Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 16.11.1902
- Erscheinungsdatum
- 1902-11-16
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-190211169
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-19021116
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-19021116
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1902
- Monat1902-11
- Tag1902-11-16
- Monat1902-11
- Jahr1902
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- Titel
- Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 16.11.1902
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Anzeiger, »PreiS die 6 gespaltene Petitzeile SS Reklame» unter dem Redaktionsstrich (4gespalten) 7S vor den Familtennach. richten («gespalten) KV Tabellarischer und Ziffernsah «utsprechend höher. — Gebühren für Nachweisungen und Offertenannahme L5 H (excl. Porto). Extra-veilagen (gefalzt), »ur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbefärderung ^l SV.-, mit Postbefärderung ^ll 70.-. ÄnnahMschluß für Äu)ei-ern Abend-Ausgab«: vormittags 10 Uhr. Morgeu-Ausgab«: Nachmittag« 4 Uhr. Anzeigen sind stets a« di« Expedition zu richte». Tie Expedition ist Wochentag» ununterbrochen geöffnet von früh 8 bi» abend- 7 Uhr. Druck und Verlag vou E. Polz t» Leipzig. Sk 584. 86. Jahrgang. Sonntag den 16. November 1902. Aus der Woche. Wie unS von glaubwürdiger Seite berichtet wird, ist eine Vereinbarung über das Zolltarifgesetz zwischen den Kompromiß-Parteien und der Regierung dem Abschlüsse nahe. Angesichts dieser erfreulichen Aussicht darf in dieser Wochen übersicht von der großen, allzugroßen Tagesfrage Wohl etwas weniger die Rede sein als sonst. Es ist aus guten Gründen nicht oft ausgesprochen, aber stets gedacht und empfunden worden: so lange Konservative und Zentrum nicht von Forderungen zurückgetr-eten sind, die die Regierungen nie und nimmer erfüllen können, solange ist der Kampf, den Kon servative und Zentrum im Reichstage gegen die Linke führen, mehr Waffenübung als Krieg. Ein vollkommen Lbereinstim- mendeS, wenn auch nicht formell festgelegtes Endziel der beiden Parteien und der Negierung wird anderseits an feuernd aus die Abwehr der Obstruktion wirken. Das sieht endlich selbst die „Kreuzztg.* ein, denn sie schreibt: „Ein Teil der Mitglieder der Mehrheit will bekannllich nichts von seinen Forderungen preisgeben und vertritt dabei die An- schaumig, daß das Fortbestehen des bisherigen autonomen Tarifs gegenüber dein Zustandekommen eines neuen Tarifs, der jenen Forderungen nicht genügt, als das kleinere Uebel zu betrachten ist. ES ist nur folgerichtig, daß dieser Teil der Mehrheit sich über die Obstruktion nicht sonderlich ausregt und demgemäß auch den zu ihrer Bekämpfung gemachten Borschlägen einigermaßen kühl gegen- übersteht. Wir glauben aber nicht sehlzugehen, wenn wir behaupten, daß die hier in Betracht kommenden Abgeordneten nicht die über- wiegende Zahl der Reichstagsmehrheit stellen. Trifft Liese Bebaup- tung zu, so ist für diejenigen, die selbst unter Zurückhaltung weiter- gehender an sich berechtigter Wünsche zum Zustandekommen deS Werkes beitragen möchten, der Weg gewiesen. Sie werden schleu nigst dahin wirken mässen, daß durch Vertrauensmänner eine Verständigung mit den verbündeten Regierungen angebahnt werde. Möglich, daß sie sich dabei dem Vorwürfe des Umfalls ausjetzen. Aber das wird sie kalt lassen im Hinblick auf Las, was gegenwärtig auf dem Spiele steht." Die Zollfrage als solche mag also heute ruhen; ihre Be ratung hat in der verflossenen Woche Erscheinungen vor geführt, wie sie das deutsche Parlament noch nicht gesehen hat. Ein so direkt alle Merkmale der Obstruktion, d. h. dcS MißbrauchS der Geschäftsordnung, an sich tragendes Gebaren der Opposition, daß ein Mann wie Richter, der den selbst mörderischen Charakter solcher, die gewählte Vertretung durch eigene Angehörige aktionsunfähig machenden Unter nehmungen kennt, gegen die Linke sprach und stimmte,! Richter ist vorgestern vom Organ der Freisinnigen Vereinigung, dem „Berliner Tageblatt", „der Schrittmacher der Rechten" genannt worden. Richter, der Erzfeind der Junker und orthodoxe Freihändler, dem sogar die Handels vertragszölle für landwirtschaftliche Erzeugnisse zu hoch sind, der Knappe der Conservativen! Keine politische Frucht vom Baume der Woche, aber ein politisches Kuriosum und auch menschlich interessant. Die Freisinnige Bereinigung ist nämlich wirklich Schrittmacherin geworden, aber der Sozialdemokratie, und sie erfüllt ihren Dienst mit der Hingabe eines frommen Knechtes Fridolin. An der sehr starken Nolle, die diese Gruppe — als Trabantin der Sozialdemokratie — hat spielen dürfen, kann man wohl er kennen lernen, wie schwer eS für ein Parlament werden mag, nach dem Eindringen schlechter Sitten für gute Gesetze zu sorgen. Die Freisinnige Vereinigung, die den Reichstag, auch den beschlußfähigen Reichstag, über eine Woche hindurch zu terrorisieren vermochte, zählt — zwölf Mitglieder. Und darunter befindet sich der Abg. Ur. Hänel, der so oft im ReickStag zu sehen ist wie der Schenk von Limburg in seiner Veste. Nun ist ein Anfang mit dem Antrag Aich- bichler gemacht, formell vollkommen korrekt und auch über haupt nicht unpraktisch. Ist aber die Einigung, die wir eingangs signalisiert haben, wirklich zutreffend und haben sich durch dicMehrheitSparteicn, zu denen nach demErscheinen der Konservativen und deS Zentrums auf dem Boden der Re gierungsvorlagen auch die Nationalliberalen gehören, die Ebancen für eine ausreichende Präsenz nicht unerheblich ge bessert, so wird man doch wohl, um die Mehrheit von drei oder vier Dutzend nicht allzusehr zu belasten, die vorschrifts mäßige Anzahl vvnMitglicde:n,die eine namentlicheAbstimmung erzwingen können, erheblich erhöhen müssen. Für einen besseren Fortgang der Vcrhand'ungen Et es, nm das n'ch anzufiihrcn, kein schlechtes Zeichen, daß am Donnerstag die fast zehn stündige Sitzung nur abgebrochen wurde, weil „die Lichter herunlergebrannt" waren. Das kommt sonst nur bei den aller fleißigsten Studenten vor. Bei alledem darf mau auch nicht sanguinisch sein. Zu wünschen wären aber mit dem Tarif „unverworrene" Reichötagöneuwahlen in hohem Maße. Das Wahlschiss ist ohnehin stark und ungewöhnlich beschwert mit äußerst peinlichen Zwischenfällen, die zum Teil einen Stich ins Soziale haben und darum in weiten Kreisen umso dicker angekreidct worden sind. Schlimme Zwcikampssachen und deren noch schlimmere oberinstanzliche „Erledigung", wieder holte gewagte Verhaftungen, brutale, vielfach ohne Zweifel un gesetzliche Behandlungen der Festgenommenen, die Affäre Trakehner,, die Vorgänge in Grimmen, eine ganze Reihe von Beweisen, daß Hamlets Wort vom „Uebermut der Armier", der dem Bürger oft daS Leben verleite, noch immer gilt. WaS die preußische Regierung zu Beginn der Wahl kampagne ihre Organe tun lassen wird, wissen wir nicht. WaS aber die letzten anderthalb Jahre anlangt, so muß man ihr nachsagen: sie hat starke Wahlbeeinflussung getrieben, aber nicht für die Partei, der man sie selbst zu rechnet, sondern für die Sozialdemokratie und den extremsten bürgerlichen Radikalismus. Nach einem neulich wiedergegebenen amtlichen statistischen Ausweise bat die Zahl der Analphabeten in Preußen wiederum abgenommen und nähert sich allmählich dem Null punkte. Die preußische Ziffer warfrüher ungünstig im Vergleich;» anderen deutschen Staaten, und daS lag ausschließlich an dem polnischen Element. Nun nehmen wir an, daß bei allen preußischen Rekruten, die auf ihre Kenntnisse im Lesen und Schreiben geprüft werden, die deutsche Sprache herangezogen werde und sie allein. Ist dem so, so hat man Len Nachweis, daß der Pole deutsch versteht, wo er, wie beim Militär, keine „nationalen" Scherze riskieren darf, und außerdem er scheint die Ansicht erhöhte Berechtigung zu gewinnen, daß eS nicht nötig gewesen wäre, für die polnischen Soldaten die KriegSartikcl in polnischer Sprache herzustellen. Deutsches Reich. -s- Berlin, 15. November. (UnitariSmus?) Sehr verschiedenartige Faktoren des In- und deS Auslandes haben sich zusamu'.«Mß»u»üen, um einen im Deutschen Reiche angeblich ivabruehMchr^UnitariSmuS zum Gegenstände der Be- tiachtuug zu anachen. Vor etwa vierzehn Tagen er zählte der Pariser „Rappel", daß Preußen mehr als je auf der Erwerbung der Eisenbahnen in der Pfalz tiotz der Abneigung Bayerns bestehe, und wußte sogar von einer offiziösen Note, in der Preußen jeden der Befestigung der Einheit des Reiches Entgegenlretenden mit Vernichtung bedrohe. Die Wiener „Zeit" schlug ähnliche Töne unter Zuspitzung auf Len Kaiser an, indem sie u. a. die „Unpopularität" des Kaiser« in Bayern aus die Befürchtung zurücksührte, „Vas; eine Fortsetzung der Politik der gegenwärtigen autokralischeii preußischen Negierung eines Tages die Unabhängigkeit der anderen Bundesstaaten des Reichs gänzlich unterminieren könne". — In welcher Absicht das genannte deutschfeindliche Wiener Blatt jene Auffassung ver breitete, geht aus der Tatsache hervor, daß den „Times" davon telegraphisch Kunde gegeben wurde! Abgesehen von dem ausländischen Kleeblatte aber haben auch die „Ham burger Nachrichten"„SiimmungSbilder" teils „auS Süd- Deutschland", teils „aus Württemberg" erhalten, in denen behauptet wurde, daß der Zug unserer heutigen Politik mehr und mehr arff Verwischung der StammeSselbständig- keit und auf Herbeiführung eines UnitariSmuS im im perialistischen Stile gebe. In welchen tatsächlichen Vor kommnissen Anzeichen hierfür mit Recht erblickt werden könnten, ist nicht erkennbar. An die Angelegenheiten deS bayerischen Generalohutes und des „KunsttelegrammeS" dcS Kaisers an den Prinz-Regenten können solche Betrachtungen im Ernste nicht angetnüpst werden; scheidet doch selbst der „Rappel" in seinem eingangs erwähnten Artikel jene beiden Punkte ausdrücklich auö der Erörterung aus. WaS aber unter den innerpolitischen Fragen sozusagen die große Politik anbetrisft, so gibt ihre Behandlung in Berlin keineswegs daö Recht zu Beschwerden der gedachten Art. Noch vor ganz kurzer Zeit gehörte es zu den Eigentümlich keiten der Zentrumspresse, gerade in Bezug auf die wichtigsten politischen Fragen über UnitariSmus zu klagen. Es sei in dieser Beziehung nur an die letzte große Flottenvorlage erinnert. Solchen Beschwerden gegenüber hat aber der bayerische Bevollmächtigte zum Bundesrat Graf Lerchen feld in der Nelchötagösitzuiig vom 14. Dezember 1899 er klärt, daß die Bundesregierungen so bald, wie es nach Lage der Sache überhaupt möglich gewesen, von der Absicht der ReichSleitung bezüglich deS Flottenplanes Kenntnis und alles zur Beu« teilung nötige Material erhalten hätten. Ebenso wenig wiebctresfö der Flottenvorlagc kann in Bezug auf die schwebende Frage deS Zolltarifs von einem unitarischen Vorgehen der Reichsleitung gesprochen werden. In allen Stadien der Vorberei tung und der Beratung des Taris« nahm die Reichsleitung auf die Bundesstaaten die peinlichste Rücksicht; dasErgebniS hiervon war ein Kompromiß, bei dem unitarische Tendenzen schlechter dings nicht nntgewirkt hatten und dessen einmütige Vertretung durch leitende Minister der Bundesstaaten im Reichstage auch öffentlich Zeugnis dafür ablegte, daß durch den Tarif keine be rechtigten bundesstaatlich m Interessen verletzt worden sind. Da endlich die Eisenbahnfrage in. die Erörterungen über UnitariSmus hineingezogen zu werden pflegt, so sei daran erinnert, wie wohlwollende Kommentare gerade von süd deutscher Seite die Reise des preußischen EisenbahnministcrS nach Süddeutschland gefunden Hal. Selbst das offizielle Organ der bayerischen ZentrumSpartei bequemte sich zu dem Eingeständnis, daß die Bundesstaaten in der Eisenbahn frage von Preußen nichts zu befürchten brauchten. Wenn der „Bayerische Kurier" bei dieser Gelegenheit auf die Gefahr hinwies, die von dem preußischen Eisenbahnrlesen al« solchem, selbst die besten Ab- sichlcn der preußischen Verwaltung zugegeben, für die übrigen deutschen StaalSbahneu vrobe, so ist das nicht wunderbar. Von den Klagen der „Hamburger Nachrichten" hat bisher FeiriHetsn. Die Zensur des Dichters. Humoreske von Max Hoffmann lBcrlin). Nachdruck vervolen. Fritz hatte ganz unerwartet eine Kaffccvisite gemacht und ließ sich in Gesellschaft des OnkelS und der Tante den Kaffee mit Schlagsahne und den Baumkuchen wohl schmecken. Man merkte es ihm aber an, daß er etwas auf dem Herzen hatte. Nachdem er die zweite Tasse geleert, räusperte er sich nnd sagte endlich: „Ach, Onkel, ich hätte eine große Bitte an dich." Onkel Hermann, ein berühmter Schriftsteller, Ver fasser einer ganzen Reihe vielgclescncr Romane und zug kräftiger Theaterstücke, lachte herzlich, nahm die ägyptische Cigarette aus den Lippen und fragte verwundert: „Aber, mein lieber Junge, was hätte wohl ein hoff nungsvoller Sekundaner wie du, dem wegen vorzüglicher Leistungen die Pforten der Prima weit offen stehen, von mir zu bitten ?" Fritz kraritc sich hinter den Ohren. „So sehr weit offen stehen sic eigentlich nicht", meinte er vorsichtig. „Latein, Griechisch, Mathematik, das ginge ja noch; aber wenn nur unser deutscher Professor nicht wäre!" „Versteht er deine Talente nicht zu würdigen'?" fragte der Onkel belustigt. „Das wohl!" versetzte Fritz selbstbewußt. „Wenn ich ein Gedicht oder einen Monolog deklamiere, das gefällt ihm; aber er ist sonst so schrecklich streng." „Und wo hapert'S da bet dir ?" „O, ich gebe mir ja die größte Mühe, aber meine Auf sätze . . . weißt du . . . iä> weiß immer nicht, was ich schreiben soll." „Na, woran hat er denn hauptsächlich etwas auS- zusetzcn, am Inhalt oder am Stil'?". „Eigentlich an beiden." „Na, und ... da soll ick, dir wohl helfen'?" „Ach ja, lieber Onkel? Du bist doch ein großer Dichter; für dich ist doch so was eine Kleinigkeit." „Aber, lieber Junge, ich kann dir doch nicht deinen Aufsatz schreiben!" „Ich wäre schon froh, wenn du mir nur ein bischen helfen wolltest. Gerade der Aussatz, den wir jetzt be kommen haben, ist so schwer!" „Wie heißt denn das Thema'?" „Geben uns die Charaktere in Goethes „Iphigenie" ein Abbild reinen Griechentums'?" „Na, ihr werdet das doch besprochen haben?!" „Gewiß! Aber wir dürfen auch eigene Gedanken an bringen, und ick, wollte dich nnu eben bitten, mir mit einigen Sätzen nntcr die Arme zu greifen." „Junge, Jnugc, cs ist eigentlich ein Unrecht, was dn da von mir verlangst!" drohte der berühmte Mann. Dann aber sog er nachdenklich an seiner Cigarette. Das Thema interessierte ihn. Sein reger Geist begann bereits sich damit zu beschäftigen und das Für und Wider der eigentümlichen Frage zu erörtern. Nun legte sich auch noch seine Fran für den Neffen ins Zeug. „Thu' ihm doch den Gefallen!" schmeichelte sie. „Meine Schwester und der Schwager möchten doch so gern, daß Fritz glatt vorwärts kommt nnd versetzt wird — und er ist ja auch ein so nettes Jungchen!" Der Dichter erhob sich und ging mehrere Mate im Zimmer auf nud ab. Er war im Geiste schon gar nicht mehr hier, sondern in Kolchis, und sah und hörte Iphi genie, Orestes, Pyladcs und den König. Sie standen greifbar vor ihm, wie sie sein erhabener Kollege hingcstcllt hatte. Waren das Griechen ? Oder Deutsche ? Oder reine, edle Menschen, losgelöst von allen nebensächlichen Eigentümlichkeiten irgend einer Nationalität? Er ließ sich endlich wieder auf den Stuhl nieder. „Ein außerordentlich interessantes Thema!" sagte er nach denklich. ,^>urra!" rief Fritz vergnügt. „Ich sehe, du bist schon dafür gewonnen, Onkelchcn. Also ja? Tn hälfst mir?" „Na ja!" sagte Onkel Hermann halb freundlich, halb widerwillig. „Komm morgen nachmittag um fünf Uhr- Her. Ich werde dann den Aussatz ein wenig mit dir durch gehen." Niemand war fröhlicher als Fritz. Ans Dankbarkeit aß er schnell noch den Rest der vorhandenen Schlagsahne und brach schmunzelnd von dem Baumkuchen einen Zacken nach dem anderen ab, bis cs ihm seine Tante entrüstet verbot. . . . Der berühmte Schriftsteller setzte sich am anderen Morgen wie gewöhnlich an seinen Schreibtisch, nm an seinem neuesten, bereits durch kurze Notizen in den Zei tungen angckündigten Drama zu arbeiten. Er verließ sich nicht, wie manche seiner Kollegen, auf plötzliche Ein gebungen und gehörte zu jenen Helden der Feder, die sich jeden Vormittag unverdrossen an die Arbeit machen, tm festen Vertrauen auf ihren Fleiß und ihren Willen, und denen, wie Zola sagt, die Zukunft gehört. Aber heute war cs nichts mit der stets erforderlichen Stimmung. Wie er sich auch anstrcngte nnd seine Gedanken aus sein Werk zu konzentrieren suchte, immer wieder traten die Gestalten des Gvetbeschen Dramas vor ihn hin, als wenn sic die Enträtselung ihres inneren Wesens von ihm heischten. Seine eigentliche Schaffenskraft, die sich sonst dnrch jahrelange Hebung und Gewohnheit wie auf Kom mando cinstelltc, wollte sich heute nicht melden, und er merkte endlich, daß der heutige Tag als Arbeitstag für ibn verloren war. Aufgeregt ging er im Zimmer hin und her nnd murmelte ärgerlich: „Hat mir der dumme Junge mrt seinem Schülcraufsay doch den ganzen Vormittag ver dorben!" Dann aber setzte er sich wieder hin, nnd, um wenigstens etwas zu tun, begann er das Thema des Herrn Professors sorgfältig ausznarbeiten. Das war doch etwas, das zu dem besonderen Fach seiner Kunst gehörte, nud cs konnte ja nichts schaden, wenn er sich einmal wieder mit eitler wissenschaftlichen Frage in strenger, schulgemäßer Weise beschäftigte! Den Stofs beherrschte er ja gründlich, und an klugen Gedanken und geistreichen Einfällen darüber fehlte es ihm nicht. Die Feder flog über das Papier, oft strich er einen Satz aus und seilte an seinem Stil, und als cs Mittag war, hatte er den Aufsatz beendet. Er las ihn noch einmal durch nnd mußte sich eingestelieu, daß es eine Arbeit geworden war, die sich sehen lassen konnte und jedem Gymnasialprogramm zur Zierde ge reicht hätte. . . . Fritz stellte sich zur festgesetzten Zeit pünktlich mit seinem Diarium ein. „Nun?" fragte der Onkel. „Hast du schon etwas ge schrieben?" Der blonde Nesse errötete verlegen, was ihm ganz reizend stand. „Ich — ich", stotterte er, „habe immer so viel Arbeiten auf, daß ich noch nicht dazu gekommen bin. Und übermorgen müssen wir den Aufsatz schon abgebcn!" Er sah sich dabei neugierig in dem Arbeitszimmer des Onkels nm, das ihm ganz nen war; denn er hatte dieses Allerbeiligste noch nie betreten dürfen. Dieser riesige Schreibtisch mit den Bronzebcschlägen und der mar mornen Gocthebüste darüber, dieser breite Divan mit der dunkclrvten Plüschdccke, die Tiger- und Eisbürcnsclle, die Bücherschränke mit den zahllosen, prachtvoll gebundenen Werken, die merkwürdigen Gemälde an den Wänden, — das alles entzückte und bezauberte ihn. Ja, dachte er, wer in einem solchen Raume arbeiten kann, dem müssen schon gute Gedanken cinsallcn! Wenn ich dagegen bedenke, wie ich in unserem nüchternen Arbeitszimmer immer von Schwester Erna gestört werde, wenn sic mit ihren dummen französischen Nebcrsctznngcn kommt nnd mich hochmütig ärgert, weil ich kein Englisch habe! Onkel Hermann schien seine Gedanken zu erraten. „Na, mein Junge", sagte er freundlich, „wenn dn erst ein tüchtiger Arzt oder Rechtsanwalt oder so etwas bist, dann wirst du dich anch so cinrichtcn, nicht wahr? Oder wahrscheinlich noch besser. Aber nun nimm dir einen «tirhl und setze dich an meine Seite. Jetzt wollen wir die Arbeit einmal ausführlich durchgehen." Und er begann, dem Sekundaner einen kleinen Vor trag zu Haltei«, charakterisierte die Personen des Dramas eingehend, verglich sic mit den von griechischen Dichtern geschaffenen nnd brachte so viel vor, daß dem armen Jungen der Kopf brummte. „Wenn ich das bloß alles behalten könnte!" klagte er. Onkel Hermann blätterte während der Zeit in dem heute hcrgcstclltcn Manuskript, und der Neffe gewahrte mit freudigem Staunen, das« da schon alles aus gearbeitet war. „Gib mir das doch einfach mit, Onkel!" bat er. „Dann werde ich gewiß auch einmal einen guten Aussatz ablicicrn können." „Aber, Jnugc", warnte der Onkel, „wird's auch nicht gemerkt werden? Wird die Arbeit nicht z n gut weiden ?" „O nein, Onkel! Einige meiner Mitschüler laßen fick, ihre Aussätze immer voll ihren Hauslehrern machen und kriegen immer die beste Nummer. Zu Rosenberg hat Professor Hedemann sogar schon gesagt, in ihm stecke etwas von einem Dichter, und seine Arbeiten verrieten den geborenen Schriftsteller." So kam es, daß Onkel Hermann dem Neffen seine Aus arbeitung mitgab und dieser den Aufsatz . . . einfach ab schrieb. — Nach vier Wochen war eine kleine Familicnfestlichkcit bei dem Schwager des Dichters. Es war sehr gemütlich, und der berühmte Mann wnrde von Verwandten nnd Gästen in der gebührenden Weise bewundert und — um Freibillcts zu seinem nächsten Stück gebeten. Nur Fritz hielt sich fern von ihm und sah nur bis weilen mit einer merkwürdigen Gleichgültigkeit zu ihm hinüber. Ter Onkel wunderte sich innerlich darüber. Sollte der arme Junge vielleicht Unglück mit dem Aussatz gehabt uud der Proscisor die Hand des ersahrcnen Schrift stellers gemerkt haben? Ja, ja, dachte er, das komm« davon, wenn man zu freigebig mit den Schützen seines Geistes ist! Aber er mußte Gewißhcit haben und zog schließlich den Neffen in eine Ecke. „Na, wie stcht's mit dem Aussatz, Fritz? Hast du ihn schon zurück?" „Ach ja!" „Dn hast doch keine Unannehmlichkeiten deshalb ge habt?" „Ach ja!" „Du hast ihn doch nicht etwa genau abgcschriebcn?" „Ganz wörtlich!" „Junge? Nu,« ist natürlich der Professor empört über dich, «veil er gemerkt hat, daß dl« gemogelt hast?" „Keine Bohne!" „Dann sei doch froh? Hast endlich einmal eine Eins bekommen, nicht wahr?" „Im Gegenteil!" erklärte Fritz wütend. „Eine Fünf! Und außerdem noch eine lange Brühe lsintcrhcr. Ist ganz ungenügend!" Onkel Hermann war starr. Das konnte nicht mit rechten Dingen zugchen. „Zeig' mir doch einmal das Heft!" forderte er. Fritz tat es ganz heimlich, bat den Onkel schnippisch, nur niemanden etwas davon mcpken zu lassen, und dieser sah sich seine schöne Arbeit verstohlen in einem Neben zimmer an. Er traute lanm seinen Augen. Der Aufsatz wimmelte von roten Tintenstrichei« uud Anmerkungen des Herrn Professors, unten aber stand zu lesen: „Wieder eine ganz unreife Arbeit voll stilistischer Schnitzer, verschrobener "lunchten nnd unlogischer Schluffe. Die Gedanken der ein .clncn Personen sind ohne Verständnis in willkürlicher Wcffe gedeutet. Geiamtnrtcil: ganz ungenügend?" Dein großen Mann kam es vor, als wenn er von den« gestrengen Herrn Proscnvr am Ohr gezogen würde. Als er dem Neffen das Heft mit einigen tröstenden Worten wieder .uruckgab, versuchte er zu lächeln; aber er tonnte den ganzen Abend über ein peinliches Gefühl „ich, loswcrden^gegen diesen Gymnanalproscffor waren ,a dir blutigsten ^bcaterkritiler die reinen Waisenknaben. . .,
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