122 Werner Breig trauten Publikum eine richtigere Orientierung über die (äußere und innere) Größe des Zyklus vermitteln konnte, als es - damals - eine Aufführung auf dem Cembalo vermocht hätte. Und auch die Bearbeitungen für Kammerorche ster, an die die Fassung für großes Orchester bald die Vorherrschaft abgeben mußte, verfügen über mehr Möglichkeiten der Gliederung und Akzentuierung im großen sowie der Gestaltung des Stimmengewebes im kleinen als das Ta steninstrument. So gewiß diese Instrumentierungen keine einfachen Realisierun gen des Bachschen Notentextes sind, sondern Bearbeitungen, die der Kenner sogar als partielle Verfälschungen empfinden mag: Es waren jedenfalls diese Versionen, die die „Kunst der Fuge“ „konzertfähig“ machten und einem großen Hörerkreis den Zugang zu ihr vermittelten. Demgegenüber konnte es nur von geringer Wirkung sein, wenn Heinrich Hus- mann seinen Aufsatz im Bach-Jahrbuch 1938 mit dem Satz beschloß: „Möchten diese Darlegungen dazu dienen, die ,Kunst der Fuge“ wieder in den Raum zu stellen, in den sie gehört, - in die Stube des verständnisvollen Musikliebhabers und auf das Pult des in sich gewandten Organisten.“ 49 Angesichts solcher Kon sequenzen historischer Erkenntnisse für die Gegenwart mag es den Praktikern gar nicht ratsam erschienen sein, den Dialog mit der Wissenschaft zu suchen; denn Kammerorchesterdirigenten und -Spieler konnten davon nichts anderes erwarten, als daß der Wissenschaftler ihnen verbieten würde, das zu tun, was sie mit Enthusiasmus taten und was die Hörer mit ebensolchem Enthusiasmus aufnahmen. Husmanns Mahnung, zur vermutlichen Aufführungspraxis der Bach-Zeit zu rückzukehren, war nicht nur zur Folgenlosigkeit verurteilt, sondern stellte strenggenommen auch eine Kompetenzüberschreitung des Historikers dar. Si; konnte zu ihrer Zeit, als die Musikwissenschaft daran gewöhnt war, in Fragen der „alten Musik“ unmittelbar für eine im allgemeinen puristisch gesinnte Praxis zu arbeiten, kaum als solche bemerkt werden. Heute jedoch, da die Bearbei tungen von Spätwerken Bachs durch Anton Webern (Ricercar aus dem „Mu sikalischen Opfer“) und Igor Strawinsky („Kanonische Veränderungen“) be reits Klassizität erlangt haben und Contrapunctus 1 aus der „Kunst der Fuge“ in verfremdenden Bearbeitungen von Gerd Zacher und Dieter Schnebel zu hören ist, dürfte es leichter sein, ein Bewußtsein davon zu haben, daß Erkennt nisse darüber, „wie es war“, bei der Entscheidung über die Art der Wieder gabe von älterer Musik zwar als ein notwendiger, aber nicht als der einzige maßgebliche Faktor zu gelten haben. Da vergangene Aufführungsumstände ohnehin nicht wiederherstellbar sind (und wären sie es, so fehlte immer noch der „authentische“ Hörer), so muß es der jeweiligen Gegenwart überlassen bleiben, in welchen „Raum“ sie historische Kunstwerke stellen will. Fällt dabei für die „Kunst der Fuge“ die Entscheidung für eine geschlossene Aufführung in Form einer Konzertveranstaltung, so kann diese Entscheidung für sich in Anspruch nehmen, daß sie einen komponierten zyklischen Werkzusammenhang hörbar macht. (Die Legitimation einer solchen Aufführungsweise kann um so weniger zweifelhaft sein, als auch Opera von eindeutigem Sammlungs-Charak ter, wie z. B. das Wohltemperierte Klavier, die Brandenburgischen Konzerte 49 Husmann, a. a. O., S. 61.