Charakterologie nennt: die großen, Geschichte „machenden", d. h., besonders wesentlich mitbestimmenden Figuren sind niemals ohne ihre sozialpsychologische Komponenten, jedoch niemals aus diesen allein verständlich zu machen, in ihrem Wirken spielen charaktero logische Elemente, manchmal z. B. auch pathologische, immer jedenfalls biologische, anthropologische, genealogische und ähnliche, eine ebenbürtige Rolle. Aber man braucht etwa nur den Wandel zu betrachten, der sich im literaturgeschichtlichen und kunst geschichtlichen Forschen und Darstellen seit einem Vierteljahr hundert vollzogen hat, braucht etwa aus diesem Wandel nur ein Stück wie die vielberufene Generationentheorie herauszu greifen, um sogleich zu bemerken, daß dies, uneingestanden oder unwillig eingestanden, Geist von Lamprechts Geist ist, an Kon sequenz vielfach über ihn selber hinausschreitend. Geist von Lamprechts Geist: damit will ich keineswegs sagen, daß die Autoren unmittelbar unter Lamprechts Einfluß gestanden sind, sondern nur, daß Lamprecht (gemäß seiner eigenen Deutung aller bedeutenden Leistungen) selber ein Exponent einer Wendung war, in der die Geschichte sich darauf besann, daß sie ohne die Verbin dung mit der wissenschaftlichen Psychologie, auch ihren biologischen Grundlagen, das, was war, nicht so wie es war, sondern nur in Bruch stücken und Verzerrungen erforschen könne. Ohne individual psychologischen und sozialpsychologischen Werkzeuggebrauch gibt es kein Vordringen zum geschichtlichen Zusammenhang und damit auch keine Erdeutung eines philosophischen, sondern höchstens eine solche eines mythologischen „Sinnes“ der Geschichte. Denn alle Philosophie, die wir kennen, hat immer auf der Verfügung über eine bestimmte Summe wissenschaftlicher Einsicht beruht, ja auf der Verfügung über eine Summe bestimmter wissenschaftlicher Ein sicht, das gilt von Demokritos und Herakleitos über Platon und Aristoteles, Thomas und Cusanus, Cartesius, Spinoza, Leibniz, Kant, Hegel bis zu Eduard v. Hartmann und Bergson — stets hat der Fortschritt und die Vollkommenheit konkreter Disziplinen die Wesensgestalt einer Philosophie bestimmt. Es steht mir kein fachmännisches Urteil zu, inwieweit Lamprechts Geschichtschreibung empirisch es fertiggebracht hat, seinen zeit lichen Primat der Kunst, seine sozialpsychologische Reduktion der Einzelgestalten, vor allem seine Mechanik der Übergangszeiten zu Kultur- und Universalgeschichte 33