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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 08.08.1902
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1902-08-08
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19020808016
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1902080801
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1902080801
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1902
- Monat1902-08
- Tag1902-08-08
- Monat1902-08
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Bezug-»Preis t« der Hauptexpedittou oder den im Stadt bezirk und den Bororten errichteten Aus gabestellen abgeholt: vierteljährlich 4.K0, — zweimaliger täglicher Zustellung in» HauS S SO. Durch die Post bezogen für Deutschland «. Oesterreich vierteljährlich ö, für die übrigen Länder laut ZeitungSpreiSltste. Nedactioa «nd Erpeditio«: Ao-annt-gaffe 8. Fernsprecher 1VS und LU, Alfred Hahn, Vuchhandlg., Universitätsstr. S,' 8. Lösche, Kotharinenstr. IS, u. Süntg-pl. 7. Haupt-Filiale Vresde«:» Strehlenerstraße S. Fernsprecher Amt I Nr. I71S. Haapt-Ftliale Serli«: avniggrützerstraße 11«. Fernsprecher «mt VI Nr. SSV». Morgen-Ausgabe. MMr. TaMaü Anzeiger. Ämtsölatt des Königlichen Land- «nd Amtsgerichtes Leipzig, -es Raihes «nd Nelizei-Ämtes der LIM Leipzig. Anzeigen.PreiS die 6gespaltene Petitzeile 25 H. Reclameo unter dem Redaction-strich (4 gespalten) 7ö vor den Familirnnach- richte» («gespalten) KO H. Tabellarischer und Ziffernsatz entsprechend höher. — Bebührea für Nachweisungen und Ossertenauuahme LS H (excl. Porto). Ertra-Beilagen (gefalzt), nur mit der Morgen-Au-aabe, ohne Postbesürderung utz SO.—, mrt Postbesürderung 70.—. Annahmeschluß für Anzeigen: Abead-AuSgabe: Vormittag- 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittag- 4 Uhr. Anzeige» sind stet- au die Expedition zu richten. Die Expedition ist Wochentag- ununterbrochen geöffnet von früh 8 bi- Abend« 7 Uhr. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig. Nr. M. Freitag den 8. August 1902. 98. Jahrgang. v«r»*dnemg, eine Amnestie wegen gewisser Uebertretuugen betr-, pom 7. Atigust 1002. Wir, Georg, von Gotte» Gnade», Kd»ig «»» Eachsen rc. ,e. re, wollen allen den Personen, gegen die tn Unserem Lande wegen Uebertretung auf Haft oder Geld strafe durch Strafbefehl, polizeiliche Strafverfügung, Strafbescheid oder ein bei Unseren bürgerlichen Gerichten ergangenes Urthcil erkannt oder wegen einer Zuwider handlung gegen die von einer Verwaltungsbehörde unter Strafandrohung erlassene Anordnung eine Zwangsstrafe für verwirkt erklärt worden ist, diese Strafen in Gnaden erlassen, soweit die Strafen noch nicht vollstreckt worden sind und sofern die Entscheidung bis zum heutigen Tage durch Verkündung ober durch Zustellung bekannt gemacht ist. Wir befehlen demgemäß, daß die Vollstreckung der betroffenen Haftstrafen am 8. August 1VVS, Vormittag» 10 Uhr, aufgehoben werde. Unsere Gnadenermeisung soll auch Platz greifen, wenn die Entscheidung bis heute noch nicht rechtskräftig geworden ist) sie gilt aber nur für die Fälle, in denen die Rechtskraft längstens bis zum 14. August 1002, diesen Tag cingeschlossen, eintritt. Ist tn einer Ent. scheidung eine Person wegen mehrerer strafbarer Hand, langen verurtheilt (Strafgesetzbuch 88 77 bis 79), so sind nur die wegen Uebertretuugen erkannten Strafen er. lassen. Ausgeschlossen von Unserer Gnadenermeisung bleiben alle diejenigen Haftstrafen, welche nach den Vorschriften des 8 361 Nr. ü bis 8 des Strafgesetzbuchs verhängt worden find. Wegen der unter Militärgerichtsbarkeit erkannten Strafen haben Wir einen entsprechenden Gnadenerlatz durch besondere Verfügung ergehen lasten. Gegeben zu Dresden, am 7. August 1902, (I-. s.) Georg. vr. Viktor Alexander Otto. Verordnung, eine Amnestie für die sächsische Armee betreffend, vom 7. August 1902. Wir, Georg, von Gottes Gnaden, König von Sachse« rc. rc. rc. wollen, um der Armee einen Gnaden, beweis zu Theil werden zu lasten, denjenigen Militär personen, gegen welche im Bereiche der sächsischen Militär- Verwaltung >1) Strafen im DiSziplinarwege nach 8 1 Ziffer 1 der Disziplinarstrafordnung für das Heer vom 31. October 1872 verhängt sind oder 2) durch Strafverfügung ober durch Urtheil Unserer Militärgerichte wegen Uebertretung auf Haft oder Geldstrafe erkannt worben ist, die Strafen tn Gnaden erlösten, soweit die Strafen noch nicht vollstreckt worben find und sofern die Entscheidung bis zum heutigen Tage durch Verkündung oder durch Zu- stellung oder durch Eröffnung auf dem Dienstwege be kannt gemacht ist. Wir befehlen demgemäß, daß die Vollstreckung der be treffenden Disziplinär- und Haftstrafen am 8. August IvoS, Vormittags 19 Uhr, aufgehoben werde. Unsere Gnadenermeisung soll auch Platz greifen, wenn die gerichtliche Entscheidung bis heute noch nicht rechtskräftig geworden ist, sie gilt aber nur für die Fälle, tn denen die Rechtskraft längstens bis zum 14. August 1902, diesen Tag eingeschlossen, eintritt. Ist in einer Entscheidung eine Person wegen mehrerer straf barer Handlungen verurtheilt (Neichsstrafgesetzbuch 88 77 bis 79), so sind nur die wegen Uebertretungen erkannten Strafen erlassen. Ist bet der Bestätigung des Urtheils die Strafe ge mildert worben, so soll die Bestätigungsorder für die An wendbarkeit dieses Gnadenerlasses maßgebend sein. Ausgeschlossen von Unserer Gnadenermeisung bleiben: 1) die nach der Disziplinarstrafordnung 8 3 unter 6 Ziffer 3 und 4 verfügten Strafe, sowie 2) diejenigen Haftstrafen, welche nach den Vorschriften des 8 861 Nr. 3 bis S des Retchsstrafgesctzbuches ver hängt worden sind. Dresden, den 7. August 1902. (I-. 8.) Georg. vr. Viktor Alexander Otto. Königs Geburtstag. Noch liegt die Trauer um den Heimgang des gütigen Königs Albert auf dem Sachsenlande, da feiern wir Königs Geburtstag — zimr zweiten Male in diesem Jahre! Ist es da zu verwundern, wenn bei aller Innig keit der Gefühle der Treue und der Anhänglichkeit, die das Volk seinem neuen Herrscher, dem erlauchten Bruder deS dahingegangenen Königs, entgegenbringt, heute doch nur eine gedämpfte Festesfreude herrscht? Noch ilegt der Verlust zu schwer auf unS, als daß lauter Jubel zum Throne empordringen könnte; noch steht der, dem der heutige Tag gilt, selbst am allermeisten im lähmenden Banne des tiefen Schmerzes, der in erster Linie ihn und das gesammte Königshaus betroffen. So wird König Georg selbst am besten die Gründe würdigen, aus denen heute in stillerer Feier, als sonst an Königs Geburtstag, seiner gedacht wird, und er wird nicht minder huldvoll die schlichten Beweise der Liebe seines Volkes entgegcnnehmen, die ihm heute zugchen. Vor wenigen Wochen erst, beim Antritt seiner Negierung, sind ihm auS allen Schichten seines Volkes die Versicherungen der Treue und Ergebenheit zu Füßen gelegt worden. Er hat damals in dem Aufrufe „An Mein Volk" gelobt, immer „im Sinne und Geiste seines verewigten Bruders seines Amtes zu walten", und in seiner Proklamation die Zu versicht ausgesprochen, daß das Sachsenvolk die Liebe, die es dem theuren Entschlafenen gewidmet, auch aüf den neuen Herrscher übertragen werde. Wie berechtigt diese seine Zuversicht war und ist, davon wird König Georg schon in der kurzen Spanne Zeit, seit er den verwaisten Thron bestiegen, herzerfreuende Beweise erhalten haben. Jawohl, das Sachsenvolk kennt seinen neuen König und weiß, daß es mit vollem Vertrauen seiner „auf die Handhabung von Recht und Gerechtigkeit und Be förderung der Wohlfahrt und des Besten des Landes un ausgesetzt gerichteten landesväterlichen Fürsorge" ent gegensetzen darf. Es weiß, daß die sprichwörtliche Lachsen- treue, die eS selbst bewahrt, von seinem neuen König ebenso gewahrt wird, wie von seinem beweinten Vor gänger, und ist sich deshalb bewußt, daß cs durch die ver trauende Liebe, die es König Georg entgegenbringt, am besten das Andenken König Albert's ehrt. Möge es König Georg beschicken sein, noch viele Jahre seinen Geburtstag inmitten seines treuen Volkes zu be gehen, festlicher in künftigen Jahren, als es diesmal mög lich ist, wenn auch die Herzlichkeit der Gesinnung und der aufrichtigen Liebe des Volkes später nicht übertroffen werden kann. Gott segne und schlitze König Georg und erhalte ihn seinem Volke! Vie Herbstübungen der Flotte. II. Die diesjährigen Herbstübungen unserer Flotte werden einen größeren Umsang als die des Vorjahres aufweisen, da auch die Schiffe des I. Geschwaders, die im letzten Herbst erst aus den chinesischen Gewässern heim gekehrt waren, diesmal an den Hebungen bctheiligt sein werden. Nach den vom Kaiser erlassenen Bcstinunungen wird die Herbstttbungsflottc für die Zeit vom 17. August bis 18. September zusammengczogen und ist das Linien schiff „Kaiser Wilhelm II." als Flaggschiff bestimmt worden. Die Flotte selbst wird formirt aus den Schiffen der beiden Geschwader und der I. und II. Torpedoboots flottille. Zeitweise treten dann als Verstärkungen hinzu der große Kreuzer „Freya", der kleine Kreuzer „Nymphe", das Schulschiff „Grille", drei Torpedoboote als Depcschcubvote, sowie das Transportschiff „Pelikan" und ein Fischcrcikreuzer von Wilhelmshaven für die strategischen Manöver, welche für die Tage vom 14. bis 18. September in Aussicht genommen sind. Diese letzteren Manöver werden unter Betheiligung des Landheercs ab gehalten und können daher das besondere allgemeine Interesse in Anspruch nehmen. Mit diesen Manöver« in engstem Zusammenhänge steht die Eommandirung von Officieren des LandhecreS an Bord der Kriegsschiffe, die in diesem Jahre reichlicher denn jemals ausgefallen ist. Bei dem Zusammen wirken von Heer und Flotte mutz es selbstver ständlich einen gemeinsamen Oberbefehl geben, den sowohl ein General als auch ein Admiral haben kann. Nun wird cS weder dem Einen noch dem Anderen einfallen dürfen, die Befehlserthetlung bis in ihre Einzelheiten durchzufiihren, denn hierzu ist er nur in seinem engeren Berufe genügend befähigt. Dagegen mutz jeder der Beiden die Grenzen der Thätig- kcit kennen, in denen die betreffenden Thetle der Streit macht eine erfolgreiche Wirksamkeit entfalten können. Ter Oicncral muh mithin wissen, welche Dienste er zur Erreichung eines bestimmten Zweckes von der Flotte verlangen kann, und dem Admiral muß bekannt sein, wie er Thetle des Landheeres zu verwenden hat. Wie noth- wendig Beides ist, haben die Wirren in China zur Ge nüge gelehrt, sowohl bet der Einnahme der Taku- und Peitangforts, als auch bei der Seymour - Expedition, deren Rettung und Sicherung einem deutschen Martne- officier zu verdanken gewesen ist. Bei den diesjährigen Hebungen der Herbstflotte ist aber zum ersten Male auch eine größere An zahl höherer Offictere deS Ingenieur- und Pionier corps bctheiligt, und in der letzten Zett ist auch noch der neue Chef dieses Corps, Generalleutnant Wagner, dazu commandtrt worden, was mit dem Schlüsse des beabsichtigten Manövers in Zusammenhänge steht. Bei diesem wird in den Tagen vom 14. bis 18. September ein großartiges LandungS Manöver auf -er Insel Borkum stattfinden, welche mit einer Reihe von Strand- befcstigungen versehen wird. Vor diesem Manöver werden mittels deS „Pelikan" und deS Fischereikreuzers Thetle des X. Armeecorps an Infanterie, Cavallerte und Feldartillerie gelandet, welche zur Bertheibtgung der Insel dessen Besatzung darstellen. Gegen diese Besatzung soll nun ein strategischer Angriff mit einigen Linien schiffen der Brandenburgclasse unter Mitwirkung von Marineinfanterie ausgeführt werden. Die Linienschiffe „Baden" und „Württemberg" deS II. Geschwaders nehmen je zwei Compagnien des in Wilhelmshaven garni- sonircnden 2. SccbataillonS an Bord und dampfen nach der Insel Borkum, wo die Jnfanteriemannschaften aus gebootet werden und die Landung erzwingen sollen. Hierbei werden sie durch die weittragenden Geschütze schwersten Caltbcrs der Schlachtschiffe unterstützt, während auf den Landungsbooten die kleinen Landungsgeschützc mitgeführt werden, die von der Matrosenartkllerie im Kampfe gegen die Feldgeschütze Verwendung finden. So viel bis jetzt bestimmt ist, wird der Kaiser nach Be endigung der Kaiscrmanöver deS HI. und des V. Armee korps «Brandenburg und Posen) den Schlutzmanövcrn der Herbstübungsflottc bei Borkum beiwohnen. Diese ge meinschaftlichen Herbstübungen von Heer und Flotte, die sich diesmal auf die Fragen der Küstenbefestigungen erstrecken,, dürften sich zu einer dauernden Einrichtung ausgcstalten. . Deutsches Reich. Berlin, 7. August. (WelfischeEmpfindlich- keit undGerechtigkeitslicbc.) In dem wel- fischcn Ccntralorgan wird ein gar grausiges Ereignitz ge schildert. Eine Anzahl Welfen unternahm einen Ausflug nach der bet Nordstemmen belesenen Marienburg. Dort machten sie einen Rundgang um das Schloß, sangen vater ländische (d. h. natürlich welftsche) Lieder und „brachten auf die einzelnen Mitglieder unseres geliebten Fürsten hauses je ein Hoch aus". Als sie sich von dieser patriotischen Kundgebung tn einem oberhalb der Marienburg be lesenen Restaurant erholen wollten, drangen ihnen die Feuilleton. Reval. Ein Städtebild zum Besuche des deutschen Kaisers. Von Franz Heine. Nschdnick vkrbotcn. Wer sich auf den blauen Wogen des finnischen Meer busens Äeval nähert, dem bietet sich bei der Einfahrt ein Bild von ungewöhnlicher Schönheit. Bor ihm liegt die geräumige Revalsche Bucht, tn deren innerstem Winkel sich die malerische alte Stadt erhebt, überragt von dem Domberg, von dem der dunkle Thurm der Domkirche neben den neuen goldenen Kuppeln der Alexandra-Newski- Kathedrale herabschaut, während die schlanken Spitzen von St. Olai und St. Nicolai, wie Mastbäume über einem Schiffe, sich hoch in die Luft erheben. Tiefer gleitet der Dampfer in die Bucht hinein und erreicht nun den durch mächtige Bollwerke geschützten Hafen. Er passirt den Kriegshafen, wo sich die Kolosse der russischen Marine aus den Wogen schaukeln, und nun macht er in dem Handels hafen fest, wo die groben Seedampfer aus Petersburg und Riga, aus Lübeck und Stettin, aus Helsingfors, Hüll und Kopenhagen liegen. Das geräuschvolle und thätige Leben eines modernen Seehafens umgiebt uns hier. Locornotivcn pfeifen, Hämmer erklingen, Krähne ar beiten, Dampfpfeifen heulen. Richten wir aber unseren Blick weiter, so fällt er auf ein ehrwürdiges, altes Städte bild. Vergangenheit und Gegenwart liegen hier friedlich nebeneinander, und Alt-Reval -raucht sich de- neuen Reval nicht zu schämen. In der That ist Reval unter allen Städten -er deutsch russischen Ostsecprovtnzcn die, die sich ihr althtstortsches Gepräge bis zum heutigen Tage am reinsten erhalten hat. Ihre Kirchen gehen bis tief tn da- Mittelalter zurück; noch stehen zum Theil die Häuser der alten Gildey, die tn der Geschichte der Stadt eine große Rolle spielten, und noch versammeln sich in einigen von ihnen eben dieselben alten Gilden, die heute freilich tn friedliche, gesellschaftliche Ber- einigungen sich umgewandelt haben. Das Hau» der Großen Gilde stammt ans dem Jahre 1410, und das Schwarzcnhäupterhaus ist, wenigsten- tn seiner Front, seit 1591 unverändert geblieben. Da» ist das Heim jener berühmten Bruderschaft, die ursprünglich aus dept aus ländischen, unverheiratheten, zeitweilig in Reval an sässigen Kaufleuten sich zusammensetzte und mit der Zeit zu einer Vertretung der überseeischen Kaufmannschaft in der Stadt wurde. Diese Gilbe, die sich nach dem Mohr-nkopfe des hl. Mauritius in ihrem Wappen benannte, entwickelte sich später zu einem wehrhaften Corps, das zum Schutze der Stadt wiederholt mit rühmlichster Tapferkeit cintrat. Zwischen den Fenstern des oberen Stockes ihres Hauses sieht man zwei Brüder der Gilde, die die Lanzen im Turnier schwingen, — eine Erinnerung an die einstige kriegerische Thätigkeit der wehrhaften Kaufleute. Die Bauwerke Revals zeichnen sich im Allgemeinen weniger durch Reichthum und Feinheit des Schinuckes, als durch Größe, Kraft und Sicherheit der Formen aus. Dabei hat auch die Materialfrage mitgesprochen. Das in vielen Fällen zu den Bauten verwandte heimische Ma terial mutzte zum Zwecke der Wettcrbeständigkeit mit einem Kalkputz überzogen werden, durch den die architektonische Gestaltung dann natürlich in bestimmte Grenzen gewiesen war. Aber eben diese ernste Einfachheit, diese echt bürger liche und vornehme Schlichtheit paßt so gut zu dem trau lichen Bilde Alt-Revals, zu dem bunten Gewirr seiner Gasten, zu den gemüthlich-einfachcn, alten Giebelbautcn, zu den würdigen dicken Thürmen und schlanken Thürmen, diealS/alte Befestigungsreste sich erhalten haben. Auf all' dem liegt hier die schöne Patina der Geschichte; all' das ist ge wachsen und nicht gemacht, und eS läßt sich in der Altstadt RevalS gut träumen und an ferne Vergangenheit denken. Vielleicht ließen sich die Bürger Revals eine Zeit lang gar zu sehr in diese Träume etnwiegen. In der ersten Hälfte de» Jahrhunderts war Reval eine Art Phäakenstadt ge worden. Bom Seewege abgesehen, lag cS außerhalb allen verkebr»; man war ganz unter sich, man führte ein ge- müthliche» Stillleben, besten Liebenswürdigkeit man von alten Revalern noch heute rühmen hört, und war so in dieser behaglichen Weltabgeschtedenbeit mit sich recht zu frieden. Da setzte der Baron Pahlen nach langen Kämpfen den Bau der baltischen Eisenbahn durch; die Linie nach der Reich-Hauptstadt wurde eröffnet, und damit begann eine neue Epoche tn der Geschichte der stillen Stadt. Freilich drohte dem neu sich belebenden Scebandel bald eine große Gefahr durch die übermächtige Concurrenz von Petersburg. Aber der Hafen von Reval besitzt vor dem von Petersburg den großen- Vortheil, einen erheb lichen Theil des Winters eisfrei zu bleiben und dann der Schifffahrt, der Petersburg um diese Zett unzugänglich ist, einen sicheren Port zu gewähren. So wurde es eine Lebensfrage für Reval, den Hafen möglichst lange eisfrei zu erhalten oder möglichst zeitig eisfrei zu machen; und aus diesen Erwägungen heraus wurde zuerst 1895 die in Stettin erbaute „Stadt Reval" als Eisbrechdampfer in Thätigkeit gesetzt, und ihr folgte dann der vielgenannte Niescneisbrechcr „Jermak". Auf das Stillleben ist nun eine Epoche neuer Rührigkeit erfolgt; um die enge Altstadt schlingt sich ein Gürtel neuer Stadttheilc, und in zahl reichen Werkstätten werden die Erzeugnisse der modernen Industrie zu Tage gefördert. So knüpft die Gegenwart hier an die Vergangenheit an. Und diese Vergangenheit ist bunt und bewegt. Ver setzen wir uns um ein Jahrtausend zurück, so sehen wir an dem einsamen Strande den steilen Kelsen, t».er heute der Dom heißt und den oberen Stadtthcil trägt, von einer Esthenburg, Namens „Lindanissc", gekrönt. Diese Stätte war den Esthen heilig, denn sie erblickten in ihr die Grab stätte des Niesen Kalew, des Vaters ihres National helden Kalcwipong. Der erste große Wandel in den Ge schicken der Stadt trat ein, als Waldemar II. im Jahre 1219 zwischen dem Schloßberge und der See hier einen großen Sieg über die Esthen errang. Es ist die Schlacht, in der der Sage nach eine rothc Fahne mit weißem Kreuze vom Himmel gefallen und die Christen nrit unwiderstehlichem Muthe erfüllt haben soll: die Fahne wurde forlab das Banner Dänemarks, der Danebrog. Um jedoch zu Reval zurückzukchren, so wurde an Stelle ber zerstörten Esthcn- veste ein neues Schloß crbant, das nach den umwohnenden Revalern seinen Namen erhielt, während der Platz bet den Esthen fortab Dänenstadt hieß. Es erübrigt sich hier, die wechselnden Geschicke der Stadt in den nächsten Zetten im Einzelnen zu verfolgen. Mit den Dänen und mit dem Tchwcrtorden kamen die Germanen ins Land, «nd be sonders westfälische und niedersächsische Ansiedler waren die eigentlichen Begründer der um das Schloß allmählich sich bildenden Stadt. Go trug sie durchaus den Stempel einer deutschen Stadt, und dies Gepräge vertiefte sich noch, seitdem sie unter die Herrschaft des Deutschen Ordens ge treten war (1346). T^mals entfaltete sich Reval zur an sehnlichen Handelsstadt, die auf dem livländischen Land- tage ein gewichtiges Wort mitsprach, und in der Ver mittelung deS Handels nach Nowgorod eine große Nolle spielte. Der Handel nach Nowgorod ging entweder den Wasserweg durch den finnischen Meerbusen, die Newa und den Ladoga-Sce flußaufwärts, oder er ging über Land durch das jetzt zur Ruhe gebrachte Esthenland. Lebhaft mar die Rcvaler Rhederei, deren Schiffe nach Danzig und Lübeck, nach Brügge und Antwerpen fuhren. Natürlich ging cs ohne Kämpfe gegen die Concurrentcn nicht ab. Mit den Dänen, den Norwegern und den Schweden haben sich die Rcvaler manch' liebes Mal geschlagen (Reval war fpecicll ein starker Concurrcnt von Wisby) und die Re- valer sind einmal im Besitze von Stockholm gewesen. Aber diese Kämpfe thaten der Blllthe keinen Eintrag. Stattliche Bauwerke erhoben sich in der Stadt, und die Rcvaler ver standen schon damals, das Leben zu genießen. Gern suchten sie ihre Wiesen und Gärten dicht bei der Stadt auf; gern besuchten sic den Rosengarten vor der Strandpfortc, wo beim Genuß des schönen Panoramas von See und Hafen der Becher fleißig umging, wo auf dem Rasen das junge Volk sich im Tanze schwenkte und den ausrciscrrdcn HandclSfrcundcn der letzte Abschiedstrunk credcnzt wurde. Die Erben des Ordens wurden die Schweden, und Reval nahm an der Epoche der schwedischen Vorherrschaft auf dem baltischen Meere Theil. Aber schon wogten aus dem dunklen Rußland ab und zu Hceresmassen gegen die festen Mauern der Stadt, das künftige Schicksal Revals andeutcnd. Dicö Geschick entschied sich mit dem Karl's XII. Eine Folge der Schlacht bei Poltawa war der Fall Revals — es war eine der wichtigsten Neuerwerbungen, die Peter für Rußland machte, und der Zar wußte sie zu schätzen; zehn Mal hat er Reval besucht, durch ausgedehnte Bauten sein Interesse an der Stadt bewiesen und jene reizende Anlage im Osten der Stadt geschaffen, die er nach seiner Gemahlin Katharincnthal nannte. Auch seine Nachfolger haben den Werth dieser Stadt immer voll verstanden und sie als eine „Perle in der Krone" des großen russischen Reiches angesehen. Sin Kranz von schönen und blühen den Städten schmückt die Ufer deS finnischen Meerbusens. Da liegt Helsingfors, die reizvolle Hauptstadt Finlands; da öffnet sich der Zugang zur russischen Kaiserstadt — aber Reval behauptet sich neben diesen mächtigen Rivalen in eigener Schönheit. To lange die Rcvaler Bürgerschaft Rührigkeit nnd Eneraie mit behaglicher und liebens würdiger Lebensfreude vereinigt, so lange wird Reval das Merkmal bewahren, das ihm einen so eigenen Reiz verleibt: die Bereinigung ehrwürdiger, altgefchichtlichcr Erinnerungen mit dem frischen Pulsschlage modernen Lebens, wie sie Reval in seiner Geschichte, in seiner bau lichen Erscheinung und tn seiner wirrdschaftlichen Arbeit aufweist.
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