überhaupt. Nach der Reicksverfassung von 1871 war richterliche Gewalt noch nickt Attribut der Reichsgewalt. Nun im neunten Jahre der Reichsgründung ward durch die großen Reichsjustizgesetze diese Verbindung für die oberste Spitze der Rechts pflege allgemein und organisch hergestellt. Welch ein Fortschritt, welche Erwartungen und Hoffnungen! Haben sie sich erfüllt? Mit heißem und dankbarem Herzen: Ja! Was in diesen 50 Jahren das Reichsgericht geleistet, liegt in den Hunderten von Bänden seiner Entscheidungen in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten oder Strafsachen nur äußerlich erkennbar und abschätzbar vor Augen. Unsichtbar im Hintergrund steht das Riesenmaß von geistiger Arbeitsleistung der Persönlichkeiten, seiner gewesenen und lebenden Richter, ihrer wissenschaftlichen Hohe, ihrer Sachbeherrschung, ihrer Hingebung, ihrer Pflichttreue, ibrem Willen zur Gerechtigkeit. Sie ist das Höchste, sie ist der Dienst am Volk. Diesen Grund- und Wescnszug des Willens zur Gerechtig keit, soweit Menschen überhaupt diesen göttlichen Maßstab zu sichren verstehen, Kat allezeit die Rechtsprechung des Reichsgerichts in sich getragen. Es ist keine Schmäle rung dieses Ruhmes, daß auch sie der Kritik, ost scharfen Kritik, aus Praxis und Wissenschaft nicht entging. Das war gut so und muß so bleiben als unentbehrlich auf dem Wege zur Wahrheit. Mehr noch als Kritik: auch an Anklagen und Miß trauen hat cs nicht gefcklt. Warum verschweigen, was offenkundig ist, zumal aus der Geschichte des letzten Jahrzehnts? Gerade im Reichstage wurden, gewiß aus redlicher Überzeugung, gelegentlich auch solche Stimmen laut. Bei Konflikten zu verweilen, würde der Höhcnspannung dieser Feierstunden nickt entsprechend sein. Wohl aber entspricht ihr die ernste Frage nach Quellen und Ursachen solchen Zwie spalts, um in der Antwort eine Verheißung für die Zukunft zu finden. Line allge meine Ursachenreihe lag offensichtlich und natürlich in dem gegenwärtigen Kurstief stand des Rechts überhaupt. Kaum ein Kulturgut hat durch die Katastrophen der Zeit so gelitten wie das Recht. Der Glaube an das Recht, der Respekt vor dem Recht ist vielfach gesunken. Geringschätzung, Mißachtung, Kampfesstimmung gegen alles um Recht und Rechtspflege ist die Folge aus tausend Gründen, die ganz außer halb des Rechts zu suchen sind. Die besonderen und engeren Ursachen des Zwie spaltes aber liegen in Bestandteilen des beute noch geltenden materiellen Rechts selbst, in Mängeln, Rückständigkeiten, unzeitgemäßen Normen der bestehenden Ge setzgebung. Der Richter Kat bas Gesetz anzuwenbcn, Anklagen gegen dieses prallen auf ihn zurück und bringen die Rechtsprechung in Mißkredit. Hier liegen die Kontakte zwischen Reichstag und Reichsgericht, Gerichtsbarkeit überhaupt. Hier zugleich die Aufgaben, Erwartungen, Mahnungen der Zukunft. An die Adresse des Gesetzgebers die Forderung, nicht wahrlich einer übertriebenen Gesctzesmacherei, wohl aber die Notwendigkeit, mit überalterten Bestandteilen der Rechtsordnung aufzuräumen, ein 22