514 Willy Hellpach rechtfertigen. Soweit meine Sachkunde reichte, haben mich auch keineswegs alle entsprechenden Partien namentlich seiner jüngst deutschen Darstellung befriedigen können. Wenn man noch das Glück gehabt hat, ihn gelegentlich über eigene Fachdinge, z. B. psychopathologische oder massenpsychologische, unterrichten zu dürfen, so ist einem gelegentlich die Erschrockenheit nicht erspart geblieben, wie dankbar, aber auch wie unbesehen er das Dar gebotene hinnahm, um es bei einer nächsten Gelegenheit ebenso unbesehen zu verwenden. Von aller historiographischen Unvoll kommenheit der „Deutschen Geschichte“ aber losgelöst, bildet be sonders die Entwicklungsanalyse der Übergangszeitalter eine theoretische Leistung, mit der die fundamentale Problematik, wo durch denn überhaupt immer wieder Geschichte wird, wenn sie etwas anderes als eine Perlenschnur von Genielaunen ist, sich noch wird auseinanderzusetzen haben. Was die Genielaune geschiehtlich „macht", man könnte sagen: anrichtet, vergeht verhältnismäßig rasch, korrigiert sich überraschend gründlich. Die wirkliche Ge schichte mündet immer wieder in ihren Strom zurück, der ein Ent wicklungsstrom des Gemeinschaftsgeistes ist. Lamprechts Hypo these sucht das Stromgefälle wesentlich im äußerlichen Erleben, das in tausend Formen an die Menschen herantritt, und das Strombett in dem Ringen, durch das die Totalität der Psyche sich des Einströ mens erwehrt, um ihm zu erliegen oder seiner Herr zu werden. Er hat für meine Auffassung dem „Zufall“ jenes Erlebens zuviel Spielraum gegeben und ist dem inneren Gesetz des Erlebens nicht tief genug nachgegangen, hat sich auch mit den echt biologischen Faktoren, wie dem Begriff vom Lebensalter einer Gemeinschaft, nur metaphorisch, nicht theoretisch auseinandergesetzt und Dinge, wie die Möglichkeit einer biologischen Ermüdung oder einer gei stigen Übersättigung von „Generationen“, kaum gesehen. Dies alles ist noch nachzuholen. Aber er hat uns darauf gestoßen, daß die seltsame Unruhe der menschlichen Gemeinschaften, aus der das entsteht, was wir Geschichte heißen, ein psychologisches, ja ein psychophysiologisches Problem bedeutet und daß es sich um zwei problematische Brennpunkte schlingt, deren einer das individual psychologische, deren anderer das sozialpsychologische — und in ihm das schwierigste und dunkelste aller Probleme der Seelenkunde, das sozialpsychophysiologische vorstellt.