Zu Bachs Choraltechnik. 115 kommen und sich als Typen festsetzen; auf was für ein Durch- sührungsprinzip späterhin der geniale Techniker Haydn verfällt und technisch von niemand bester erkannt und höher geschätzt wird als von Beethoven — und warum! —, das alles gehört in jenen Lehr gang, in dem man die Technik und geschichtliche Einschaltung von Bacbs Orgelbüchlein studiert. Eine mächtige Fülle technischer Sonder sragen breitet sich aus. Welches Verfahren kennzeichnet Bachs poly phone Rollenverteilung? Wie werden die thematischen Individuen differenziert? Welche Handhaben der Überordnung, der Gleichordnung und Unterordnung bevorzugt Bach in seinen Choralvorspielen — auch außerhalb des Orgelbüchleins —? Wo soll der cantus kirmus herr schen, wo soll er nur merklich mittätig sein, und wo soll man ihn bloß erahnen können? Die große si'-dur-Phantasie „Komm heiliger Geist, Herre Gott" sucht die Bedeutung des vierstimmigen, auf Sechszehntel-Bewegung egalisierten Manualkdrpers dem Pedal unlerzuordnen, das heißt: es herrscht der cautus lirmus im Pedal, wo er sich in großen und größten Noten werten hält. — Und welch erhebende Cantilenenrolle spielt die nur mit 4-Fuß-Registern genommene, also in der Sopranlage ertönende Pedal stimme „Christ, unser Herr, zum Jordan kam", Z-, c-moll. Als ein bestes Beispiel für kompositorische Gleichordnung des Pedals erscheint Las Orgeltrio „Nun komm, der Heiden Heiland". Beim Orgelkanon lu clulci judüo Hort man die Pedalstimme — auch die Pedalstimme — Las ganze Weihnachtslied mitsingen. Und ebenfalls im Orgelbüchlein zeigt Bach gelegentlich, wie er eine unterzuordnende, scheinbar nichtige Pedalstimme als unerläßlich und wesentlich dar zustellen weiß: „Komm Gott Schöpfer, heiliger Geist". Schon lange vor Bach mußten bekanntlich die deutschen Organisten auf dem Pedal zweistimmig spielen können. Daß man mit diesem Satzmittel gelegentlich auf Bravour und Demonstration ausging, darf uns nicht über das Aufkommen, über die rein kompositorische Biogenese dieser Technik täuschen. Sie ist vor allem aus einer Ökonomie heraus zu ver stehen. Will man einen 6-stimmigen Satz, etwa im durchimiticrenden Stil gehalten, auf der Orgel ausfüdren, so ist die Kombination mä 2 -s- ms 2 pect 2 der gegebene Anreiz für eine zweistimmige Pedalsetzung. Bachs 5-stimmiges Choralvorspiel „An Wasserflüssen Babylon" ist auf die Teilung 1 ^ 2 -s- 2 angelegt, das heißt: das I. Manual wird nur mit 1 Stimme betraut; diese eine Stimme — und nur sie — hat den cLQtus lirmus zu führen, und eben dieser crmtus lirmus soll sich von der 4-stimmigen Folie abheben. Daß von den 4 Begleitstimmen die linke Hand allein die drei Oberstimmen Lbernekme, ist der Applikatur nach unmöglich, also hat das Pedal — natürlich nur mit 8-Fuß- Registern — die beiden Unterstimmen zu bringen. — Im ersten Choral- Bach-Zahrbllch 1927. 8