Gerhard von Keußler, N4 als neu, als zukunftoffen? Eindeutig beantwortet wird diese Frage im Credo der U-moll-Mcsse. Da werden Neu Lind Alt gegenein ander auögespielt. Im ersten Crcdosatz wird um einen alten, mittel alterlichen und insofern katholischen Choral eine vornehmlich nieder ländische Polyphonic gemeistert, wonach sich der Protestant Bach — während des zweiten Credosatzes — in freizügiger Harmonik ergeht. Dort: strenge Observanz, hier: ungebundene Versalität; dort: kontrapunktische Haltung, hier: akkordische Fluktuation; dort: thematisches Gerüst, hier: motivisches Jntarsienspiel. Wie bei aller Technik, so auch in der Musik, beschäftigen den schaffenden Praktiker zuerst die Fragen des Rohstoffs. Woher und mit welchen Mitteln ist der Rohstoff zu gewinnen? wofür lind mit welch anderen Mitteln soll auS dein bereits gewonnenen Roh stoff etwas gültig Nehmbares — der Gebrauchsgegenftand — her- gestellt werden? Und in dieser funktiv-ästhetischen Einstellung lassen sich auch Bachs Choräle als Gcbrauchsgegenstände betrachten, als liturgische Utensilien; cs sind: Bachs Choralvorspiele, Bachs Choral variationen und, kommunal als Hauptsache, Bachs Choralgesänge. Die Werke der ersten zwei Gruppen — die Vorspiele und Varia tionen — sind durchweg Schöpfungen zu fertig übernommenen Melodien, während unter den Gesängen sich einige befinden, deren Melodie von Bach selbst stammt. Es sind dies vornehmlich die Original-Weisen des Schemcllischcn Choralbuchs. Ihre Zahl schwankt — je nach den Beweiöartcn der modernen Bachkritik — um 20 herum. Was eS an Artistischem in Bachs Choraltechnik gibt, daö ge hört in das Seminar der Organisten und Kantoren, wie in die Schule deS Chorgesanges. Wenn — für die vorbachische Zeit — die verschiedenen Techncn deS Choralvorspiels so charakterisiert werden, daß wir Pachelbel, Böhm und Buxtehude als bachbestimmende Prototypen vorgesetzt erhalten, so muß Bach selbst in vielen seiner Choralvorspiele als Eklektiker oder Synkretiker erscheinen. Er ist aber Evolutionär; Lind eine Durchwirkung der alten Motettentechnik mit den Faktoren der auSzierendcn Mclopöie ist das bachische Ergebnis in der Choral- tcchnik seines „Orgelbüchleins". Wie nun von hier auS das tech nische Geistesleben — der Geist in der Mechanik — neue Impulse erhält; welcherlei neue Gcstaltungsweisen motivischer Arbeit auf-