DAS SCHIFF BEIBLATT DER TYPOGRAPHISCHEN MITTEILUNGEN SCHRIFTLEITUNG: ERNST PRECZANG, BERLIN SW61, DREIBUNDSTRASSE 9 ^———hihi 11 NUMMER 2 FEBRUAR 1927 WAS IST DAS LEBEN? n unferm Gymnafium befteht folgender Brauch: Alle halbe Jahr wird in Ober- fekunda und Prima ein gemeinfames Auf- fatzthema ausgegeben. Nach vier Wochen wählen die Schüler aus ihrer Mitte drei Kameraden, die die Arbeiten lichten und nach eigenem Ermeffen drei Stücke auswählen, die an einem der nächflen Tage in der Aula zum Vortrag gebracht werden. Eins von den dreien wird dann jedesmal nach Maßgabe der dafür abgegebenen Schülerftimmen mit einem Preis ausgezeichnet. Das letzte Thema hatte gelautet: »Was ift das Leben?« Selten waren Lehrer- und Schülerfchaft fo ge- fpannt auf das Vorlefen der drei Auffätze wie diesmal. Feierliche Stille herrfchte in der Aula, als Wolfgang Rhaden das Podium betrat, ein Heft auffchlug und nach einer Verbeugung vor der Lehrerfchaft begann: »Leben! — Muß ich die Sterne fragen oder die Tiefen der Meere und die Urkräfte der Erde, um zu erfahren, was du bift ? Können fie mir mehr fagen als das tägliche Gefdiehen, in das ich felbft hineingeftellt bin? Sinnend flehe ich an einer Stätte emGgen Fleißes. Räder laufen auf langen Wellen; von jedem führt ein Treibriemen zu einem Arbeitsplatz, an dem eine Frau Gtzt, die mit flinken Händen Kaffeebohnen fordert. Die Bohnen gleiten aus einem großen Behälter, der niemals leer wird, aufein breitesBand, dasßchunabläffig vorwärts- fchiebt und der Frau die flach verftreuten Kaffee bohnen zuträgt. Sie überGeht von dem endlofen Band nur immer einen kleinen Abfchnitt, gerade groß genug, daß Ge mit fchnellem Blick die guten und fchlechten Bohnen erfchaut und in dem- felben Augenblick fchon mit ihren gelenkigen Fingern die fchlechten aus der Bahn gefchleudert hat. Auge und Hand Gnd fall zu einer Einheit verwachfen. Erkenntnis und Tat! — Das ift das Leben, das durch diefe Frau fpricht. Ob Ge es felbft weiß? Sie ift gewohnt, für nichts Intereffe zu haben als für das Band vor ihren Augen, auf dem die Kaffeebohnen rollen, denn von ihrer Aufmerkfamkeit hängt ihr Verdienft ab. Vielleicht denkt Ge, das Leben ift fo kurz wie diefe 20 Zentimeter, die ich von dem Band über- fehe: Luftig ftürmen die Kaffeebohnen darauf einher — ein Hufch, und fchon ift es vorbei!... Vielleicht denktGerecht,denn was ift unferLeben mehr als ein wenigBewegung, von der wir nicht wiffen, in welchem Maße Ge unfre eigene oder die eines verborgenen großen Motors war. Kaffeebohnen, wo kommt ihr her — wo geht ihr hin? — Sie antworten nicht. Während Ge noch hüpfen, erkennen Ge plötzlich, daß Geh der Abgrund vor ihnen auftut. Ein leifer Klageruf, und Ge Gnd verfchwunden. Ift das Leben kurz? Ift es nicht vielmehr Ewig keit, wie dies endlofe und endlos rollende Band? Frau, bift du nicht froh, daß du mehr ftehft, als die armen kurzGchtigen Kaffeebohnen fehen können? — Ja, jetzt klatfeht Ge vor Freude in die Hände. Aber gleich darauf blicken ihre Augen wieder gefpannt auf das rollende Band, und Ge fpricht: ,Ich darf meine Hände nicht davon entfernen! 1 O liebe Frau, das ift das Belle, was du mir für meine Dafeinsfpanne vom großen Leben gefagt hall! Heilig ift es und ebenfo machtvoll wie end los. Und dennoch braucht es dich und mich, deine und meine Wächteraugen und willigen Hände.« Rhaden verbeugte Geh und trat ab. Braufender Beifall fetzte ein. Nach vierW ochen wurde in der Aula ein Bild auf gehängt: »Die Kaffeebrennerei«, und daneben unter Glas und Rahmen RhadensVortrag: »W as ift das Leben?« W.Müller-Gordon (Berlin-Hermsdorf)