IO Alfred Dürr stehende Tabelle, was die Stimmenzahl für die einzelnen Instrumente be trifft, grundsätzlich Gültigkeit behält. Schon während Bachs Lebenszeit traten die ersten Verluste an Aufführungs material ein. Aus einem Brief Johann Elias Bachs vom 28. 1. 1741 erfahren wir z. B., daß Bach die Stimmen zu einer Baß-Solokantate ausgeliehen und noch nicht zurückerhalten habe; „die Partitur aber will er nicht aus den Händen geben, weil er auf solche Art schon um viele Sachen gekommen ist“. Häufig mußte daher in späterer Zeit noch ein zweiter Stimmensatz oder gar eine neue Partitur geschrieben werden, so daß uns eine Reihe von Werken in mehreren Originalhandschriften erhalten ist. II. Die Überlieferung der Originalhandschriften Der Nekrolog meldet, daß Bach fünf Tahrgänge von Kirchenstücken, fünf Passionsmusiken und eine größere Anzahl weiterer Vokalwerke hinter lassen habe * * * 4 . Nach dem Zeugnis Forkels 5 wurden die Kantaten)ahrgänge „nach des Verfassers Tode unter die älteren Söhne vertheilt, und c(war so, daß Wilh. Friedemann das meiste davon bekam“. Friedemann verkaufte jedoch seinen Be sitz im Lauf seines weiteren Lebens; und wenn es schon ihm selbst zu Leb zeiten nicht mehr möglich war, den Verbleib seines Erbteils festzustellen 6 , so dürfen wir heute erst recht nicht darauf hoffen, jemals einen vollständigen Überblick über seinen einstigen Besitz zu gewinnen. Eine Sonderstudie könnte vielleicht in einzelnen Fällen Klarheit schaffen; doch würde dies hier zu weit führen. Deutlicher überschaubar ist das Erbteil Philipp Ema- nuels, dessen Nachlaß Verzeichnis 7 zu den meisten Sonntagen des Kirchen jahres je zwei Kantaten nennt, dazu zwei Passionen (Matthäus- und Johannes- Passion), so daß man gemeinhin angenommen hat, Friedemann habe drei, Emanuel zwei Jahrgänge geerbt (vgl. BG 12 2 , S. V u. BG 13 1 , S. XIII). Doch bedarf diese These einer Korrektur. Wie oben dargelegt, bestand das vollständige Handschriftenmaterial eines Vokalwerks einesteils aus der Partitur, anderenteils aus den Stimmen. Dadurch war es möglich, das Werk nicht nur an einen, sondern an zwei Erben zu überliefern. Tatsächlich läßt sich auch in den meisten Fällen er- kennen, daß irgendwann im Laufe der Zeit eine Teilung stattgefunden hat, wobei nach der einen Seite ein einfacher Stimmensatz, nach der andern die Partitur mit den Stimmendubletten weitergegeben wurden. Dieses eigen artige Verfahren, die Dubletten zur Partitur zu schlagen, erklärt sich daraus, daß der Besitzer der Partitur unter den damaligen Verhältnissen als der Benachteiligte galt. Denn eine Aufführung ohne Partitur war durchaus nichts Ungewöbnliches — der Dirigent leitete die Aufführung dann nach 4 Vgl. den Neudruck, BJ 1920, S. 13 ff. 5 Über Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke, Leipzig 1802, S. 61. Faksimile- Druck Frankfurt 1950. 6 Vgl. den bei M.Falck, Wilhelm Friedemann Bach, Leipzig 1913 abgedruckten Brief vom 4. 7. 1778 an Eschenburg (Neudruck Lindau 1936, S. 54f.). 7 Vgl. den Neudruck im BJ, insbesondere BJ 1939, S. 88—93.