Bachiana auf Ab- und Umwegen 207 Ein Jahrzehnt später fragte Weinligs Amtsnachfolger Moritz Hauptmann in seinem zweiten Amtsjahr bei Franz Hauser an: ..Haben Sie denn wohl die Partituren der 43 Kirchenstücke, welche in Stimmen auf unsrer Schule liegen? ich habe zwei in Partitur schreiben lassen, es ist aber mühselig, und wenn ich wüßte daß sie jemand schon hätte, möchte ich sie lieber kopiren lassen.“ 15 Weitere 18 Jahre später heißt es in einem Brief Hauptmanns an Louis Köhler (1820-1886) 16 etwas respektlos: „Was Ihre Desideria an alter Musik, namentlich alter Claviermusik, von unsrer Thomasbibliothek betrifft, so thut mir’s doppelt leid sagen zu müssen, einmal für Sie, dann auch für mich selbst, daß die Bibliothek der Thomasschule etwas sehr Un bedeutendes ist. Es sind wohl aus früheren Zeiten einige Scharteken da, unter denen sich auch manche interessantere Sachen, Opern von Lulli und Rameau befinden. Gott weiß wie die herein gekommen sind; aber ein irgend zeitlich Gesammeltes findet sich nicht. Es ist wohl von jeher gewesen wie jetzt, daß der Cantor alles für sein Geld schaffen mußte was gebraucht wurde, und dies war nach seinem Tode Eigenthum der Familie, die es mit sich nahm. Daher von Seb. Bach nichts da ist als ein in Gedanken liegen gebliebener defecter Jahrgang Kirchencantaten (43 Stück) in Stimmen ohne Partitur. Auch hier blieb der Nachlaß der Familie.“ 17 In diesen Kontext gehört auch die Klage des ersten wissenschaftlichen Bach- Biographen Carl Hermann Bitter über die Verluste an ungedruckten Werken: „Und doch befand sich das Meiste in den Händen der Söhne und im Besitz der Thomas-Schule. Was dieser angehört hatte, ist bis auf wenige unbedeutende Ueberreste verschwunden. Sorglosigkeit, vielleicht auch unedle Habsucht haben zusammengewirkt, um die Stätte, an der der große Meister geschaffen hatte, jener Schätze zu berauben, die ihr ein un veräußerliches Denkmal seiner Thätigkeit hätte bleiben sollen. Nur wenige Blätter aus 15 Briefe von Moritz Hauptmann ...an Franz Hauser. Hrsg, von Alfred Schöne, Bd. 2. Leipzig 1871. S. 18 (Brief vom 30.7.1844). 16 Zu dessen früher Begegnung mit dem Bach-Spiel des Forkel-Schülers Friedrich Conrad Griepenkerl vgl. Aus den Werdejahren der neudeutschen Musik. Louis Köhlers Erinnerungen und Schriften. In Auswahl hrsg. von Erwin Kroll, Königs berg 1933. S. 35f. 17 Briefe von Moritz Hauptmann ... an Ludwig Spohr und Andere. Hrsg, von Ferdi nand Hitler. Neue Folge der Hauptmann'sehen Briefe, Leipzig 1876. S.128 (Brief vom 7. September 1862). Werke von Rameau sind in LBB 11 nicht verzeichnet. Zu Weinligs Klage über vermeintlich gestohlene Partituren und zur tatsächlichen Überlieferung dieser Quellen vgl. K. Lehmann, Neues zur Vorgeschichte der Bach- Sammlung Franz Hausers. Dokumente zum Überlieferungskreis C. F. Penzel - J. G. Schuster aus dem Zeitraum 1801-1833. BzBf 6 (1988). S. 65-81.