konnten, gestern mit großer Mehrheit beschlossen, die sogenannte .LuchthauSvorlagc" glatt abzulchnen, d. h., die Mehrheit wird gegen die Verweisungder Vorlage an eine Commission stimmen, da sie es für unmöglich hält, auf Grund dieser Unter lage etwas Brauchbares zum Schutze der Arbeitswilligen zu Stande zu bringen. Worauf diese Annahme sich gründet, wissen wir noch nicht und müssen daher mit unserem Urtheile über den Beschluß noch zurückhalten. Wie sorgsam dieser aber auch erwogen worden sein mag, jedenfalls legt er die Besorgniß nahe, daß er nicht nur einen tiefen, kaum wieder zu überbrückenden Riß in die Fraktion bringen, sondern auch für die ganze nationalliberale Partei verhängnisvoll werden könne. Viele Tausende werden cs nicht verstehen, daß Männer, die schon oft die Nothwendigkeit eines besseren Schutzes der Arbeitswilligen gegen den Terrorismus eines anfänglich zu meist recht kleinen, aber infolge seines Pressionögeschicks mehr und mehr wachsenden Hausens Streitlustiger anerkannt haben, selbst den Versuch ablehnen, den vorliegenden Entwurf von seinen zahlreichen und schweren Mängeln zu befreien und zweckentsprechend umzugestalten. Nun heißt eö zwar, das Centrum habe den gleichen Beschluß gefaßt und was das Centrum vor seinen Wählern verantworten könne, das werde auch die nationalliberale Fraktion zu verantworten vermögen. Aber die CentrumSführer haben ganz andere Mittel in der Hand, mit denen sie ihre Wähler begütigen und zur weiteren Gefolgschaft veranlassen können, als die Nationalliberalen. Und überdies glauben wir noch nicht recht daran, daß das Centrum bereits einen definitiven Beschluß gefaßt habe. Es pflegt doch sonst so hastig nicht zu fein. Und gerade eine vollständig ablehnende Haltung der Nationalliberalen gegen die „Zuchthausvorlage" könnte den Centrumstaktikern Veranlassung geben zu dem Versuche, sich mit der Regierung einerseits und den konservativen Fraktionen andererseits übereine veränderte Fassung der Vor lage und über — einen Preis für diese Willfährigkeit zu ver ständigen, den der gesammte Liberalismus zu zahlen hätte. Vorläufig rückt die „German ia" in einem dritten Artikel über das Arbeitsschutzgesetz der Kennzeichnung der Stellungnahme des Cent rums etwas näher als bisher, bleibt aber immer noch in einer Entfernung, die schließlich gestattet, ebenso gut zu Vielem Ja wie zu Allem Nein zu sagen. Die Expektoration ist noch so Lieberisch, daß man einem freisinnigen Blatte nicht entgegentreten kann, das eine runde Ablehnung heraus liest, aber auch dazu schweigen müßte, wenn ein Regierungs blatt das Gegentheil gefunden zu haben erklärte. Die „Germania" kennzeichnet den von der Socialdemokratie auf dem Arbeitsmarkte geübten Terrorismus mit großer Schärfe und pointirt mit dem für Freunde der Vorlage viel versprechenden Satze: „Die Freiheit, die die Socialdcmokratie Anderen predigt und von Anderen verlangt, sollte sie zunächst erst selbst einmal tatsächlich walten lassen, sonst darf sie sich schließlich nicht beklagen, wenn ihr mit demselben Maße, mit dem sie mißt, wieder eingcmessen wird". Später aber heißt eS: „Mit neuen Slrafparagraphen allein ist hier wenig oder nichts gethan; cs liegt vielmehr die Gefahr nahe, daß dadurch das Uebel noch verschlimmert wird. Der Reichstag wird deshalb keinen Zweifel darüber lassen, daß die Vorlage der Negierung mit ihren zehn Strafparagraphen keine Annahme finden kann. Und da nun einmal der Mißbrauch der Coalitionsfreiheit seiner Berathung und Beschlußfassung unterbreitet ist, so wird er die damit im organischen Zusammenhänge stehenden Fragen nicht umgehen können: Ist denn bereits eine wirkliche und volle Coalitionsfreiheit gewährleistet? Ist durch die Gesetzgebung ausreichende Vorsorge getroffen, daß den eingetragenen Berufs vereinen der Arbeiter Rechtsfähigkeit verliehen ist? Sind dem Februar-Erlasse des Kaisers entsprechend „für die Pflege des Friedens zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern" Arbeitskammern errichtet!? Wenn das geschieht — und in einem wirklichen „Gesetze zum Schutze des gewerblichen Arbeitsverhältnisses" müssen solche positiven Bestimmungen die Grundlage bilden —, dann kann man im organischen Anschluß an die positiven Festsetzungen der Coalitions freiheit selbst auch die Strafbestimmungen über den Mißbrauch dec Coalitionsfreiheit einer anderweitigen Regelung unterziehen und sie bestimmter und gerechter normiren, womit ja keineswegs gesagt ist, daß sie deshalb höhere Strafen enthalten müßten. Tann kann auch „Licht und Lust" zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern gerecht und gleichmäßig, sowohl in Bezug auf die Coalitionsfreiheit selbst, als auf die Repression eines Mißbrauchs der Coalitionsfreiheit vertheilt werden." So das Ccntrumsblatt, dessen Auslassungen über den uationallibcralen Fractionsbeschluß man mit Spannung cnt- gegensehcn muß. „Wir stehen vor einer ernsten Entscheidung", be merkte gestern ein inderkanal-Angclcgcnhcit nurmitdemKopfe bethciligter preußischer Abgeordneter und großer Ernst spielt sich auch in einer Anzahl von Blättern wider, die ihr „In letzter Stunde" zu der heute beginnenden zweiten Canalvorlage schreiben. ES scheint in der That, als ob cS in beiden Lagern Personen gäbe, denen die Meinung, die Ablehnung des CanalS könnte erfolgen und eine Auflösung des Abgeordnetenhauses nach sich ziehen, jetzt nicht mehr fremd wäre. Die Regie der letzten Tage würde auch geeignet sein, der Situation diesen An schein zu geben, wenn sie — eben keine Regie wäre. Es ist aber in Berlin die Ansicht vorherrschend geblieben, erstens, daß der Canal angenommen, und zweitens, daß auch im anderen Falle die Ausschreibung von Neuwahlen unter bleiben würde. Aber freilick, wir leben unterm neuen CurS, der jeder Vorberechnung spottet. Eins jedoch steht fest: der Auflösung würde der Nücklritt einer Anzahl von M in istern vvrhergehen. ES giebt Persönlichkeiten in der Regierung, die, wenn sie sich nicht mit sich selbst in Widerspruch setzen wollen, ihren Namen nicht unter die Auflösungsordre schreiben können. Denn die „Sammlung" — daö Wort im Sinne einer Verhütung breitester Zerklüftung der staatStreuen Elemente genommen — verträgt Neuwahlen mit der Parole „Für den Mittellandkanal" absolut nicht. Und doch gäbe cs noch etwas Schlimmeres als diese Auslösung, nämlich die Bestätigung der Meldung, die Polen seien durch Zugeständnisse auf nationalem Gebiete für den Canal gekauft worden. Dann wären wir in Deutschland genau an derselben Stelle, wo wir uns vor der Annahme des österreichischen Handels vertrages befunden haben, nur daß ein Pact mit den Polen diesmal auch äußerlich den Charakter einer Unterwerfung des preußischen Staates trüge. Wäre an der Sache etwas Wahres, so wäre eS eine Existenzfrage der nationalliberalen Partei Preußens, daß der Canal mit den Polen eine Mehrheit fände und eine Auslösung ganz außer Berechnung träte. Denn eine mit den ultramontanen Polen gegen die Conservativen und die Freiconservativen ver bündete nationalliberale Partei würde einen großen Theil ihrer besten Elemente in die Reihen der Gegner treiben. Indessen — das ist nur ein „Problem»". Der Canal bau wird genehmigt werden. WaS wir wiederholt be hauptet, wird jetzt von der „Kreuzzeitung" bestätigt; in der conservativen, wie auch in der freiconservativen Fraktion befindet sich eine Anzahl Abgeordneter, die von Anbeginn Freunde des Canals waren, also nicht „umzufallen" brauchen, wenn sie für ihn stimmen; Andere, die ursprünglich neutral ge wesen, haben sich im Laufe der Prüfung und Berathung ein dem Projekte geneigtes Urtheil gebildet. Geschlossen stimmt keine Partei gegen die Vorlage. Geschlossen stimmt aber auch die nativnalliberale Partei nicht dafür, ohne daß deswegen Ausstoßungen erfolgen werden, — eine Gewiß heit, die deutlicher als alles Andere die sittliche Verdam mung, die in einem Theile der nationalliberalen Presse über die Canal-Opposition ausgesprochen wird, als Heuchelei kennzeichnet. Wieviel Conservative und Freiconservative nothwendiz sind, um eine Mehrheit zu Stande zu bringen, hängt von der Haltung der Polen und der Zahl der Ab lehnenden in dem Centrum ab. Es scheint aber sicher, daß aus dem Centrum nicht mehr Nein herauskommen werden, als zulässig sind, wenn die Annahme nicht gefährdet werden soll. Gestern wurde zwar das Gerücht colportirt, dem Centrum läge der Gedanke eines Antrages auf Vertagung nicht fern, und zwar wolle es die Entscheidung hinausschieben, „um den Conservativen aus ihrer Bedrängniß zu helfen." Es scheint sich aber Labei um eine vvlköpartclliche Erfindung zu handeln. Herr Richter fürchtet nichts mehr als eine baldige Erledigung der Angelegenheit im positiven Sinne. Denn er würde aller dings von einem Couflict, von einer Auflösung für Zeit und Ewigkeit, d. h. bei den Neuwahlen und bei dem, was Neu wahlen folgen müßte, profitiren. In Lcsterrcich-Ungarn ist nach unsäglichem Mühen das Kunststück des Ausgleichs-Kompromisses, wir können nicht sagen, geglückt, aber doch fertig gebracht. Der Jongleur soll der tschechische Finanzminister vr. Kaizl sein. Nach den im Hauptblatt und dem HandelSthcil der heutigen Morgen nummer registrirten Pcstcr Meldungen ist Coloman Szell von der Forderung zurückgetretcn, daß die Notenbank noch weiter als gemeinsames Geld- und Creditinstitut der Monarchie, daS vor Allem Ungarn zu gute kommt, bestehen sollte, ohne daß gleichzeitig auch die Gemeinschaft des Zollgebietes aufrecht erhalten bliebe. Dieses sollte nur bis 1903, jene bis 1910 bestehen bleiben. Es wäre dies auch in der That ein wirthschaftlicher Unsinn haarsträu bendster Art gewesen. Allerdings ist der Termin von 1910 für das Bankinstitut fcstgehaUen worden, aber mit der Einschränkung, daß, wenn daS österreichisch ungarische Zoll- und HaudelSbündniß 1907 nicht erneuert werden sollte, auch die Bankgemeinschaft nicht erneuert wird. Szell hatte in seiner Formel die Zoll- und Han delsgemeinschaft nur bis 1903 sortsctzen wollen; wenn jetzt der Termin 1907 vereinbart worden ist, so kann dies als ein weiteres Zugeständniß Ungarns gelten, dem aber daö gleiche Entgegenkommen aus Seite Oesterreichs entspricht, welches bisher aus der üblichen Erneuerung auf weitere zehn Jahre bestanden hatte. Auf diese Weise wird er reicht, daß die Zoll- und Handelsgemeinschaft noch durch vier Jahre nach dem Zeitpunkte (1903) wirksam bleibt, an dem die Monarchie ihre Handelsverträge mit den auswärtigen Staaten wird erneuern müssen. Das zeitliche Zusammen treffen der Verhandlungen zwischen Oesterreich und Ungarn über die weitere Gemeinsamkeit ihres Zollgebietes mit den Verhandlungen, welche die Gesammtmonarchie mit den aus ländischen Staaten über die Handelsverträge zu führen haben wird, wollte die österreichische Regierung vermeiden, während die ungarische Regierung gerade diese Gelegenheit, gegen Oesterreich ein günstiges Expressungsmittel zu haben, herbeizuführen bestrebt war. Deshalb wurde auch bei der Festsetzung der Zollgemeinsamkeit bis 1907 von Ungarn verlangt und durchgesetzt, daß die für 1903 zu er wartende Erneuerung der ausländischen Verträge nur auf vier Jahre stattfinden solle. Hier zeigt sich die Halbheit und Unaufrichtigkeit des ungarischen Compromisses, denn es ist sehr fraglich, ob die auswärtigen Staaten, von denen besonders Deutschland in Betracht kommt, sich zu einer so kurzfristigen Vertragsschließung herbeilassen werden. So hat Ungarn die Chance, die Gesammt monarchie aus dem internationalen Handelsvertrags- Verhältniß ausscheiden zu sehen und nach Auflösung der Zoll- und Handelsgenieinschaft mit Oesterreich selbstständig Verträge mit auswärtigen Staaten schließen zu können: ein weiterer Schritt zur wirthschaftlichen und politischen Los lösung Ungarns von Oesterreich. Dies kommt auch darin zum Ausdruck, daß in der Szell'schen Formel die Bestim mung aufrecht erhallen worden ist, daß, wenn nicht durch eigene Gesetzgebungsakte die Aufrechterhaltung der öster reichisch-ungarischen Zolleinheit ausgesprochen wird, ganz von selbst nach Ablauf der Zoll- und Handelsgemeinschaft die Trennung der Monarchie in zwei einander fremde Wirthschaftögebiete in Geltung zu treten hat, während früher vereinbart gewesen war, daß die Ein heit von selbst weiter besteht, wenn nicht ein eigenes, vom Monarchen genehmigtes Gesetz die Trennung ausspricht. Die Fristen sind also verlängert worden, aber das wesentliche Princip ist leider im Sinne des von den Ungarn stets als Drohung benutzten Trennungs gedankens nach der „Szell'schen Formel" aufrecht geblieben. Eine Erneuerung der internationalen Handelsverträge über 1907 hinaus kann freilich auch eintreten, aber nur dann, wenn die jetzt auf Grund des Nothparagraphen 14 getroffenen Vereinbarungen Uber das Zoll- und Handels»erhältniß zwischen beiden RcichshLlften bis 1903 (der Ablaufstermin der internationalen Verträge) auf verfassungsmäßigem Wege, d. h. unter Mitwirkung der Parlamente, in ein wirk liches Zoll- und HaudelSbündniß umgewandelt worden sind. Das dürfte aber nicht geschehen, da keinerlei Aussicht vorhanden ist, daß die Maschinerie des österreichischen Ab geordnetenhauses wieder in Gang kommt. Die praktische Handhabung der englische» Arbcitgebcr- Haftpflicht-Bill ist mit zahllosen Schwierigkeiten verknüpft. Am meisten böses Blut macht in den Kreisen der mit der gesetzlichen Haftpflicht belasteten Industriellen die Bestimmung des Gesetzes, welche den Arbeitgeber auch für die Fälle haftpflichtig macht, wo er allen Anforderungen auf das Gewissenhafteste genügt hat und der Unfall nur durch grobe Fahrlässigkeit oder direktes Zuwiderbandeln der Arbeiter herbeigcführt worden ist. Ein besonders charakteristischer Fall dieser Art wurde am letzten Sonnabend vor der Londoner Feuilletsn. Die Schwiegertochter. 1s Novelle von Hedda v. Schmid. Nachdruck verboten. Erstes Caprtel. Die alte Dame in ihrem hochlehnigen Sessel nahm ein« noch kerzengeradere Haltung an: „Wie gesagt, lieber Sohn, da Du mich um meine Meinung gefragt, so kann ich Dir nur wiederholen, daß ich es unstatthaft und unschicklich finde, daß Deine Frau in einem öffentlichen Concerte mitwirkt." „Aber es ist doch zum Westen der Armen", warf der blonde, hochgewachsene Mann «in, der seiner Mutter gegenüber saß und mechanisch mit dem grauen Wollknäuel, den er dem bronzirten Arbeitskörbchen auf dem Tische vor ihm entnommen, spielte. „Wenn Du von vornherein schlüssig gewesen sein solltest, Benita die Mitwirkung im Concert zu gestatten, so finde ich es unnöthig, daß Du überhaupt meine Ansicht über die Sache ein geholt", versetzte die alte Dame, und der Ton ihrer Stimme ver- rieth, daß sie sich verletzt fühlte. Der Sohn versuchte, sofort einzulenlen: „Du weißt, ich gebe ja so viel auf Dein Urtheil, Dein Taktgefühl, beste Mama." „Nun also?" „Aber Benita hatte sich so sehr darauf gefreut, die Brahm- schen Lieder zu singen; es wird ihr schwer fallen, den Gedanken daran aufzugeben, und dann — wie gesagt, ich glaubte, für die Armen " „Kann man seine Hilfsbereitschaft nicht auch auf andere Weise bethätigen?" fiel die alte Dame herbe ein; „sieh her, ich arbeite für die Armen, ich stricke Strümpfe für arme Kinder. Weshalb kann Deine Frau nicht das Gleiche thun? Aber sie liebt cs ja leider nicht, Strümpfe zu stricken." „Mama!" Es lag eine gewisse Warnung in dem Ausruf, den die alte Dame jedoch zu überhören schien. Unbeirrt fuhr sie fort: „Und was das Entsagen anbetrifft, müssen wir Alle uns nicht darin üben? Hier handelt es sich nur um eine kindische Marotte Be- nita's; ist es aber nicht tausend Mal härter, einen Lieblings wunsch, den man Jahre hindurch hegt, unerfüllt zu wissen? Oft genug wird man durch das Eingreifen des Schicksals zur Ent sagung gezwungen." ES lag ein tieferer Sinn in den Worten der alten Dame; Günther, ihr Sohn, unterdrückte einen Seufzer; dann erhob er sich schnell und trat an seine Mutter heran, um ihre Hand zu er greifen und an seine Lippen zu ziehen. „Benita wird 'sich nicht an diesem Wohlthätigkeitsconcert be theiligen", sagte er fest, „ich werde 'sie veranlassen, Frau v. Els- roth, die das Ganze arrangirt, abzuschreibcn. Doch Du er laubst, Mama, daß ich mich jetzt von Dir verabschiede, ich will dem Kleinen noch einen Gutenachtkuß geben, und dann wird es Zeit für mich sein, Toilette zu machen. Erwarte uns heute nicht zum Thee, Mama; Eugenie hat ja, wie Du weißt, ihren ersten Empfangsabend in dieser Saison; ich habe ihr versprechen müssen, an demselben nicht zu fehlen. Benita begleitet mich. Und Du bleibst dabei, Mama, nicht hinzugehen? Aber Papa wird doch jedenfalls dort sein?" „Nein, Papa hat heute seinen Bostonabend — und ich — aufrichtig gestanden, mir ist die Gesellschaft an Eugeniens Empfangsabenden etwas zu bunt, zu lärmend. Sie sucht eben Ersatz im Trouble der Geselligkeit, Eugenie, das arm« Kind", fügte die alte Dame, wie zu sich selbst redend, hinzu. Günther biß sich unmuthig auf die Lippen. „O, Mama, ich glaube, im Gcfellschaftstrouble bewegt sich Eugenie in ihrem eigensten Element, sie ist ja durch und durch Weltdame." „Du bist im Jrrthum, mein Sohn. Lehre mich doch nicht den Charakter dieses jungen Wesens, das ich beim ersten Anblick in mein Herz geschlossen, kennen. Eugenie hat das Naturell ihrer verstorbenen Mutter, meiner einzigen, unvergeßlichen Schwester, geerbt; wenn sie jetzt dazwischen in falsche Bahnen lenkt, so hat dies sein« guten Gründe. Ich täusche mich in dieser Hinsicht nicht. Sie hat vielleicht eben auch entsagen müssen, die arme Eugenie, und bei ihr handelte cs sich nicht um den albernen, eitlen Wunsch, durch den Vortrag einiger Lieder und Arien zu glänzen." Ueber Günther's hübsche, männliche Züge fliegt ein eigen- thümliches Zucken, es ist, als schwebe ihm eine heftige Entgegnung auf den Lippen, jedoch er bezwingt sich und sagt ruhig: „Gute Nacht, also, Mama." Dann verschwindet seine Gestalt hinter den schweren, dunklen Portieren. Seine Mutter hat ihre Arbeit in den Schooß sinken lassen. Es ist mäuschenstill in dem gediegen und komfortabel, aber ohne jede Pracht und Ueberladung eingerichteten Gemach. Die alte Handlungsfirma Grooßfeld und Söhne besteht schon seit vielen Jahrzehnten, sie ruht auf sicherem Fundament, und ihre Vertreter haben es von 'eher verstanden, sie zu Ehren zu bringen. Durch wohlüberlegte, vortheilhafte Heirathen hatten sich die Kinder des Hauses mit anderen angesehenen Firmen verschwägert, bis der einzige Sohn des jetzigen Inhabers des Handlungshauses Grooßfeld, Günther, ein strebsamer, tüchtiger junger Mann, der, mit allen Vorzügen des alten Patriciergeschlechtes begabt, seinen Eltern die bittere Enttäuschung bereitete, sein Herz an eine junge Opernsängerin zu verlieren. Er wollte sie heirathen um jeden Preis, die reizende Benita Hilmer mit der Nachtigallenkehle und den lichtbraunen, berückenden Augen, er wollte sie heirathen, und er setzte seinen Willen durch nach schweren Kämpfen. Besonders Frau Jutta Grooßfeld war bis in das innerste Herz getroffen durch diese Wahl ihres einzigen vergötterten Sohnes, des einzigen Kindes, das Gott ihr geschenkt. Sie hatte sich Günther's Zu kunft ganz anders gedacht, sie hatte den Wunsch gehegt, ihn mit seiner Cousine Eugenie, welche, seit mehreren Jahren verwaist, bei den Grooßfelds eine Heimath gefunden, vermählt zu sehen, und hatte diesen LieÜlingstraum unter tiefem Kummer zu Grabe getragen. Eugenie war die einzige Erbin eines bedeutenden, von ihren Eltern hinterlassenen Vermögens, dazu hübsch und pikant, und daß sie dem blonden Detter Günther gern ihr Jawort ge geben, darüber konnte im Familienkreise eigentlich kein Zweifel herrschen. Bald nach Günther's declarirter Verlobung traf auch sie ihre Wahl und setzte es durch, daß ihre Hochzeit mit einem reichen jungen Kaufmann, der um ihre Hand angehalten, noch vor der ihres Vetters gefeiert wurde. Die Verlassene, Verschmähte zu spielen, fiel ihr gar nicht ein; sie verstand es, trotz ihrer Jugend, sich zu beherrschen und schien eine strahlende Braut zu sein. Die Hallen der alten Domkirche hatten lange keinen so glän zenden HochzeitSzug begrüßt, wie den, an dessen Spitze Eugenie neben dem überschlanken, lebhaft an einen hageren Eng länder erinnernden Horst Denken dahinschritt. Nach eingenommenem Hochzeitsdiner reiste das.junge Paar nach dem Süden; als es zurückkehrte nach R., hatte Günther seine Benita in aller Stille heimgeführt in bas Haus seiner Eltern. So und nicht anders hatte eS Frau Jutta gewollt. Günther und seine Frau bewohnten eine Etage des imposanten Gebäudes, welches Herr Joachim Grooßfeld vor einigen Jahren hatte erbauen lassen, und das fast einem kleinen Palais glich. Günther und Benita hätten es zwar vorgezogen, getrennt von den Eltern zu wohnen und eine selbstständige Häuslichkeit zu be sitzen, doch mußten sie sich schließlich dem bestimmt ausgesprochenen Wunsche der Mutter fügen. Die alte Dame hatte, ihrer Meinung nach, schon genug an Opfern gebracht, dadurch, daß sie einem Lieblingswunsche entsagt und die unwillkommene Schwieger tochter unter ihr Dach aufnahm; die Bettel- und Theater prinzessin, wie sie Benita im Stillen nannte, würde cs ja doch nicht verstehen, so für Günther's leibliches Wohl zu sorgen, wie er es gewohnt; Günther sollte in dieser Hinsicht wenigstens nichts entbehren, und deshalb hatte Frau Jutta darauf bestanden, daß das junge Paar keinen eigenen Haushalt einrichte. Man speiste gemeinschaftli h, und Benita, die sich, wie sie sich's heimlich oft eingestand, eigentlich wie ein Gast vorkam in den stilvollen Räumen des weitläufigen Hauses, litt schweigend darunter, daß es ihr nicht vergönnt war, gleich anderen Frauen ihren Mann mit liebender, housfräulicher Fürsorge zu umgeben. Es war nach wie vor di: Mutter, welche Günther seine Lieblings speisen bereiten ließ, und ihm jeden seiner, seine Behaglichkeit betreffenden Wünsche vvn den Augen abzusehen schien. „Aber seine Seele ist mein", dachte Benita, „und Vorsingen darf ich ihm." Mit ihrer süßen, glockenhellen Stimme hatte sie sich ja auch zuerst in sein Herz gestohlen. Er konnte, in einem Sessel des Salons halb vergraben, ihr stundenlang zuhören, wenn sie spielte und sang, seine Lieblmgsmclodien zu ihrem Vortrag wählend. Ihr volltönender Mezzosopran schwebte rein und wohllautend durch den Musiksalon, den er ihr hatte einrichten lassen, obgleich seine Mutte: dies grollend für überflüssig erklärt. „Wenn Be nita Deine Frau geworden, Günther, muß sie eben mit Allem brechen, was an ihre Theaterlaufbahn erinnert. In unserer Familie hat Solches noch niemals weder Eingang, noch Raum gefunden." „Ja freilich, Kunstsinn haben die Grooßfelds nie in besonders hohem Maß: besessen", halte Günther mit unwirklichem Lächeln, aber in bescheidener Haftung erwidert. „Dafür aber soliden, praktischen, echt kaufmännischen Sinn", hatte es scharf von Frau Jutta's Lippen geklungen. „Du vergißt, Mama, daß Benita einer Künstlerfamilie ent stammt und selbst Künstlerin ist; und mit der Kunst bricht man nicht so leicht", hatte Günther entgegnet. Zuweilen lag ein Etwas in seiner Stimme, welches seine herrschsüchtige Mutter warnte, seinen Wünschen weiter entgegenzutrelen. Sie hatte also ge schwiegen und cs ruhig geschehen lassen, daß Günther seinem jungen Weibe den elegant und zweckentsprechend eingerichteten Musiksalon als Hochzeitsgabe dargebracht. Herr Joachim Grooßfeld, der Senior des Hauses, nahm die Heirath seines Sohnes von einer leichteren Seite. Er nannte Benita «inen „reizenden kleinen Käfer", und die junge Frau fühlte sich zu dem wohlwollenden, auf dem glattrasirten Antlitze stets einen jovialen Ausdruck festhaltenden Papa weit mehr hinge-
- Current page (TXT)
- METS file (XML)
- IIIF manifest (JSON)
- Show double pages
- No fulltext in gridpage mode.
- Show single page
- Rotate Left Rotate Right Reset Rotation
- Zoom In Zoom Out Fullscreen Mode