J. S. Bach und die Universität Leipzig - Neue Quellen 169 Universität nachvollziehen zu können, ist ein Einblick in die Musikpflege an der Paulinerkirche unter Bachs Amtsvorgänger Johann Kuhnau in vielerlei Hinsicht aufschlußreich. 37 Seit der Amtszeit des Thomaskantors Sethus Calvisius (1556-1615) war das Amt des Akademischen Musikdirektors traditionell mit dem des Thomas kantors verknüpft. Gottesdienste fanden im Templum Paulinum bis zum Som mer 1710 jedoch nur an hohen Festen, am 1. Weihnachtstag, am Ostersonntag, am Pfingstsonntag und zum Reformationsfest statt. Der Thomaskantor hatte lediglich an diesen Festtagen die Orgel zu spielen und figurale Kirchenstücke aufzuführen. Entsprechend dieser Regelung war Johann Kuhnau mit der Übernahme des Thomaskantorats (am 6. Mai 1701) nicht nur Director musices der Stadt Leipzig, sondern zugleich auch Musikdirektor der Universität ge worden. Es ist daher verständlich, daß Kuhnau sich kompromittiert sah. als am 31. August 1710 in der Paulinerkirche die sogenannten „Neuen Gottesdienste“ (Gottesdienste an den regulären Sonn- und Feiertagen des Kirchenjahrs) ein geführt wurden und die Universität ohne sein Wissen einen Studenten für das Orgelspiel verpflichtete. Kuhnaus Einspruch erfolgte umgehend 38 und man einigte sich darauf, daß er das Organistenamt zwar pro forma beibehalten dürfe, sich fortan aber vertreten lassen müsse. Eine andere Lösung war nicht möglich, da der Universitätsgottesdienst um 9 Uhr begann, der Tho maskantor aber die Frühgottesdienste in den Hauptkirchen (St. Nikolai und St. Thomas) zu besorgen hatte. Diese begannen bereits um 7 Uhr und waren für gewöhnlich erst gegen 11 Uhr zu Ende. Bis nach der Predigt war der Thomaskantor daher unabkömmlich. Während der Kommunion wurde - wie Kuhnau 1717 in einem Memorial ausdrücklich hervorhob 39 - nicht figuraliter musiziert. Noch im Vorjahr hatte Kuhnau seine Position als Akademischer Musikdirektor unangefochten behaupten können und aus Anlaß des 300. Jahrestags der Universitätsgründung (am 4. Dezember 1709) in der Nikolaikirche mit den Thomasschülem und Stadtmusikem drei eigene Psalmvertonungen zur Aufführung gebracht - „Dies ist der Tag, den der Herr gemacht hat" (zum Anfang), „Der Herr hat Zion erwehlet“ (vor der Predigt) und „Halleluja, lobet 57 Das Thema ist in der älteren Bach-Literatur nur bei B. F. Richter, Joh. Seb. Bach und die Universität zu Leipzig. BJ 1925. S. 1-3. und A. Schering. Musikgeschichte Leipzigs, 2. Bd.. Leipzig 1926, S. 324-327, kurz abgehandelt worden. Soweit er sichtlich sind die diesbezüglichen Universitätsakten seitdem kaum wieder heran gezogen worden. 38 Sogleich am 1. September 1710 protestierte Kuhnau schriftlich dagegen, daß man am 29. August die Orgelschlüssel bei ihm habe abholen lassen, damit fortan ein anderer das Orgelwerk in der Paulinerkirche spiele. UAL. Rep. II I /// I B II 3, fol. 4r-5v, erstmals wiedergegeben bei Spitta II, S. 860. 39 Vgl. Spitta II, S. 864, und BJ 2001. S. 136 (A. Glöckner).