Zur Chronologie der Leipziger Vokalwerke J. S. Bachs 7 auch hier Philipp Spitta alles Wesentliche gesagt und dabei, berücksichtigt man die Mittel seiner Zeit, wahrhaft Staunenswertes geleistet; um so ver wunderlicher ist es deshalb, daß in der Folgezeit, angesichts der ungeheuren Möglichkeiten, die die Photographie mit sich brachte, niemand Neigung verspürte, auf dem einmal eingeschlagenen Wege diplomatischer Quellen kritik weiterzugehen, und man entweder im Vertrauen auf die Gründlich keit des großen Bach-Biographen auf eine eigene Nachprüfung ganz ver zichtete oder sich in gewagten Spekulationen erging, bei denen die geist reiche Formulierung leider nur allzuoft in umgekehrtem Verhältnis zur Beweiskraft ihrer Thesen stand. Einige typische Fälle mögen die Situation erläutern: • Ein zentrales Argument Spittas bei der chronologischen Einordnung der Kantaten ist seine These, das Kückpositiv der Thomaskirche sei im Jahre 1730 selbständig spielbar gemacht worden, alle Kompositionen mit obli gater Orgel seien daher nach diesem Umbau entstanden (vgl. Spitta II, 112 und 769!.). Diese Annahme hat nun B. F. Richter im Bach-Jahrbuch 1908, 49fr. widerlegt; dennoch halten Richter und mit ihm alle späteren Forscher an Spittas Einordnung der Kantaten mit obligater Orgel fest, obwohl die Voraussetzung dafür entfallen ist. — Symptomatisch sind ferner Arnold Scherings Umdatierungen des Weihnachtsoratoriums (BJ 1933, 36 ff.), sowie der Matthäus- und der Markus-Passion (BJ 193 9,1 ff.), weil sie mit ein ement- waffnenden Aufwand an Gelehrsamkeit und mit brillanter Diktion einer lediglich auf persönlichem Dafürhalten gegründeten Meinung das Wort reden. — Und selbst die neuesten Forschungen — einschließlich meiner eigenen 2 — haben bis heute stets die nunmehr bald hundert Jahre zurück liegenden Forschungsergebnisse Spittas weitergegeben. Mit der modernen Papierforschung sowie der Auswertungsmöglichkeit schriftkundlicher Befunde mit Hilfe der Fotokopie sind uns jedoch in den letzten Jahrzehnten zwei Hilfsmittel erwachsen, an denen die Forschung nicht Vorbeigehen darf. Es ist bedauerlich, daß in der Zeit zwischen beiden -Weltkriegen, als die Quellenarbeit noch nicht unter den Nachwirkungen von Verlagerung und Bombenschaden zu leiden hatte, in der unerschöpf lichen Fülle der Bach-Literatur nicht ein einziges Werk zu finden ist, das sich in größerem Umfang mit der Untersuchung der Badischen Original handschriften befaßt hätte, obwohl es doch offenkundig war, daß weder eine Gesamtbiographie von der Art des Spittaschen Werkes noch eine zu fallsbedingte Zusammenfassung einzelner Kompositionen in der BG die rich tige Gelegenheit zu planmäßiger und erschöpfender Durchforschung sämt licher Handschriften nach bestimmten Merkmalen hatte bieten können. Erst die systematische Sammlung der Originalquellen im Rahmen der Neuen Bach-Äusgabe~bildete freilich die geeignete"BasiiTür ausgedehnte 2 Ausgenommen hiervon sind die durch die Themenstellung nicht betroffenen Datie rungen der vor 1723 entstandenen Kantaten durch F. Smend (Bach in Köthen, Berlin 1951) und den Verfasser (Studien über die frühen Kantaten J. S. Bachs, Leipzig 1951).