Zwei Durchformungsmodi der Tripelfuge zum Fragment aus der "Kunst der Fuge" von Johann Sebastian Bach und Praktische Anwendung der im Studium der "Kunst der Fuge" gewonnenen Erkenntnisse vom perspektivischen (dreidimensionalen) Raume auf die Durchformung der Fuge
64 Bernhard Martin Der Rahmensatz ist eine erste Normung der Raum-Zeitstruktur. Diese Normung, die viele Möglichkeiten weiterer Durchformungen in sich birgt, erfährt in jeder neu aufruhenden Phase eine Besonderung und Verengung und Verzicht auf die Sichtbarkeit aller dieser Möglichkeiten bis auf jeweils eine, die in der betreffenden Phase zur Ausführung gelangt. Dimensionen des Rahmensatzes und die perspektivischen Ebenen der Falten Der Rahmensatz erstreckt sich nach zwei Richtungen: Die Stufen bilden mit den zugehörigen Intervallen der Oberstimme die Vertikal richtung, in der Durchformung des Oktavraumes durch die Tonleiter 1 ) und in der Stufenfolge der Kadenz kommt die Horizontalrichtung zum Ausdruck. Beide Richtungen der räumlichen Erstreckung, die vertikale und horizontale, konstituieren in ihrem gegenseitigen Bezug und funktio nellen Durchdringen die Ganzheit der Vordergrundebene 2 ). Die Ganzheit der Vordergrundebene gründet auf der zweidimensionalen Entfaltung einer eindimensionalen vertikalen Grundphase der organi schen Schicht. Wenn nun die durch Stufe und Intervalle gebildeten neuen Vertikalzustände des Rahmensatzes ihrerseits horizontal durch formt werden, dann entstehen wieder ganzheitliche Räume (Ebenen), die keinesfalls in die Richtung der Vordergrundebene fallen können, wie es die Notenschrift glauben machen will. Würden diese neuen Ebenen, die sich durch die Falten konstituieren, in die Richtung der Vordergrund ebene fallen, dann stünde im Vordergründe eine Reihe von selbständigen Ebenen beziehungslos nebeneinander, dann wäre die Vordergrundebene keine ganzheitliche Raumstruktur, sondern nur ein Aggregat von neben einander geordneten Räumen. Soll die Vorstellung eines ganzheitlichen Raumgefüges zu Recht bestehen, dann sind wir gezwungen, die Falten, die in der Fuge von den Themeneinsätzen und den zugehörigen Kontra punkten gebildet werden, vom Vordergründe ab- und in die Per spektive einzubiegen. Dieses räumliche Verhältnis kommt aber in der Notenschrift nicht zum Ausdruck. Das veranlaßte uns zu einer Ab änderung des Notensystems 3 ). Nach verschiedenen Zwischenformen stellte sich die Form als zweckmäßig heraus, wonach das Nebeneinander der Rahmensatzmomente im Vordergründe durch ein eingeschaltetes Schrägstück, die Durchformung in der Perspektive jedoch in der ge wohnten Ebene des Notensystems dargestellt werden: J ) Die alte Behauptung: „Die Tonleiter ist die vollkommenste Melodie“ besteht also durch aus zu Recht, solange die erste Phase der Durchformung gemeint ist. 2 ) Hier ist zu erwähnen, daß H. Schenker, dem unsere Arbeit in einem früheren Stadium viel verdankt, nicht mehr bis zur Aufdeckung der Dimensionen vorgedrungen ist. Daraus erklärt sich, daß seine Begriffe „Vordergrund“ und „Hintergrund“ keine Ebenen des Rau mes, sondern die oberste und unterste Phase der Raumgenese bezeichnen. Diese Änderung ist zunächst nur für wissenschaftliche Zwecke gedacht.