Warum küssen stell die Menschen? Von D r. Arno n h a li n E s ist gar nicht so lange her, da gab es auf die immerhin einigermaßen berechtigte Frage, warum sich die Men schen küssen, nur eine Antwort: die poetische. In den letzten Jahrzehnten wurde von der unpoetischen Wissenschaft nicht bloß über die ungeheuer wichtige Natur der Elektrizität mit Erfolg geforscht, sondern auch über die nicht minder wichtige Natur des Kusses. Wir haben jetzt schon so etwas wie eine Natur geschichte des Kusses. Sie ist nicht bloß für die Liebenden geschrieben. Aber auch nicht gegen die Liebenden. Die Angst, daß durch die ..trockenen Ent hüllungen“ über das wahre Wesen des Kusses das zarte Gewebe der Gefühle zerstört werden könnte, ist unberech tigt. Noch immer hat Wissen das Ge fühl gesteigert. Wir werden in Zeiten und Orte hin absteigen müssen, die noch hinter den Märchen und Mythen liegen. Vielleicht küssen sich schon Kristalle, wenn sie sich aneinanderschließen. Jedenfalls aber ist der Geburtstag des Kusses in jenen unvorstellbar fernen Zeiten zu suchen, da belebte Wesen auf dieser Erde er standen. Man kann von diesen Zeiten sagen: Am Anfang war der Mund. Die einfachsten einzelligen Lebewesen, jene Tropfen Leben, die wir unter dem Mikroskop sehen, sind im Grunde ge nommen nichts andres als — Mund. Sie umhüllen mit ihrem ganzen Körper ihre „Beute“, an jeder Stelle ihres ver schwommenen Leibes können sie Nah rung in sidi aufnehmen. In einer spä teren Entwicklungsperiode bildet sich als erstes, gegliedertes, erkennbares Organ — eine besondre Oeffnung im Zelleib — der gesonderte Mund. Nicht Kopf, nicht Fuß, nicht Hand — der Mund ist das erste wahre Organ der Tiere. So ist es nicht verwunderlich, daß die Pforte zur Außenwelt eine zentrale Be deutung für den weiteren Ausbau, für die Art der Entwicklung der Lebewesen einnahm und heute noch einnimmt. Von hier aus wurde das Verhältnis zwischen Tier und Umwelt festgelegt. Wir sind alle Mundtiere, Tiere, deren Leben, deren körperliche und seelische Organi sation im weitesten Maß vom Mund aus beeinflußt wurde und beeinflußt wird. Doch verweilen wir noch einen Augenblick bei den einzelligen Lebe wesen. Die zwei Lebeklümpchen nähern sich einander. Sie berühren sich, sie —