J. S. Bach — Orgelsachverständiger 35 Obgleich nicht bekannt ist, daß die beiden letztgenannten Umbaufälle mit Joh. Seb. Bach in Verbindung gebracht werden könnten, geben sie doch brauchbare Beispiele ab für die in der Zeit um 1700 in Mittel- und Norddeutschland ver breitete Verfahrensweise bei Orgelmodernisierungen: ein unter Kirchenmusi kern zweifellos vieldiskutiertes Thema, nicht zuletzt auch später in Weimar (Umbau der Schloßkirchenorgel 1712-1714) und Leipzig (Umbau der Thomas kirchenorgel 1721-1722 und 1730 sowie der Nikolaikirchenorgel 1724-1725). Doch worin könnten jene Diskussionen in Kirchenmusikerkreisen bestanden ha ben? Sollte man sich etwa vorstellen, daß Böhm und der junge Bach 12 mit Or gelbauern sprachen, das Innere der Instrumente untersuchten, die technischen Probleme des Winddrucks, der Legierungen für die Metallpfeifen oder den Aufbau der Mixturen erörterten? Erlaubt unsere Kenntnis der hierarchischen Gesellschaftsstrukturen und Berufsabgrenzungen jener Zeit anzunehmen, daß Organisten und insbesondere Kantoren so unmittelbar mit Orgelbauern zusam menarbeiteten? Und wenn ja, bezogen die Organisten ihre Kenntnisse aus dem persönlichen L'mgang mit Orgelbauern oder aus Büchern? Wenn C. Ph. E. Bach und spätere Autoren von Joh. Seb. Bachs Kenntnissen im Orgelbau spre chen, müssen wir dann annehmen, daß er (1) in dieser Hinsicht seine Zeitge nossen übertraf, (2) mehr wußte als seine Nachfolger, (3) einen Ausnahmefall darstellte, indem er sich mit organologischen Fragen befaßte, (4) darin zudem einer der letzten derartigen Experten war und (5) sich in diesen Dingen we niger als andere an Büchern orientierte? II In seinem „Vollkommenen Capellmeister“ (1739, S. 469) behandelt Johann Mattheson in uncharakteristisch knapper Form - war Orgelbau unter seiner Würde? wie man Kenntnisse im Orgelbau erwerben könne, und zwar durch Verweis auf Johann Philipp Bendelers „Organopoeia“, Michael Praetorius’ „Organographia“, Andreas Werckmeisters „Orgelprobe“ (1698), Carutius’ „Examen“ sowie einen handschriftlichen Traktat von David Schmidt. Werck- meister selbst verweist wegen verschiedener technischer Einzelheiten auf Prae torius, wegen Windladen-Maßen auf Bendeier, außerdem auf Christian Fömers Winddruck-Messer, ohne freilich den Namen Förner zu erwähnen. Bendeier bezeichnete Werckmeister als seinen Freund 13 und schrieb wie Arp Schnitger ein Widmungsgedicht für dessen „Orgelprobe“. Ein weiteres Lehrbuch wurde 1756 veröffentlicht, war jedoch angeblich schon sehr viel früher von dem Leip ziger Organisten Werner Fabricius geschrieben worden. 14 War Joh. Seb. Bach 12 Warum C. Ph. E. Bach in seinem Brief an Forkel vom 13. Januar 1775 unter den Er gänzungen zur Biographie seines Vaters die Bemerkung über das Studium der Werke von seinem Lüneburgischen Lehrmeister Böhmen in von dem Lünebur gischen Organi sten Böhmen (Dok III, S. 290, 288) änderte, kann nur vermutet werden: vielleicht ging es weniger darum, daß Böhm nicht sein Lehrmeister gewesen wäre, als um das Bild des Autodidakten? 11 Bcndeler um 1690, S. 58. 14 Fabricius starb bereits 1679. Seine „Gigue belle“ in der sogenannten „Möllerschen Handschrift“ (Wiedergabe bei Schering 1926, S. 424-428), nach Schering für Klavichord