Goethe und Freiberg Vergegenwärtigen wir uns den Standpunkt, den Goethe auf seinem Lebenswege erreicht hatte, als er 1776 mit Freiberg in Beziehung trat. Der junge Dichter hatte den „Götz“ und „Werther“ geschaffen. Neben „Prometheus“ und „Mahomet“ drängten „Egmont“ und „Faust“ gleichzeitig nach Gestaltung. Als Gegengewicht gegen diese gewaltige Phantasietätigkeit hatte er die Gelegenheit ergriffen, in Weimar Arbeit in der Staatsverwal tung zu leisten. Seine Dichtungen hatte er mit eignem Herzblut genährt. Es ist Goethe selbst, der im „Werther“ sagt: „ ... wie oft hab ich mich mit Fittichen eines Kranichs, der über mich hinflog, zu den Ufern des ungemes senen Meeres gesehnt, aus dem schäumenden Becher des Unendlichen jene schwellende Lebenswonne zu trinken und nur einen Augenblick: in der eingeschränkten Kraft meines Busens einen Tropfen der Seligkeit des Wesens zu fühlen, das alles in sich und durch sich heroorbringt“. — Und Faust klagt: „Wo faß’ ich dich, unendliche Natur?“ Sein höchstes Ziel ist: „Daß ich erkenne, was die Welt Im Innersten zusammenhält.“ Als es ihm mißlingt, im Aufschwung aller Seelenkräfte dieses Ziel zu er stürmen, verzweifelt Faust. — Soweit war der junge Goethe gekommen. Der alte Goethe zeigt uns im zweiten Teil des „Faust“ den Weg aus dieser Verzweiflung: In die Sonne zu sehen, ist das menschliche Auge nicht ge eignet, aber die Wirkung der Sonne, den Regenbogen, kann es betrachten; und mit diesem „farbigen Abglanz“ des ewigen Lichts muß der Mensch sich begnügen. Es ist die Wendung vom Weltgefühl zur Weltbetrachtung. Zum alten Ziel geht Faust einen neuen Weg. An der Betrachtung der Lebensdichtung Goethes ermessen wir die Be deutung der Naturwissenschaft für unseren Dichter. Und daraus ergibt sich die hohe Bedeutung Freibergs für ihn. In demselben Jahre, 1775, in dem Goethe in die Weimarische Regierung eintrat, kam Werner nach Freiberg. Hier entwickelte er die Mineralogie zur Wissenschaft und schuf als erster eine Geologie. Auch Goethe wurde vom Zauber dieser jungen Wissenschaften gepackt und blieb bis zu seinem Tode, 56 Jahre hindurch, in geistiger Verbindung mit ihrer Pflanzstätte, der Stadt Freiberg. In seiner Arbeit „Über den Granit“ sagt er: „Und so wird jeder, der den Reiz kennt, den natürliche Geheimnisse für den Menschen haben, sich nicht wundern, daß ich ... mich mit einer recht leidenschaftlichen Neigung in diesen (Kreis von Kenntnissen) gewandt habe; denn man wird mir gern zugeben, daß alle natürlichen Dinge in einem genauen Zusammenhang stehen, und daß der forschende Geist sich nicht gerne von etwas Erreich barem ausschließen läßt.“ In derselben Abhandlung spricht er es aus, wie wohltätig die Naturbetrachtung auf ihn wirkt: „Ja, man gönne mir, der ich durch die Abwechslungen der menschlichen Gesinnungen, durch die schnei-