112 Gerhard von Ksußler, ist es einst Luther beschicken gewesen, seinen Einspruch persönlich kundzutun, wiederholt, zuletzt wohl im Babstischcn Gesangbuch von 1545. An der Hand unserer anderthalbtausend Choralbücher — seit Luther bis auf unsere Zeit — kann man, durch mancherlei Vor rede aufgeklärt, allmählich zu einer pragmatischen Geschichte unseres Chorals und seiner Technik gelangen und kann so, auch von diesem Standort aus, die Bedeutung Bachs zu würdigen beginnen, liturgie geschichtlich, in Manier und Stil. Schon bei den Vorfragen der Melodik mit ihrem Verzierungs wesen kommt unser Urteil nicht ohne Mitschwingungen stilgeschicht lichen Wissens während des Fühlens zurecht. Am ehesten maßgeblich ermöglicht sich unser Urteil für lind gegen Koloratur, Meliöma, Blume und ähnliche Vegetabilicn dank unserem bewußten Erfühlen von Klima, von Bodenbeschaffenheit und von den sonstigen Lebensbedingungen der jeweiligen Formation. Je höher im Ge birge und je näher dem Firn, umso spärlicher Blüte und Ranke. Mit weichem Wohlgeruch ist das Tal gesättigt, das windstille Tal. So haben die Choralmelodicn von Bachs Nachfolger Doles daS Treibhaus zu St. Thomac mit einem allzu aufdringlichen Gedüste überwölbt. Gewiß weilt auch Bach mit seinen Choral-Fioriturcn nicht selten im Tal und im Gemäuer, doch immer nur, wenn der Text es zuläßt oder — nach damaliger Aesthesie — ,gebietet'; nie aber einem melischen Schema zu Liebe, wie das bei Doles und Quantz die Regel ist. Zur Würdigung der Choraltechnik Bachs benötigen wir also drei Bestände des Mitwifsens und Mitwollens: Geschichtliche Kenntnisse, soziologische Einsichten und wertkritische Bürgschaften. Für uns als Praktiker von heute, wie als Verwalter der bachijchen Erbgüter im allgemeinen und seines Choralwcrks im besonderen, kommt es also zuerst und zuletzt darauf an, welche Verbindlichkeit der neuerweckte, wenn nicht ausgerüttclte Glaube an das Einst in uns auslöst, ein Glaube an die siegessicheren Worttongefüge einer schwer wiederbringlichen Vergangenheit; ferner: welche Ver bindlichkeit auS unserer wach erklärten Liebe zu dem Jetzt er wächst, aus unserer Liebe zu der aus Geben und Nehmen gleich- teilig eingeschalteten Gegenwart; endlich: welche Verbindlichkeit aus unserer als unverlierbar beteuerten Hoffnung auf ein Bald wenn